Lebenslauf, Anschreiben, Zeugnisse - was sind sie noch wert?

Was sind Bewerbungsanschreiben, Lebenslauf und Zeugnisse im KI-Zeitalter noch wert?

Zu den noch immer häufig angeforderten „vollständigen Bewerbungsunterlagen“ zählen in Deutschland unter anderem Bewerbungsanschreiben, Lebenslauf und Zeugnisse. Was aber sind diese heute noch wert in Punkto Personalauswahl, insbesondere mit Blick auf KI und ChatGPT? Ein sehr kritischer Blick auf den Recruitingprozess.

Vollständige Bewerbungsunterlagen erbeten

In den Recruitingprozessen der meisten Unternehmen werden auch heute noch „vollständige Bewerbungsunterlagen“ erbeten. Darunter verstehen HR-Verantwortliche in der Regel

  • Bewerbungsanschreiben / Motivationsanschreiben
  • Lebenslauf
  • Zeugnisse bzw. Arbeitszeugnisse

Ziel dieser Vollständigkeit soll in der Regel die Entscheidungsfähigkeit der Personalverantwortlichen (in HR wie in den Fachbereichen) sein. Ein kurzer Blick in die Praxis zeigt jedoch: Selbst bei vollständig eingereichten Unterlagen gibt es noch immer Unternehmen, die gar keine Entscheidung treffen und Bewerbende sogar ghosten. Viele benötigen weiterhin sehr lange – und verlieren in der Regel damit einen Teil der Menschen, die eigentlich gerne in dieser Organisation arbeiten würden.

Aber kommen wir zurück zur Frage: Sind diese vollständigen Bewerbungsunterlagen mit Anschreiben, Lebenslauf und Zeugnissen eigentlich noch etwas wert?

Das Bewerbungsanschreiben – eine aussterbende Spezies?

Automatisierung des Anschreibens per ChatGPT

Insbesondere das Anschreiben zur Bewerbung wurde in den letzten Jahren immer wieder totgesagt. Teilweise gar verteufelt. Viele in der HR-Community argumentieren, dass gerade das Bewerbungsanschreiben komplett unnütz sei und eher bewirke, dass eigentlich Interessierte dann doch den Aufwand scheuen. Stichwort hier: Senkung der Bewerbungshürden.

Das trifft im Zeitalter von propagierten „One-Click-Bewerbungen“ sicherlich auf eine Reihe von Jobsuchenden zu. Aber kann es nicht sein, dass ausgerechnet der Erfolg von ChatGPT dafür sorgt, dass der Aufwand für die Erstellung eines solchen Anschreibens gen null sinkt?

Interessanterweise flatterte mir die Tage eine Pressemeldung der Stellenbörse JobNinja in den Maileingang (wie übrigens mittlerweile 150 andere vergleichbare E-Mails täglich). Dort wurde angekündigt, dass ChatGPT jetzt fester Bestandteil des Bewerbungsprozesses auf dem Jobportal sei und Anschreiben je nach Stelle automatisiert und individuell passend erstellt würden.

Am Aufwand für die Erstellung eines Bewerbungsanschreibens kann es also nicht mehr liegen.

Vom Sinn und Zweck eines Bewerbungsanschreibens

Allerdings müssen wir zurecht die Frage stellen, warum genau wir als HR diese Anschreiben, das bezeichnenderweise auch gerne Motivationsschreiben genannt wird, immer noch als relevant erachten.

Können wir wirklich – also eher im Sinne von New Work Urvater Fritjof Bergmann „wirklich wirklich“ – noch etwas aus diesem Bewerbungsanschreiben herauslesen?

Selbstverständlich können in einem solchen Anschreiben wissenswerte Informationen zur Bewerbung eingebracht werden, die keinen Platz im Lebenslauf haben. Aber wird das Anschreiben tatsächlich so genutzt?

Das Argument vieler Fachbereiche „Wir wollen wissen, warum genau sich Jobsuchende bei uns bewerben“ hat aus meiner Sicht allerdings massiv an Bedeutung verloren. Wer ChatGPT nur ein einziges Mal ein solches Schreiben in Sekundenschnelle hat erstellen lassen, der weiß, wie wunderbar schmeichelnd der Chatbot Argumente für die Bewerbung formuliert – ab Version 4.0 sogar eng angelehnt an die Arbeitgebermarke des Unternehmens.

Unabhängig davon: Ist es jetzt gut oder schlecht für die Bewerbung, wenn jemand letztlich nur wegen der guten Bezahlung und Arbeitsplatzsicherheit ins Unternehmen eintreten will? Muss er oder sie sich stattdessen verstellen und etwas von kultureller Passung, Purpose oder sonstigen weichen Faktoren vorweisen?

Mein Rat:

Die Pflicht zum Bewerbungsanschreiben streichen. Und wer dennoch etwas über den Lebenslauf und die Zeugnisse hinaus schreiben möchte, kann das ja gerne freiwillig tun. Aber bitte nicht mehr daran glauben, aus einem solchen Anschreiben etwas über die tatsächlichen Hintergründe einer Bewerbung erfahren zu wollen oder etwas hineinzuinterpretieren.

Was ist der Lebenslauf im Rahmen der Bewerbung noch wert?

Wo vermutlich beim Verzicht auf ein Bewerbungsanschreiben vergleichsweise viele HR- beziehungsweise Personalverantwortliche sofort mitgehen würden, sieht es bei der Diskussion rund um die Bedeutung von Lebensläufen anders aus.

„Worauf soll ich denn sonst meine erste Personalauswahlentscheidung stützen?“ – Sicherlich gibt ein gut strukturierter Lebenslauf einen gewissen Einblick in die bisherigen beruflichen Stationen bei verschiedenen Arbeitgebern. Aber wie stark kann HR bei der Entscheidung für oder gegen Bewerbende tatsächlich auf den Lebenslauf setzen?

Unabhängig davon, ob ein Lebenslauf automatisiert oder manuell befüllt– und egal, ob dafür eine der vielen Standard-Vorlagen aus dem Internet verwendet oder eine eigene erstellt wurde – häufig unterliegen Personalverantwortliche gewissen Mythen in Punkto Lebenslauf.

So hatte ich bereits 2018 sehr ausführlich über häufige Fehlinterpretationen von Angaben in Lebensläufen geschrieben. Unter anderem wird eine lange Berufserfahrung häufig gleichgesetzt mit einer hohen beruflichen Leistungsfähigkeit – vor allem im Vergleich mit Menschen, die weniger lange in einem Berufsfeld tätig sind. Gleiches gilt übrigens auch für das Thema Führungserfahrung.

Es gibt jedoch wissenschaftlich betrachtet nur einen sehr geringen Zusammenhang zwischen Dauer einer Tätigkeit und deren Erfolg. Er ist nur dann vorhanden, wenn tatsächlich auch eine Verbesserung der eigenen Leistungen erfolgt durch Lernen, Reflexion und Feedback bzw. Erfahrungen.

Ist der Lebenslauf damit sofort wertlos?

Den Lebenslauf sinnvoll zur Prüfung einer Bewerbung einsetzen

Ganz so weit würde ich pauschal nicht gehen. Allerdings gibt es durchaus einige weitere kritisch zu betrachtende Punkte mit Blick auf die Tauglichkeit einer Einstellungsentscheidung auf Basis eines Lebenslaufs.

Zum einen sehen wir nur historische Daten. Diese beziehen sich auf die Tätigkeit dieser Person in einem (anderen) Unternehmen, mit entsprechend (anderen) Rahmenbedingungen. Ob eine Person in der Zukunft (!) im eigenen Unternehmen unter neuen Rahmenbedingungen die gleichen oder gar bessere Leistungen erbringen wird, lässt sich dem Lebenslauf nicht entnehmen. Das Potential, dass dies der Fall ist, lässt sich allenfalls an verschiedenen anderen Kriterien tendenziell erahnen. Wir sprechen also erstmal über Indizien. Noch nicht über „Beweise“.

Zum anderen unterliegen Menschen gewissen Wahrnehmungsverzerrungen bei der Beurteilung von Unterlagen (Stichwort Biases). Das ist nichts Neues, allerdings möchte ich das Thema hier ansprechen, wenn es um die Tauglichkeit eines Lebenslaufes für Personalentscheidungen geht. Sind wir wirklich sicher, dass ein gleicher Studienort, vielleicht sogar bei der gleichen Professorin unsere Meinung über die sich bewerbende Person nicht doch beeinflusst? Oder ähnliche Studienorte im Auslandssemester?

Zugegeben, die Gefahr von unconscious biases lauert überall im Recruiting-Prozess. Damit alleine lässt sich einen Lebenslauf sicher nicht als untaugliche Entscheidungsgrundlage einstufen.

Von Lügen und „Schönfärbungen“ im Lebenslauf

Aufgeschreckt hat mich kürzlich eine Pressemitteilung zu einer Befragung, bei der herauskam, dass angeblich fast 60% der Deutschen bereits im Rahmen ihres Lebenslaufs gelogen haben. Wir haben in unserem HR-Newsticker darüber berichtet. Und ausgerechnet am häufigsten (78% derjenigen, die eine Lüge zugegeben haben) wurde über vorhanden Fähigkeiten und Kompetenzen gelogen.

Konkret könnten das Übertreibungen sein, was die Ausprägung von Skills angeht. Oder auch das „Aufbauschen“ von Minimalkenntnissen. Bewerbende optimieren heute selbstverständlich ihre Unterlagen auch mit Blick auf Stellenaufschreibungen.

Und mit dem zunehmenden Einsatz von Software und Matching-Algorithmen im Recruiting, macht es natürlich in dieser Hinsicht absolut Sinn, gesuchte Fähigkeiten auch in den eigenen Lebenslauf aufzunehmen – und sei es erstmal nur, um bei einem Keyword-Matching in die nächste Runde zu kommen. Cleveres Algorithmus-Hacking sozusagen.

Mögen Sie jetzt einwenden, dass das ja „irgendwie Betrug“ sei, haben Sie zwar recht. Aber die durch mein Posting ausgelösten Diskussionen via Social Media haben auch gezeigt, dass es nicht immer ein Unrechtsbewusstsein dafür gibt. So hätten doch die Arbeitgeber „mit dem Lügen angefangen“, wenn sie im Rahmen ihres Employer Brandings die heile Welt versprechen – diese aber am Ende dann ganz anders aussieht.

Aber wird dadurch der Lebenslauf komplett disqualifiziert, nur weil manche darin übertreiben oder lügen?

Die Lücke im Lebenslauf macht neugierig

Spannend ist ja nicht nur, was im Lebenslauf geschrieben wird. Viel spannender ist für viele Personalverantwortliche das, was nicht mit aufgenommen wurde. Stichwort: Die berühmte Lücke im Lebenslauf.

Auch dazu habe ich mich bereits ausführlich im Rahmen eines Artikels auseinandergesetzt. Kurzum: Manch eine ungeplante Lücke war für die Kompetenz und die Persönlichkeit eines Menschen sogar deutlich hilfreicher als ein vermeintlich „straighter“ Lebenslauf.

Vom Wert eines Arbeitszeugnisses

Möglicherweise ist ja der Lebenslauf in Verbindung mit einem qualitativ aussagekräftigen Arbeitszeugnis des Rätsels Lösung?

Das wäre eigentlich fein. Allerdings besteht bei Arbeitszeugnissen das klassische Dilemma, dass diese zwar der Wahrheitspflicht unterliegen, die Formulierung allerdings „wohlwollend“ sein muss. In der Regel führt das v.a. bei höherqualifizierten Jobs dazu, dass bei einer verklausulierten Note 2 oder gar Note 3 schon ein arbeitsrechtlicher Prozess droht.

Vermeintlich clevere HR-Abteilungen verabschieden Mitarbeitende deshalb meist mit einem extrem positiven Arbeitszeugnis. Und das insbesondere, um ein Entgegenkommen im Rahmen eines (in der Regel nicht ganz freiwilligen) Aufhebungsvertrags zu zeigen. Oder HR-Verantwortliche wollen schlicht keinen Ärger im Nachgang haben und formulieren dann mehr als nur wohlwollend.

Ist damit auch das Arbeitszeugnis wertlos? Auf welcher Basis sollten Personalverantwortliche dann ihre Auswahlentscheidung treffen? Soll das am Ende gar ein Plädoyer für die gute alte Intuition sein?

Sicher nicht. Zum Thema „Intuition bei Personalauswahlentscheidungen wissenschaftlich geprüft“ gibt es übrigens einen sehr lesenswerten Beitrag von Marvin Neumann auf unserem HR-Portal.

Mein Fazit

Je stärker der Einsatz von KI-Technologie das Recruiting erfasst, umso stärker wird auch dessen Einsatz durch die Bewerbenden zunehmen. Vom automatisch optimierten Lebenslauf passend zur Stelle, über ein super-freundliches, cultural-fit-perfektioniertes Bewerbungs- und Motivationsanschreiben, bis hin zu übereuphemistischen Arbeitszeugnissen – das Risiko von Fehlinterpretationen auf Basis dieser „vollständigen Bewerbungsunterlagen“ ist hoch wie nie.

Ob Sie deswegen gleich komplett auf entsprechende Unterlagen verzichten, und stattdessen hochstrukturierte eignungsdiagnostische Interview führen oder andere Kriterien (wie z.B. Online-Assessments oder Skilltests einsetzen, müssen Sie letztlich selbst für sich entscheiden.

Wichtig ist mir an dieser Stelle nur, dass Sie sich mal wieder neu gedanklich auf die drei Klassiker Anschreiben, Lebenslauf und Arbeitszeugnisse einlassen und bestenfalls zum kritischen Nachdenken angeregt werden.

>> Auf LinkedIn ist dazu schon eine spannungsgeladene Diskussion entstanden.

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Stefan Scheller

Autor und Speaker Persoblogger Stefan SchellerMein Name ist Stefan Scheller. In meiner Rolle als Persoblogger und Top HR-Influencer (Personalmagazin 05/22) betreibe ich diese Website und das gleichnamige HR Praxisportal. Vielen Dank für das Lesen meiner Beiträge und Hören meines Podcasts Klartext HR!

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