Derzeit findet eine Vielzahl virtuelle Events, Messen und Kongresse statt. Hintergrund sind die aufgrund der Corona-Pandemie deutlich verschärften Vorschriften und Kontaktbeschränkungen. Was aber bringen diese Events tatsächlich? Können sie mit ihren vormaligen VorOrt-Veranstaltungen mithalten? Und lassen sich darauf basierende Geschäftsmodelle auf Dauer ausreichend monetarisieren?
Meine subjektive Betrachtung als kritisches Zwischenfazit.
Virtuelle Events sind zur Massenware geworden
Waren virtuelle Events einst noch Exoten in der Riege der HR-Veranstaltungen, errangen sie in 2020 von null auf hundert den Spitzenplatz in der Teilnehmergunst. Zugegeben, nicht wirklich freiwillig.
Vor allem die Macher der HR-Leitmesse Zukunft Personal hatten sich für dieses Jahr die größte Veranstaltung aller Zeiten ausgedacht und geplant. Ausweichen mussten sie auf ein eingeschränktes virtuelles Format. Nachdem die Virtual Week letzten Freitag zu Ende gegangen ist, muss auch hier die Frage beantwortet werden, was es letztlich gebracht hat. Mein Blickwinkel dabei ist der eines Kunden / Ausstellers sowie eines Teilnehmers am virtuellen Event.
Selbstverständlich gibt es auch andere Blickwinkel, die ich jedoch nicht aus eigenem Erleben beurteilen kann.
Die Menge an virtuell verfügbarer Aufmerksamkeit ist begrenzt
Vorab einige generelle Feststellungen. Seit in der Corona-Pandemie und einer vielfach angeordneten Kurzarbeit eine Reihe personeller Ressourcen nicht mehr ausgelastet werden konnte, ist die Anzahl der neuen Blogs, Podcasts und sonstigen Content-Formate regelrecht explodiert.
Jedoch gilt das nicht für die Zeit und Aufmerksamkeit bei den jeweils zu erreichenden Zielgruppen. Diese ist sogar begrenzter denn je. Viele Arbeitnehmer konnten die Möglichkeiten eines längerfristigen Homeoffices in Anspruch nehmen, was die generellen Zugangsmöglichkeiten zu virtuellen Events und anderen Online-Formaten erleichtert. Allerdings ist schon seit einigen Monaten eine gewissen Online-Müdigkeit, auch „Zoom-Fatigue“ zu verspüren. Will heißen: Wer den ganzen Tag rein virtuelle Zusammenkünfte pflegt und dabei auf seine Bildschirme starrt, ist nicht mehr im gleichen Maße bereit, darüber hinaus noch weiteren Content online zu konsumieren. Irgendwann ist eben auch mal wieder reales Leben angesagt. Um so mehr, wenn Kinder oder Haustiere -die quasi übernacht auf einmal „Bürotiere“ geworden sind- ihre Eltern beziehungsweise Herrchen und Frauchen fast nur noch vor der Mattscheibe sitzend kennen.
Der Kampf um Aufmerksamkeit für virtuelle Events schadet allen Marktteilnehmern
Hinzu kommt ein zweiter Effekt. Aufgrund der im ersten Halbjahr teilweise komplett und ersatzlos ausgefallenen Veranstaltungen, ist die Dichte an entsprechenden virtuellen Events im zweiten Halbjahr – vor allem nach der Sommerpause – unglaublich hoch.
So fanden beispielsweise Online-Konferenzen von Wollmilchsau (eine Woche), die Agile HR-Conference (2 Tage), die Zukunft Personal Europe Virtual (5 Tage), die Talent Pro (5 Tage) oder auch die New Work Week von XING (5 Tage) innerhalb kürzester Zeit statt. Die letztgenannten drei sogar komplett zeitgleich. Innerhalb der Messe gab es weitere Events, wie die von Wolfgang Brickweddes ICR.
Auf einer VorOrt-Veranstaltung gelingt die Einbettung von zusätzlichen Highlights in ein Großevent jedoch deutlich besser als bei Online-Events. Denn wird ein virtuelles Konferenzsystem verlassen und ein anderes genutzt, entsteht unweigerlich ein harter Bruch. Auch wenn in der Ankündigung und Vermarktung die Events zu einer Groß-Veranstaltung gehören. Online sind sie komplett getrennt und konkurrieren sogar miteinander.
Bei virtuellen Events ist die Aufmerksamkeitsspanne geringer
Ein weiterer Effekt schmälert den Outcome von Online-Veranstaltungen. Während wir in einem klassischen Workshop oder auch bei einem Messebesuch mit allen Sinnen komplett auf der jeweiligen Veranstaltung verhaftet sind, trifft dies auf virtuelle Events keineswegs zu. Teilweise eingebaut in eine mediale Wand aus drei Monitoren – die Mobilgeräte noch nicht mitgerechnet – spaltet sich unsere Aufmerksamkeit unweigerlich auf.
Während also die Keynote auf der einen Veranstaltung häufig ohne große Interaktion mit Teilnehmern (m/w/d) vor sich hin dudelt und auch eine Art Hörbuch sein könnte, lassen sich beliebig geschäftliche E-Mails beantwortet oder gar Anrufe entgegennehmen. Der kurze Tweet auf die Event-Wall, der schon bei VorOrt-Veranstaltungen die Aufmerksamkeit für das Hauptevent gefährlich schmälert, kann bei einer Online-Veranstaltung gar das komplette Aus bedeuten. Kamera aus, muten, abschalten.
Was bei offenen Dialogformaten wie BarCamps gilt, hält Einzug auch bei Konferenzen und virtuellen Workshops: Das Gesetz der Füße. Online übersetzt: Das Gesetz des Klicks auf andere Angebote. Wird unsere Aufmerksamkeit nicht dauerhaft gebunden, beispielsweise durch hochgradig interaktive Formate, geht sie ruckzuck ganz verloren.
Auch wenn wir bei der Präsentation zur Zukunft des Recruitings im Rahmen unserer Ausarbeitung des #ZPthinktank Recruiting & Attraction angeblich über 170 Teilnehmer hatten, ist nicht klar, was dort wirklich inhaltlich ankam. Feedback und Reaktionen waren nämlich Mangelware.
Virtuelle Events erzeugen nicht das Gefühl gleicher Wertigkeit
Und es ist sogar noch viel schlimmer. Denn neben dem häufig missglückten Multitasking, sorgt die gespaltene oder deutlich reduzierte Aufmerksamkeit auch dafür, dass gefühlt die Wertigkeit der Formate abnimmt. Oder nennen wir es besser, die „Wertschätzung für die Formate“.
Durch die Vielzahl an kostenlosen Online-Events auch in der HR-Szene, sinkt unweigerlich die Zahlungsbereitschaft. Dort wo vormals drei- oder gar vierstellige Beträge für einen oder zwei Workshop- oder Kongress-Tage zu investieren waren, gibt es nun eine durchaus gleichwertige Alternative sogar kostenfrei. Dies führt dazu, dass beispielsweise die vormals unangefochtene HR-Leitmesse Zukunft Personal nicht mehr die gleiche Reichweite und „Ausschließlichkeit“ erzielen konnte. Sie war gefühlt (und ich rede hier tatsächlich von meinen eigenen Erfahrungen) in der aktuellen Zeit eben nur eine von (zu) vielen Veranstaltungen. Früher war sie das Highlight des gesamten Messejahres mit Vorfreude über Monate.
Technische Probleme mit virtuellen Events
Als ob das nicht schon genug Herausforderungen für die Anbieter virtueller Veranstaltungsformate wären, geht der Reigen noch munter weiter. Denn aufgrund der eben beschriebenen Vielfalt an parallelen Angeboten, werden auch die Internetleitungen immer häufiger an ihre Grenzen gebracht. Streaming mit Bild und Ton, teilweise sogar mit einer Vielzahl an Beteiligten und Interaktionen, kostet Bandbreite. Hier hatte ich in den letzten Wochen vermehrt Probleme. Und ausgerechnet bei der von mir mitorganisierten Abschlussveranstaltung der Ideen-Kampagne Talenthacks (Vol. 2) zum Thema IT-Recruiting ging dann technisch gar nichts mehr.
Userfreundlichkeit der Plattformen für virtuelle Events ausbaufähig
Die Vielfalt der für virtuelle Events eingesetzten Plattformen bringt weitere kritische Aspekte ins Spiel. Denn häufig müssen eigene Apps oder Plugins installiert werden. Viele Arbeitgeber erlauben das aufgrund von IT-Sicherheitsrichtlinien oder Firewall-Einstellungen schon gar nicht. Gut, wenn eine hochwertige private IT-Ausstattung vorhanden ist. Und schlecht, wenn dies eben nicht der Fall ist. Und lange nicht alle Menschen haben großformatige Bildschirme und Highend-PCs oder Macs zuhause stehen. Viele Angestellte begnügen sich mit kleineren Geräten wie Laptops oder Tablets.
Virtuelle Event-Plattformen entfalten häufig jedoch erst ihre Wirkung bei entsprechend großflächiger Ansicht. Zahlreiche Fenster für Moderatoren (zum Beispiel für Chat, Teilnehmerlisten, Fragen-Fenster, Notizen, Präsentationsfenster sowie Videostreams von Mitmoderatoren) erschweren die Übersicht und das Handling.
Aber auch große Event-Plattformen sind nicht immer selbsterklärend. So fiel mir auch die Navigation über die virtuelle Zukunft Personal nicht immer leicht. Ohne Suchfunktion oder ähnliche Hilfsmittel, wären mir die vielen Möglichkeiten gar nicht aufgefallen. Geschweige denn hätte ich sie genutzt. Zum anderen bin ich als umfassender Apple-Nutzer oft gar nicht mehr bereit, zu komplizierte Angebote zu nutzen. Was nicht bis zu einem gewissen Grad intuitiv zu bedienen ist und mich nicht sofort komplett einfängt, nervt schnell. Es gibt ja genügend Alternativ-Programme. Das mag nicht fair sein – allerdings ist meine Zeit auch online zu kostbar, um durch umständliche Navigationswege geleitet zu werden. Es soll einfach funktionieren.
Persönlicher Kontaktaufbau und Pflege ist deutlich anspruchsvoller
Kommen wir zu einem weiteren wichtigen Thema: Ich besuche Veranstaltungen wie Kongresse, BarCamps oder auch Messen nicht nur aufgrund der fachlichen Inhalte. Vielmehr haben sich einzelne Formate über die Jahre auch zu einer einzigartigen Networking-Plattform entwickelt. Selbst wenn einzelne virtuelle Events wie beispielsweise die Agile HR Conference sehr clevere remote Networking-Formate angeboten haben. Ein auf drei Minuten begrenzter Speed-Talk mit zufällig ausgewählten anderen Teilnehmern ist eben nicht das gleiche wie eine ebenso zufällige Begegnung vor Ort.
Zwischen laufendem Timer und wackeligen Internet-Verbindungen kommt schnell ein Gefühl von Stress auf – was so ziemlich das komplette Gegenteil von gemütlichen Gesprächen an Kaffee-Bars oder dem Tresen bei After-Partys ist.
Genau genommen wird ein Gespräch nur angeteasert und auf einen späteren -eigens zu vereinbarenden- Zeitpunkt nach einer Vernetzung via XING oder LinkedIn verschoben. Oder findet letztlich dann eben doch nicht statt.
Um es deutlich auf den Punkt zu bringen: Mir haben die realen Live-Kontakte zu den vielen tollen Menschen der HR-Szene im DACH-Raum dieses Jahr mehr als deutlich gefehlt. Virtuell ist hier leider Lichtjahre von einem Vor-Ort-Live entfernt.
Virtuelle Events ermöglichen eher Marketing als Vertrieb
Abseits von subjektiven Qualitätseinbußen durch den Mangel an persönlichen Kontakten, zeigt sich hier sogar ein strukturelles Problem. Denn dort, wo auf Messen oder vergleichbaren Veranstaltungen das direkte Auge-in-Auge-Gespräch mit Kunden und Interessenten im Vordergrund stand, bieten virtuelle Messen erst einmal ein extrem anonymes -ja sogar kühl wirkendes- Bild. Kein Kaffeeduft, kein Lächeln des Standpersonals, keine leckeren Kleinigkeiten auf „bunten Tellern“ – und eben auch keine „echten Menschen“.
Den digitalen Stand eines Ausstellers im Rahmen einer virtuellen Messe zu besuchen, fühlt sich überhaupt nicht real an. Oftmals führen die verfügbaren Aktionen lediglich zu weiteren textlichen Inhalten, Downloads oder eben zu einem Chat. Live-Gespräche finden in den seltensten Fällen statt. Es wird teilweise eher anonym konsumiert aus der Sicherheit des eigenen Bürosessels heraus. Ohne Interaktion oder gar Kommunikation.
Vor allem für klassische Vertriebsmitarbeiter mögen solche Messen sehr gewöhnungsbedürftig sein. Statt Kontaktformularen mit Aufzeichnungen über reale vertriebliche Gespräche bleiben nunmehr nur Namen und E-Mail-Adressen von Personen, die -ohne wirklich Gesicht zu zeigen- den Stand besucht, Inhalte gesichtet oder Informationen heruntergeladen haben. Vormals sofort entstandene Leads sind nunmehr erst einmal zu qualifizierende durch Marketing entstandene Klicks. Die Aussteller (wenn man diese überhaupt noch so bezeichnen kann), müssen nun in der Nachbearbeitung der entstandenen Kontaktdaten entscheiden, wie effektiv die Teilnahme am Messe-Format tatsächlich war.
Mein Fazit zum Thema virtuelle Events
Zugegeben, ich bin deutlich ernüchtert. Ohne Vor-Ort-Events fehlt mir die Begeisterung, die Inspiration und mangels Fokussierung tatsächlich oft auch das Learning. Die gesamte Veranstaltungs- und Messe-Branche erlebt einen nie dagewesenen Umbruch. Aber selbst bei bestmöglicher und professioneller Umstellung auf virtuelle Formate, bleibt das Gefühl am Ende ein anderes. Wir sitzen noch immer (alleine) im Homeoffice, starren auf unsere Bildschirme und müssen irgendwie damit klarkommen, dass es vermutlich auch in den kommenden Monaten keinerlei inspirierende Vor-Ort-Veranstaltungen in größerem Rahmen geben wird.
Das vermeintliche „new normal“ mit Blick auf Messen und Groß-Veranstaltungen gefällt mir in Summe nicht wirklich. Ebenso geht es übrigens auch Inge Pirner, Vizepräsidentin des VDR. Sie spricht sich in einer „Brandrede“ für mehr Dienstreisen aus. – Denn auf Dauer verlieren wir hier deutlich an Kontakt-Qualität und Vertrauen.
Dabei könnten wir aus der Corona-Krise in Summe eine Vielzahl positiver Entwicklungen mitnehmen, wie ich kürzlich im Rahmen eines Zukunftsbilds nach Corona skizziert habe. Aber mit Blick auf virtuelle Messen und Veranstaltungen fühlt es sich für mich gerade alles irgendwie recht schal an.
Die Kernbotschaft: Kein pauschales Zurück zu analog – aber mehr Selektion
Mein treuen Leserinnen und Leser wissen, dass es mir hier nicht um subjektives Jammer geht. Um die Kernbotschaft vielleicht trotzdem nochmal herauszustellen: Es geht mir nicht um die Kritik an einer einzelnen Veranstaltung. Denn bei Vor-Ort-Veranstaltungen war die Gefahr einer „Fehlinvestition“ sogar deutlich höher. Wir werden zukünftig aber viel mehr über Qualität und das richtige Format sprechen müssen als bisher. Das geht eng einher mit der Beantwortung einer sehr selbstkritischen Frage.
Diese lautet: Braucht es meine liebgewonnene Veranstaltung eigentlich überhaupt noch?