Titelbild: Zeiterfassung nach dem EuGH-Urteil

Zeiterfassung und flexibles Arbeiten – wie passt das zusammen?

Das Thema Zeiterfassung drängt Unternehmen spätestens seit dem EuGH-Urteil im letzten Jahr. Wie aber kann einerseits eine konsequente und vollständige Zeitaufschreibung erfolgen und gleichzeitig Arbeitszeit flexibilisiert werden? Gastautor Jonathan Martin gibt Einblicke in seine Erfahrungswelt mit Blick auf die HR-Praxis.

Zeiterfassung als Regelung im Arbeitsvertrag ist Standard

Erst neulich habe ich mit dem Geschäftsführer eines mittelständischen IT-Systemhauses Erfahrungswerte zur Arbeitszeiterfassung ausgetauscht. Das Unternehmen mit über 250 Mitarbeitern setzt bislang auf Vertrauensarbeitszeit. Nicht etwa – wie oft unterstellt wird – weil der Arbeitgeber seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dazu nötigen möchte, über die vertragliche vereinbarte Arbeitszeit hinaus unbezahlte Mehrarbeit zu leisten.

Den Unternehmer treibt schlichtweg die Sorge um, dass mit der Erfassung von Arbeitszeiten dem Unternehmen die in seinem Geschäftsmodell notwendige Flexibilität geraubt wird. Auch ist er der Meinung, dass für ihn Arbeitsergebnisse im Vordergrund stehen. Die hierfür benötigte Arbeitszeit ist ihm somit eher zweitrangig. Auf meine Nachfrage, welche Vereinbarung er in den Arbeitsverträgen dazu getroffen hat, stellt sich heraus, dass selbstverständlich eine wöchentliche Arbeitszeit vereinbart wurde. In diesem Fall beträgt diese 40 Stunden für Vollzeitkräfte.

Damit ist der IT-Unternehmer kein Einzelfall. Vielmehr nutzt er eine Vereinbarung, die in Deutschland die Regel darstellt. Arbeitnehmer (m/w/d) schulden dem Arbeitgeber also eine Arbeitsleistung, die in Form von Stunden und nicht von Arbeitsergebnissen definiert ist. Zumindest nicht ausschließlich.

Steuerung von Auslastung und Kapazitäten

Ist es dann nicht im Interesse des Unternehmens, diesen entscheidenden Faktor auch im Hinblick auf Auslastung und Kapazitäten im Blick zu haben? Und ist dabei nicht nur die wöchentliche Anzahl an Soll-Stunden eine wichtige Kenngröße, sondern auch, an wie vielen Arbeitstagen diese zu erbringen sind?

Hieraus ergeben sich wiederum weitere Größen, wie beispielsweise der gesetzliche Urlaubsanspruch. Management by Objectives ist ein praxiserprobtes Führungsprinzip. Es findet in Bonusregelungen und variablen Gehaltsbestandteilen seinen Niederschlag. Den Faktor „geschuldete Arbeitszeit“ im juristischen Sinne kann es allerdings nicht ersetzen.

Verunsicherung durch das Urteil des EuGH zur Zeiterfassung

Seit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs zum Thema Arbeitszeiterfassung im Juni 2019, sind Kontroversen wie diese an der Tagesordnung. Auch wenn nach wie vor die Umsetzung des Urteils in nationales Recht durch den deutschen Gesetzgeber fehlt: Das Urteil hat nicht nur viele Personalentscheider und Unternehmer verunsichert. Auch hat es im direkten Nachgang für aus meiner Sicht reflexartige und vor allem undifferenzierte Reaktionen gesorgt.

Während Arbeitnehmervertreter das Urteil uneingeschränkt bejubelten, war von Arbeitgebervertretern sehr rasch eine strikte Ablehnung wahrnehmbar. Insbesondere auch aus der Start-up-Szene und der Tech-Branche. Und damit kommen wir meines Erachtens zum eigentlichen Kern der Problematik: Die teils starren Regelungen des deutschen Arbeitszeitgesetzes. Dieses sieht nämlich Stand heute strikte Regelungen für Pausen, Höchstarbeitszeiten pro Tag und Woche sowie Ruhezeiten vor.

Das Hauptproblem beim Thema #Arbeitszeiterfassung sind die sehr starren Regelungen im deutschen #Arbeitszeitgesetz Share on X

Das Arbeitszeitgesetz – zwei Seiten der Medaille

Ich möchte an dieser Stelle auch überhaupt nicht pauschal bewerten, was zunächst die Deutsche Arbeitszeitordnung (AZO) vor knapp 100 Jahren und dann ab 1994 der Nachfolger, das ArbZG, an Rahmenbedingungen geschaffen hat. Aus meiner Erfahrung heraus gibt es durchaus Branchen, in diesen diese Regelungen richtig und wichtig sind. Zum Beispiel, um den Arbeitsschutz zu gewährleisten. Oder um Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor einer unfairen Behandlung zu schützen. Darüber hinaus möglicherweise, um einer im unteren Bereich angesiedelten Entlohnung durch zeitliche Schutzräume Rechnung zu tragen.

Es gibt aber auch die andere Seite: Unternehmen und Geschäftsmodelle, für die Flexibilität elementar ist. Mittlerweile sind ganze Branchen, insbesondere im Bereich hochqualifizierter Wissensarbeit, entstanden. Währenddessen hat sich der rechtliche Rahmen kaum weiterentwickelt.

Hier ist es an der Tagesordnung, dass der Mitarbeiter häufig mehr als zehn Stunden Arbeitszeit pro Tag leistet, um seinem Kunden die dringend benötigte Lösung bereitzustellen. Und ich bin davon überzeugt, dass in der ganz überwiegenden Anzahl der Fälle, diese Mehrarbeit ebenso fair und im Sinne des Arbeitnehmers ausgeglichen wird. Beispielsweise indem dieser freitags mit seiner Familie bereits am Mittag ins Wochenende startet. Diese in vielen Bereichen gelebte Flexibilität, wird durch die starren Regelungen unseres Arbeitszeitgesetzes eingeschränkt und lässt die Akteure sich in einer Grauzone bewegen.

Toolunterstützung ist bei flexiblen Arbeitszeitmodellen essentiell

Dabei ist gerade in flexiblen Arbeitszeitmodellen die toolbasierte Unterstützung essentiell. Dann wenn sich die Anwesenheitszeiten eines jeden Mitarbeiters im Team täglich von denen des Vortags unterscheidet. Wie kann ich sonst noch sinnvoll interne Abstimmungen oder Meetings planen? In welchen Zeitfenstern kann ich eine Mindesterreichbarkeit eines Ansprechpartners für die eigenen Kunden gewährleisten? Wer hat bei „atmenden Arbeitszeiten“ überhaupt noch einen Überblick über Plus- oder Minusstunden? Meiner Erfahrung nach weder der Mitarbeiter noch der Vorgesetzte.

So auch in dem eingangs geschilderten Falls des IT-Systemhauses.

Die Corona-Pandemie verstärkt bestehende Herausforderungen

Mit dem im Zuge der Corona-Pandemie flächendeckenden Rollout von Home-Office-Regelungen kam noch eine weitere Herausforderung hinzu. Es war auf einmal keine Informationsbasis mehr vorhanden, wer im Moment an welchem Ort, ob im Büro, im Home-Office oder vereinzelt im Außendienst, anwesend und für die Kolleginnen und Kollegen verfügbar ist.

Digitale Lösungen zur Zeiterfassung schaffen hier nicht nur die erforderliche Transparenz. Sie sind aus meiner Sicht die Grundlage, um erfolgreich flexible Arbeitsmodelle umzusetzen.

Digitale Lösungen sind die Grundlage dafür, dass #Arbeitgeber überhaupt flexible #Arbeitszeit Modelle umsetzen können. Share on X

Doch längst nicht alle Unternehmen sehen diesen Zusammenhang: Einige Organisationen rudern wieder zurück und schränken die vormals flexiblen Regelungen gar massiv ein.

Flexible Arbeitszeit als Wettbewerbsfaktor im Employer Branding

Das hat nicht nur arbeitsrechtliche Konsequenzen im Hinblick auf die vertragliche Gestaltung. Zeitlich flexibles Arbeiten ist in vielen Branchen im Hinblick auf Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu einem echten Wettbewerbsfaktor im Employer Branding geworden. Auf dieser Basis entscheiden sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für oder gegen ein Unternehmen. Im Zweifel entscheiden sie sich für ein Unternehmen, bei dem der organisatorische Rahmen für flexibles Arbeiten optimal gegeben ist.

Studie StepStone zum Thema Flexible Arbeitszeiten
Quelle: stepstone.de/wissen/arbeitgeberattraktivitaet

Der Geschäftsführer des IT-Systemhauses hat sich wenige Tage nach unserem Gespräch wieder gemeldet. Er möchte sich mit der Implementierung einer Lösung zur Zeiterfassung beschäftigen. Und dies noch bevor der deutsche Gesetzgeber das EuGH-Urteil in nationales Recht umsetzt. Denn unter Zeitdruck geht es sehr wahrscheinlich nur noch um die Erfüllung von Vorgaben und nicht mehr um die Frage, wie Zeiterfassung die Flexibilisierung des Arbeitens und die längst überfällige Digitalisierung des Personalwesens positiv unterstützen kann. Letzteres sollte aber für sämtliche Unternehmen und Organisationen im Vordergrund stehen.

Bleibt nur noch eine Frage: Ringt sich der Gesetzgeber zu einer differenzierten Flexibilisierung des bestehenden Rechtsrahmens durch? Ich bin der Meinung, die Zeit ist reif dafür.

Jonathan Martin

Portrait: Jonathan Martin von der ZMI GmbH schreibt über Arbeitszeiterfassung

 

Jonathan Martin ist Geschäftsführender Gesellschafter der ZMI GmbH, einem der führenden Anbieter für Zeiterfassung, HR-Prozesse, Personalplanung und Zutrittskontrolle.

Er berät langjährig Unternehmen und Organisationen aller Industrien und Größen zum Management von Arbeitszeiten und zur Digitalisierung von Geschäftsprozessen.

>> Website der ZMI GmbH

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