Die Coronakrise wird gemeinhin als die größte wirtschaftliche Katastrophe seit dem zweiten Weltkrieg betrachtet. Anders als damals, als der Babyboom noch bevorstand, trifft sie auf eine alternde Gesellschaft, die objektiv betrachtet nicht nur körperlich aus Risikopatienten besteht, sondern auch bald aus Gründen der Demographie aus dem Arbeitsleben ausscheidet. Hinzu kommt die Digitalisierung, die ebenfalls das bekannte Arbeitsleben aufzuheben scheint, aber auch als Chance für die Lösung der Anforderungen gilt. Wie bringt man also Coronakrise, Demographie und Digitalisierung zusammen?
Gastautor Simon Mamerow hat dazu eine klare Meinung.
Die Coronakrise – der schlimmste denkbare Fall?
Die Coronakrise scheint in vielerlei Hinsicht ohne direktes Beispiel. Die Weltgemeinschaft hat beschlossen, das erste Mal nicht hinnehmen zu wollen, dass man gegen eine globale Pandemie nichts unternehmen kann. Während in früheren Jahrhunderten solche Effekte als ein Wink der Götter gesehen wurden, scheint es diesmal beherrschbar zu sein.
Diese Entscheidung bringt jedoch tiefgreifende Nebeneffekte mit sich. Eine „Verschulung“ wie sie sonst erfolgt, kommt nicht in Frage. Soziales Verhalten, Schulterklopfen, eine grüßende Umarmung – all diese Selbstverständlichkeiten werden zur Gefahrenquelle. Das führt zu einer großen Unsicherheit, auch am Arbeitsplatz.
Die Heimarbeit als Weisheit letzter Schluss?
Einige Prozesse scheinen sich ohne große Probleme verändern zu lassen, aber dies ist nur der erste Anschein. Nicht umsonst sehen wir den Arbeitsschutz als ein hohes Gut. Aber wer hat schon einen Telearbeitsplatz zuhause, der wirklich geeignet ist, um acht Stunden Schreibtischarbeit ohne Gesundheitsbedenken zu ermöglichen?
Meetings lassen sich auch digital durchführen, aber die Terminpläne sind durch die hohe Verfügbarkeit derartig eng getaktet, dass ein Durchatmen kaum noch möglich ist. Und noch eine zusätzliche Konzepterstellung am Abend wird auch nicht als Überstunde oder Mehrarbeit wahrgenommen?
Das „new normal“ ist eben keine Normalität
Der interne Betriebsfrieden steht ebenfalls auf der Kippe, denn diese Vereinfachungen für manche Berufsfelder lassen sich im produzierenden Gewerbe nicht einfach einhalten. Darf man moralisch unterschiedliche Berufsgruppen so ungleich behandeln?
Für die Personalarbeit war es notwendig, nun weniger Kontrolle zuzulassen. Es zeigte sich in vielen Fällen die Möglichkeit von Remotearbeit – für den Moment. Diese so genannte neue Normalität ist jedoch keine Normalität. Jeder Entwicklungspsychologe weiß, was mangelnde Berührungen und ständige Angst vor Kontakt auf Dauer bewirken. Es ist Fakt, dass ein Gruppenspirit, wie er in vielen Unternehmen zur Kultur gehört, über das Netz nicht aufkommen kann.
Arbeitgeber werden virtuell deutlich beliebiger
Für Arbeitgeber ist dies ein Problem, denn sie werden beliebiger. Für Arbeitnehmer ist es ebenfalls ein Problem, denn sie sind oft allein beim Onboarding. Jüngere Kollegen, die Einarbeitung benötigen, ältere Kollegen, die Unterstützung gebrauchen könnten. All diese Dinge sind ungleich schwieriger.
Man stelle sich zum Beispiel vor, ein neuer Kollege wird eingearbeitet und versteht einen für das Unternehmen wichtigen Prozess noch nicht. Eigentlich kann er dies auch gar nicht, denn so genau ist er in keinem Handbuch beschrieben, „man weiß einfach, wie es geht“.
Virtuelle Einarbeitung ist nicht dasselbe
Wird der Kollege nun seine Teamleiterin anrufen, einen Call mit ihr aufsetzen, vielleicht ein Zoom-Meeting mit der IT? Um dies zu tun, braucht er sehr genau Fragen und eine Beschreibung seines Problems. Normalerweise geht er in das Büro gegenüber und klärt die Frage am Rechner der Teamleiterin in fünf Minuten.
Der berechtigte Einwand der IT kann nun lauten: Kein Thema, wir greifen per Teamviewer als Fernwartung zu und klären dies schnell. Aber erstens, ist nicht jedes Problem so genau zu umschreiben und zweitens wird dabei die Hemmschwelle nicht bedacht. Würde der junge Kollege normalerweise vielleicht dreimal am Tag ins Büro kommen, wäre dies ein Zeichen von Interesse und ließe sich zwischenschieben. Nun ist es eine offizielle Anfrage im Kalender, für die sich die Betroffenen im Allgemeinen die vorgegebenen mindestens 15 Minuten plusminus einem zeitlichen Puffer blocken.
Dies ist nur ein Beispiel für Prozesse, die Schwierigkeiten bereiten.
Demographie verschlimmert die Situation
Neben der Hemmschwelle darf auch nicht vergessen werden, dass ein großer Teil der arbeitenden Bevölkerung nicht zu den sogenannten Digital Natives gehört. Sie sehen es nicht als Vorteil, alle zwei Wochen ein neues Programm erlernen zu müssen. Sie haben Ihre Bedenken, wenn eine IT-Abteilung aus einer anderen Stadt oder gar aus einem Shared Service Center am anderen Ende der Welt auf Ihren Desktop zugreifen möchte, weil zum Beispiel ihr digitaler Kalender nicht funktioniert. Für diese Personen ist eine technische Fehlfunktion häufig ein psychischer Stressfaktor und erheblich produktivitätsschädigend.
Die junge Generation, welche durch Einarbeitung Wissen übernehmen müsste, kann dies nicht, da die Struktur derzeit nicht funktioniert wie sonst. Der Erziehungswissenschaftler und Anthropologe Christoph Wulf macht in seiner Arbeit auf das sogenannte schweigende Wissen aufmerksam. Dieses Konzept geht davon aus, dass nur ein Teil formell als Wissen formuliert und somit gespeichert werden kann. Der andere Teil ist diffus vorhanden.
Ein Beispiel für solch diffuses Wissen wäre: Man fügt anderen Menschen keine Schmerzen zu. Oder aber man hilft hilfsbedürftigen Menschen zum Beispiel über die Straße. Zu diesem Wissen gibt es kein Gesetz. Wir Menschen erlernen es, vereinfacht gesagt durch Nachahmung. Wie aber Nachahmen, ohne den direkten Kontakt zu anderen?
Digitalisierung soll es nun richten
Nur Wenige haben eine Ahnung ,was genau diese Digitalisierung eigentlich sein soll. Allgemeine Phrasen wie „Es wird alles digitalisiert, was digitalisiert werden kann“ oder „So etwas wie die Digitalisierung gab es noch nie“, sind wenig hilfreich. Denn sie sagen letztlich nichts aus.
Um beurteilen zu können, ob die Digitalisierung oder gar BigData (hier wissen noch viel weniger, was dies eigentlich ist) tatsächlich hilfreich sind, muss zuerst eine grundlegende Frage beantwortet werden. Und zwar von jedem Einzelnen: Ist der Mitarbeiter (m/w/d), bin ich, ist der Mensch ein Hilfsmittel des Fortschritts und somit auch der Technik? So wie es in manch riesigen Lagerhallen zu sein scheint. Oder aber ist die Technik ein weiteres, wenn auch sehr ausgereiftes und komplexes Werkzeug des Menschen zum Aufbau seiner Welt?
Diese Frage ist für den Einzelnen sehr wichtig. Denn wer sich zum reinen Werkzeug macht, wird über kurz oder lang ersetzt werden. Wer die Chancen hingegen nutzt, die ihm sinnvoll erscheinen, kann dadurch wachsen. Dies bedeutet bei Weitem nicht, jeden neuen technischen Hype zu kennen oder gar zu beherrschen. Es heißt vielmehr aktiv aus einem Buffet auszuwählen, was einem selbst nutzt.
Die Trendtriade
Jede einzelne der genannten Anforderungen wäre für sich genommen schon ausreichend, um einen gewaltigen Wandel zu erzeugen. Sie kommen aber alle in diesen Monaten zusammen. Und nehmen die einzelnen Menschen, die Unternehmen, ja die ganze Gesellschaft in die Zange.
Wenn man es jedoch als Chance begreift, so kann die Digitalisierung helfen, die Coronakrise zu überstehen. Auch wenn ich den Begriff des neuen Normal für völlig verfehlt halte.
Wer es als Chance sieht, dem kann die #Digitalisierung helfen, die #Coronakrise zu überstehen. Aber den Begriff des #NewNormal halte ich für völlig daneben, sagt Simon Mamerow. Share on XFreiräume nutzen zum Umdenken
Die Demographie kann beherrscht werden, indem die neuen zeitlichen Freiräume für ein Umdenken genutzt werden können. Sofern die Antwort auf die Frage gefunden werden kann, wer ich selbst bin oder wer mein Unternehmen eigentlich ist und was es will. Die sonstigen Anforderungen sind etwas ausgedünnt, man kann diese Freiräume zum Beispiel auch für Fortbildung nutzen.
Es ist möglich zu warten, wie die Dinge ausgehen und dann zu agieren oder zu beobachten und entsprechend zu handeln. Große Risiken bieten jedoch immer auch große Chancen. Ältere Menschen könnten beispielsweise deutlich länger als Mentoren zur Verfügung stehen. Sofern sie nicht zehn Stunden präsent sein müssen.
Reisen können auf das notwendige Maß minimiert werden. Und bei aller Digitalisierung und der Erkenntnis, dass Wissen der neue Rohstoff ist, darf eines nicht vergessen werden: Die Produkte, die wir am Ende in der Hand halten und die unseren Körper berühren oder ihm zugeführt werden, sind immer noch real. Sie können nicht ohne Weiteres digitalisiert werden.
Wenn ich an ein gutes Essen und ein passendes Glas Wein denke, bin ich froh darum.