Um ein Kriterium wie die Arbeitsleistung von Kandidaten möglichst valide vorherzusagen, kommen im Personalauswahlprozess häufig mehrere Auswahlinstrumente zum Einsatz. Diese Auswahlinstrumente umfassen Interviews und die Sichtung von Lebenslauf und Anschreiben, bis hin zu psychometrischen Testverfahren und Assessment-Centern. Die aus den Auswahlinstrumenten gewonnenen Erkenntnisse müssen dann unweigerlich in ein Gesamturteil integriert werden, um eine Auswahlentscheidung zu treffen. In vielen Fällen wird dieses Gesamturteil dann basierend auf der Expertise und Intuition eines Recruiters (m/w/d) getroffen. Und hier liegt das Problem.
Holistische- versus mechanische Urteilsfindung
In der wissenschaftlichen Literatur wird zwischen zwei Urteilsfindungsmethoden unterschieden, wie Erkenntnisse aus mehreren Auswahlinstrumenten kombiniert werden können.
- Bei der holistischen Urteilsfindung werden die Erkenntnisse subjektiv und oftmals basierend auf Intuition des Recruiters „im Kopf“ kombiniert.
- Im Gegensatz dazu werden bei der mechanischen Urteilsfindung Erkenntnisse mit einer vor dem Auswahlprozess definierten Entscheidungsregel kombiniert.
Definition von Entscheidungsregeln statt Intuition
Entscheidungsregeln werden vor dem Auswahlprozess definiert, um den Einfluss irrelevanter Eindrücke, welche im Verlauf des Prozesses entstehen können, zu verhindern. Der Einsatz einer Entscheidungsregel versichert, dass die Erkenntnisse der Auswahlinstrumente konsistent für verschiedene Kandidaten gewichtet werden. Im Gegensatz dazu werden Erkenntnisse der Auswahlinstrumente inkonsistent für verschiedene Kandidaten gewichtet, wenn die holistische Urteilsfindung praktiziert wird.
In den meisten Auswahlprozessen wird ein Interview sowie die Sichtung eines Lebenslaufs als Instrument eingesetzt. Eine beispielhafte Entscheidungsregel ist die einheitliche Gewichtung der Erkenntnisse, die aus dem Interview und dem Lebenslauf gewonnen werden. Wesentlich ist, dass aus dem Interview sowie der Lebenslaufanalyse eine quantifizierte Beurteilung des Kandidaten resultiert.
Einheitsgewichtende Entscheidungsregeln bei quantitativen Beurteilungen
Hierbei ist anzumerken, dass die quantifizierten Beurteilungen auf der gleichen Skala erhoben werden sollten. Die einheitsgewichtende Entscheidungsregel lautet dann: Totalwert = 1 x Interviewbeurteilung + 1 x Lebenslaufbeurteilung. Testwerte und Beurteilungen können allerdings unterschiedlich stark gewichtet werden. Die Gewichte der Entscheidungsregel können auf verschiedene Weise festgelegt werden. Zum Beispiel durch statistische Analysen von Unternehmensdaten, durch meta-analytische Erkenntnisse oder unter Umständen auch durch den Recruiter selbst.
Die wissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten 70 Jahre haben robust und einschlägig in verschiedenen Bereichen gezeigt, dass der Einsatz einer Entscheidungsregel in gleichen, oftmals aber in valideren Vorhersagen resultiert als die holistische Expertenurteilsfindung.
Im Bereich der Personalauswahl kann die Vorhersagekraft des Auswahlverfahrens um bis zu 50% steigen, wenn Erkenntnisse mittels einer Entscheidungsregel kombiniert werden. Trotz dieser robusten Erkenntnisse finden Entscheidungsregeln in der Praxis selten Anwendung. Die meisten Auswahlentscheidungen werden nach wie vor holistisch und mittels Intuition getroffen. Das Science-Practice Gap in der Urteilsfindung ist daher noch immer aktuell.
Die Lücke zwischen der #HR #Wissenschaft und der #Praxis ist noch immer enorm groß. Klick um zu TweetenWelche Faktoren erklären den häufigen Einsatz holistischer Urteilsfindung?
Eine Anzahl von Faktoren erklären den häufigen Einsatz der holistischen Urteilsfindung in der Praxis. Ein erster Faktor besteht darin, dass sich manche Recruiter dieser wissenschaftlichen Erkenntnis nicht bewusst sind. Unter anderem, weil universitäre Curricula von Recruitern das Thema Urteilsfindung gar nicht oder unzureichend thematisieren.
Ein zweiter Faktor besteht darin, dass sämtliche Stakeholder dem Recruiter weniger Kompetenz zuschreiben, wenn Einstellungsentscheidungen das Resultat einer Entscheidungsregel sind, und nicht, wie gewohnt, das Resultat des holistischen Urteils.
Ein dritter Faktor ist, dass der Einsatz einer Entscheidungsregel grundlegende menschliche Bedürfnisse nach Autonomie und Kompetenz beschränkt. Folglich haben Recruiter bei strikter Anwendung der Entscheidungsregel keinen Einfluss auf die resultierende Vorhersage und können zudem ihre vermeintliche intuitive Expertise nicht unter Beweis stellen.
Der Grad einer Vorhersehbarkeit zukünftiger Leistung wird überschätzt
Neben diesen Faktoren erklärt eine Reihe von häufig vorkommenden Missverständnissen die Anwendung der holistischen Urteilsfindung. Recruiter vermerken zurecht, dass auch die aus einer Entscheidungsregel resultierenden Vorhersagen fehlerbehaftet sind.
Der naheliegende Grund dafür ist, dass Vorhersagen über die zukünftige Leistung (oder ähnliche relevante Kriterien in der Personalauswahl) von Bewerbern von Error geprägt sind und Recruiter systematisch überschätzen, zu welchem Grad zukünftige Leistung vorhersagbar ist.
Als Resultat einer nicht perfekten Entscheidungsregel und dem tiefen Wunsch nach perfekter Vorhersagegenauigkeit versuchen Recruiter oftmals, Entscheidungsregel-Vorhersagen mittels Intuition anzupassen. Ganz nach dem Motto „die Mischung macht’s“, glauben viele Recruiter, eine Kombination aus der Entscheidungsregel und ihrem intuitiven Urteil resultiere in den validesten Vorhersagen.
Auch hier zeigt die wissenschaftliche Literatur relativ eindeutig, dass reine Entscheidungsregelvorhersagen valider sind als intuitiv angepasste Entscheidungsregelvorhersagen. Der Grund dafür ist, dass Recruiter zu häufig vermeintliche Ausnahmen der Regel erkennen.
Weitere Kritik an mechanischer Urteilsfindung
Ein weiterer Kritikpunkt der mechanischen Urteilsfindung besteht darin, dass Entscheidungsregeln in einer sich immer schneller entwickelnden Arbeitswelt rapide veralten und an Validität verlieren würden. Selbst unter den Annahmen, dass 1) sich Zusammenhänge zwischen Auswahlinstrumenten und dem zu vorhersagenden Kriterium mit der Zeit verändern und 2) Recruiter sich dieser Veränderung bewusst sind, wäre die logische Folge, die Auswahlinstrumente beziehungsweise die Gewichtung der Entscheidungsregel zu erneuern. Und eben nicht stattdessen die holistische Urteilsfindung über Intution zu praktizieren. Denn die pure Konsistenz der Entscheidungsregel verbessert gegenüber dem inkonsistenten holistischen Urteil die Vorhersage.
Welche Rolle spielen Recruiter in der mechanischen Urteilsfindung?
Vielleicht fragen Sie sich jetzt, ob Recruiter überhaupt noch eine Rolle spielen, wenn Erkenntnisse mittels einer Entscheidungsregel kombiniert werden. Die Frage lautet jedoch weniger, ob, sondern wo Recruiter eine Rolle spielen. Denn auch der Einsatz einer Entscheidungsregel setzt voraus, dass Recruiter valide Auswahlinstrumente einsetzen.
Bei der Auswahl valider Auswahlinstrumente ist die Expertise des Recruiters gefragt. In dieser Designphase des Auswahlprozesses profitieren Unternehmen von eignungsdiagnostischen Professionals, welche die wissenschaftliche Literatur bezüglich der Validität verschiedener Auswahlinstrumente kennen und Auswahlinstrumente auf ihre psychometrischen Gütekriterien testen können sollten.
Neben der Auswahl der Instrumente besteht eine weitere Rolle des Recruiters darin, den korrekten Einsatz der Instrumente zu gewährleisten und Beurteilungen zu vermerken. Hierunter fallen Aufgaben wie die Administration valider Testverfahren und das Durchführen von strukturierten Interviews. Von der Job-Analyse bis hin zur Nutzung valider Auswahlinstrumente ist die Kompetenz des Recruiters also unerlässlich. Intuition hingegen nur mäßig hilfreich.
Von der #Anforderungsanalyse bis hin zur Nutzung valider #Auswahlinstrumente ist die #Kompetenz der Recruiter unerlässlich. Klick um zu TweetenSogar bei willkürlich gewählten Gewichten sind Entscheidungsregeln überlegen
Nachdem die Testergebnisse und Beurteilungen aus den Instrumenten vorliegen, zeigt die Literatur allerdings deutlich, dass wir die Kombination einer konsistenten Entscheidungsregel überlassen sollten. Ein erkenntnisreicher Befund der Entscheidungsfindungsliteratur besteht darin, dass sogar Entscheidungsregeln mit willkürlich gewählten Gewichten in genaueren Vorhersagen resultierten als holistische Vorhersagen. Wieder ein Minuspunkt für die Intuition.
Somit haben Recruiter eine wichtige Rolle in der Auswahl valider Instrumente zu erfüllen, nicht jedoch in der intuitiven, holistischen Kombination der aus den Instrumenten resultierenden Erkenntnisse. Die Rolle des Recruiters lässt sich bestens durch ein bekanntes Zitat von Dawes und Corrigan und zusammenfassen: „The whole trick is to decide what variables to look at and then know how to add“.
Weitere Vorteile mechanischer Urteilsfindung
Recruiter kritisieren zum Teil häufig zurecht, dass wissenschaftliche Studien primär die prognostische Validität verschiedener Auswahl- und Gewichtungsmethoden untersuchen und dabei andere wichtige Unternehmensziele wie Kostenreduzierung und Bewerberreaktionen vernachlässigen. Evaluiert man die mechanische- und holistische Urteilsfindung anhand dieser Unternehmensziele, lässt sich vermuten, dass auch diesbetreffend die mechanische Urteilsfindung im Vorteil ist.
Neben dem finanziellen Nutzen, welcher direkt aus der Validitätsdifferenz der holistischen- und mechanischen Urteilsfindung resultiert, erbringt die mechanische Urteilsfindung womöglich auch eine Zeit- und Kostenersparnis. Denn Testwerte und Erkenntnisse können sofort kombiniert werden, sobald sie vorliegen. Und müssen nicht erst in personalkostspieligen Paneldiskussionen besprochen werden. Denn die Intuition verschiedener Beteiligter kann durchaus abweichend sein. Mechanische Urteilsfindung hingegen ermöglicht ein schnelleres Feedback an die Kandidaten.
Mechanische Urteilsfindungen sind transparent
Ein weiterer wesentlicher Vorteil besteht darin, dass mechanische Urteilsfindung nicht nur konsistent, sondern im Vergleich zur holistischen Urteilsfindung unter Einsatz von Intuition auch gänzlich transparent ist. Dies ermöglicht ein konstantes Monitoring der Entscheidungsregel, die stetige Evaluierung des Prozesses durch eignungsdiagnostische Professionals, sowie die transparente Darlegung der Einstellungsentscheidung gegenüber Kandidaten. Die Transparenz regt möglicherweise auch zur Hinterfragung bestimmter Auswahlinstrumente an, da sich Recruiter Fragen stellen müssten, wie zum Beispiel: „Wie stark gewichte ich das Anschreiben?“ oder „Sollte ich das Anschreiben überhaupt als Auswahlinstrument einsetzen?“.
Zusammenfassung und Fazit
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die mechanische Urteilsfindung trotz zahlreicher Vorteile gegenüber der holistischen Urteilsfindung sowie der Anwendung von Intuition in der Praxis zu selten Anwendung findet. Einer der Gründe besteht darin, dass praxisrelevante Ressourcen zur Umsetzung mechanischer Urteilsfindung für Recruiter unzugänglich sind.
Interessierte Personalverantwortliche könnte jedoch ein kürzlich erschienenes Tutorial Papier konsultieren. Grundsätzlich plädiere ich für eine zukünftige Personalauswahl, in der Einstellungsentscheidungen evidenz-basiert und regelgeleitet, und nicht als Folge eines intuitiven Bauchgefühls getroffen werden.
Dafür muss sich Wissenschaft bemühen, praxisrelevante Interventionen zu erforschen, die den Einsatz mechanischer Urteilsfindung in der Praxis erleichtern. Die Praxis muss sich ihrerseits bemühen, den unternehmerischen und gesellschaftlichen Mehrwert evidenz-basierter Personalauswahl zu verstehen und zu adaptieren.
Des Weiteren muss die Praxis die Rolle des Recruiters so gestalten, dass Expertise als Kenntnis der wissenschaftlichen Literatur und der nötigen Statistik- und Methodenlehre, und nicht als Erfahrung im Ausüben des holistischen Bauchgefühls definiert wird. So können Wissenschaft und Praxis einen gemeinsamen Beitrag zur Verkleinerung des Science-Practice Gap liefern.
#Expertise muss als Kenntnis wissenschaftlicher #HR #Literatur definiert werden und nicht als Erfahrung bei der Anwendung von #Intuition. Klick um zu Tweeten
4 Antworten
Herr Marvin Neumann hat sicherlich ein „tolles Tool“ entwickelt (oder ist dabei), welches er gerne in der Wirtschaft in Euro umsetzen möchte. Das Marketing fährt er schon einmal hoch. Ich bleibe dabei: Menschen kann man nicht auf „Null“ und „Eins“ reduzieren, auch wenn manche Menschen das versuchen. Jedem Menschen widerfährt das „Leben“ und das hinterlässt eben auch manchmal Spuren. Man kann Personalentscheidungen immer nur im HEUTE treffen mit der JETZIGEN Information und dem IST Zustand. Niemand kann für irgendeine Person eine „valide“ Zukunftsvorschau gestalten. Dann können wir gleich die Glaskugel auspacken! Wir alle müssen lernen, mit dem „Faktor X“ der Unsicherheit umzugehen. Es gibt keine 100 % sichere Prognose. Und bei Menschen schon gar nicht! DAS nennt man einfach LEBEN!!!! Das Menschen weniger gut „performen“ liegt ja auch oft am Umfeld, das sich in einer Organisation ändert! Andere Führungsmannschaft, andere Strategien, andere Inhaber.. und schon ist alles auf RESET!
Recruiter sind nicht „Gott“. Personalberater auch nicht. Aber wer seine Organisation kennt und die Kollegen, zu dem der neue Leistungsträger (gn) „passen“ soll, der kann über „Null“ und „Eins“ einen wesentlich besseren Input leisten, als standardisierte Personalauswahlinstrumente!
Wer den Faktor „Mensch“ aus dem Recruiting raus haben möchte, der findet sich bald in einer Organisation voller Narzissten und Söldner wieder! Wer so auswählt, der erhält als Ergebnis auch die passenden „Profile“. Denn Menschen werden ja schon seit einiger Zeit nur noch als „Profile“ bezeichnet.
Die Ökonomie im Bereich der Personalbeschaffung erinnert an die industrielle Revolution. Ja, Sparen muss sein! Aber um welchen Preis?
*BeraterinfasstsichandenKopfundgehtwiederandieArbeit*
Hallo Personalberaterin mit 20 Jahren Erfahrung,
als Wissenschaftler betreibe ich hier einzig und allein Marketing für die Erkenntnisse, die sich aus den letzten 100 Jahren Forschung zur Eignungsdiagnostik ergeben haben. Die „Tools“ brauche ich nicht mehr entwickeln, da es diese schon seit über 60 Jahren gibt, und somit ist meine Herzensangelegenheit der Wissenstransfer auf diesem Gebiet. Ich gebe Ihnen Recht, dass Auswahlentscheidungen viel Unsicherheit beinhalten und eine perfekte Vorhersage unmöglich ist. Erstens habe ich dies nie behauptet und thematisiere dies auch im Artikel. Zweitens können wir mit den richtigen Instrumenten und Regeln eben doch zu einem gewissen Grad Vorhersagen treffen, weshalb wir nicht die Glaskugel konsultieren sollten. Dass kontextuelle Faktoren die Performance beeinflussen stimmt, und ist mitverantwortlich dafür, dass unsere Vorhersagen nicht perfekt sind. Es stellt aber kein valides Argument dar, die Glaskugel rauszuholen.
Meine Kernaussage des Artikels ist, dass man Erkenntnisse, welche mittels verschiedener Instrumente erfasst werden, mit einer Regel kombinieren sollte, und nicht mittels der Intuition. Dabei muss das zu vorhersagende Kriterium keineswegs „Performance“ sein. Nehmen wir an, Sie möchten Teamzufriedenheit optimieren. Nehmen wir auch an, Sie wüssten, weil Sie ihr Team ja so gut kennen, welche „Art von Person“ Sie dafür bräuchten (z.B. eine extrovertierte Person die offen für Neues ist). Dann sind Sie immer noch besser bedient, diese Persönlichkeitsmerkmale mittels valider Instrumente zu diagnostizieren, anstelle die Intuition oder Erfahrung zu benutzen. Ihrer Aussage stehen in diesem Punkt unzählige Studien entgegen.
Fakt ist, dass Auswahl in vielen Situationen unvermeidlich ist und wir zur Selektion gezwungen sind. Entscheidungsregeln helfen uns dabei nachzuvollziehen, wie diese Auswahlentscheidungen zustande kommen. Die resultierende Transparenz ermöglicht es uns, den Prozess kritisch zu hinterfragen und zu verbessern.
Der Artikel über die Tätigkeit des Recruiters ohne Anwendung seiner menschlichen Intuition lässt mich ratlos zurück. Vor allem frage ich mich, ob man solche evidenzbasierten oder bestenfalls eignungsdiagnostischen bzw. Assessment ähnlichen Verfahren wirklich unbedingt braucht. Wenn ich zig Tausend an Bewerbungen erhalte, dann kann ich mit diesen Luxus vielleicht leisten. Bei den meisten Unternehmen die ich kennenlernen durfte, fehlt es aber vor allem am Commitment und Mission Statement in der Führungsebene. Darauf abgestellt helfen mir dann auch keine Tools oder Standards. Gefährlich wird es dann, wenn man meint das man damit immer die besten Kandidaten gewinnt oder den Prognosen der Zukunft vertraut. Eines fehlt mir aber völlig dabei, nämlich, das Risiko durch Fehler lernen zu können und zwar auf beiden Seiten. Wenn überall und immer mit möglichst größter Zielperfektion rekrutiert werden soll, wo bleiben dann Innovation und menschliche Fehler? Schlimmstenfalls baue ich mir eine träge und eher gleichrangige Organisation an besonders ähnlichen Mitarbeitern auf. Und die Underdogs oder Kreativen wie z. B. meiner Einer können sich dann ganz verabschieden von der schönen neuen Recruitingwelt? Der Makel macht den Menschen, nicht die Perfektion!
Hallo Herr Mertens,
vielen Dank für die Einschätzung. Die Dringlichkeit bzw. der Nutzen der Eignungsdiagnostik hängt unter anderem davon ab, wie selektiv Sie in ihrer Auswahl sein können (wähle ich einen Kandidaten aus 10 oder 100 Bewerbern aus) und wie viele Bewerber bei zufälliger Auswahl bereits geeignet wären. Abhängig von diesen kontextuellen Faktoren kann valide Eignungsdiagnostik allerdings einen großen Nutzen haben, und sofern eine Organisation das Ziel hat, Performance valide vorherzusagen, sollte Eignungsdiagnostik eingesetzt werden. Manche valide Assessment-Verfahren haben tatsächlich ihren Preis, allerdings sind im Vergleich dazu die Kosten der vorhandenen Verfahren oft nicht deutlich (was kosten meine unstrukturierten Interviews im Vergleich zum Testverfahren eines Anbieters?), ganz abgesehen vom Return der sich durch Leistungsunterschiede etc. ergibt. Die Kernaussage meines Artikels ist, dass man die Verfahren die man einsetzt (auch sollten diese valide sein) mittels einer Entscheidungsregel kombiniert, und nicht mittels Intuition. Der Step vom Einsatz der Intuition hin zur Entscheidungsregel kostet Sie sehr wenig. Sie quantifizieren die Eindrücke der Instrumente, wählen die Gewichte die den Instrumenten zugeschrieben werden und los geht’s! Ich gebe Ihnen Recht, dass der Support von höheren Führungsebenen oft fehlen mag, was ein großes Problem ist. Ich habe allerdings nie behauptet, dass man immer perfekte Vorhersagen macht, auch nicht mittels einer Entscheidungsregel, wie es auch im Artikel steht. Ihrer Annahme, dass dem Einsatz einer Entscheidungsregel / valider Eignungsdiagnostik ein Innovationsverlust folgt, muss ich widersprechen, da ich mir keiner Evidenz hierfür bewusst bin. Ebenso nicht, dass eine träge Organisation mit ähnlichen Mitarbeitern daraus resultiert. Eher im Gegenteil – intuitive Urteile sind oft vom Bias geprägt, „ähnliche“ Menschen für geeignet zu halten. Diesem Bias wirkt der Einsatz einer Entscheidungsregel ein Stück weit entgegen.