Früher war der Satz „Du hast Deinen Job doch eh nur über Beziehungen bekommen!“ wohl eindeutig als Beleidigung zu werten. Warum Beziehung für das Finden eines neuen Arbeitsplatzes zukünftig eher eine absolute Notwendigkeit werden könnten und dies so gar nicht mehr abwertend wäre, möchte ich im heutigen Beitrag zeigen. Talent-Relationship-Management heißt das Stichwort.
Meine eigenen Erfahrungen
Damals kam ich eher durch Zufall zu meinem aktuellen Arbeitgeber, der DATEV eG in Nürnberg. Nach dem erfolgreichen Jura-Studium sowie mehreren Stationen als Rechtsreferendar bei der Staatsanwaltschaft, am Landgericht, in einer Würzburger Behörde, dem Landratsamt sowie einer Rechtsanwaltskanzlei, stand das sogenannte Wahl-Pflicht-Praktikum an. Aufgrund meines damaligen Schwerpunkts Arbeits- und Sozialrecht (ersteres habe ich geliebt, zweiteres verflucht), wollte ich mir ein Unternehmen in Bayern suchen, bei dem Rechtsreferendare sowohl die viermonatige Praktikumszeit absolvieren, als auch einen möglichen Einstieg nach dem zweiten juristischen Staatsexamen finden können.
Eine extrem unscheinbare, an Referendare verteilte Broschüre listete entsprechende Arbeitgeber auf. Die DATEV kannte ich zu diesem Zeitpunkt nicht, fand aber den Standort Nürnberg toll. Print hat also gewirkt.
Das ist jetzt 15 Jahre her. – Die Arbeitsatmosphäre sowie die Arbeitsbedingungen als Referendar bei DATEV hatten mich von der ersten Sekunde an fasziniert, so dass mir klar war: Hier will ich arbeiten! Zu jener Zeit gab es allerdings noch keine explizite Arbeitgebermarke. Und auch der Begriff Employer Branding war noch nicht geboren.
Der Schock im ersten Bewerbungsgespräch
Ich bewarb mich also auf eine Stelle im Bereich Consulting und wurde zu einem ersten Kennenlernen in der Personalabteilung eingeladen. Die damalige Ansprechpartnerin gibt es schon lange nicht mehr in dieser Funktion, daher kann ich einen offenen Einblick gewähren in den damaligen Ablauf:
Begrüßt wurde ich mit den Worten: „Guten Tag Herr Scheller. Eines vorweg: Ich habe Sie nur zum Gespräch eingeladen , weil Herr (nennen wir ihn der Einfachkeit halber mal) Müller, ihr fachlicher Pate im Praktikum, mich darum gebeten hat. Für Juristen haben wir gerade keine Stellen frei!“ .
Ah, ja. Den Satz wollte ich schon immer mal hören…
Meine durchaus forsche Rückfrage „Und was bitte machen wir jetzt hier?“ führte immerhin dazu, dass mir ein psychologischer Selbsteinschätzungsbogen überreicht wurde, auf dem ich Kreuze setzen sollte, z.B. wie ich mein Selbstbewusstsein einschätze, mit welchen Worten ich meinen Kleidungsstil beschreiben würde, und ähnliche tiefgreifende Fragen.
Authentizität und Selbstreflexion als Erfolgskriterien
Wer mich kennt, der weiß: Die Selbstreflexion mache ich mit links. Und so war der Bogen fix gefüllt. Zu meinem großen Erstaunen fingen beim Lesen meiner Antworten auf einmal die Augen der Personalerin zu leuchten an. Sie verkündete mir, dass meine Kreuze sehr ungewöhnlich gesetzt seien. Im Normalfall würden Bewerber fast ausschließlich im oberen positiven Bereich ankreuzen und Superhelden mimen.
Aus meinem Antwortverhalten schloss sie auf eine gesunde Selbstreflexion, Ehrlichkeit und vor allem den Mut zur Ehrlichkeit. Und natürlich auf die vielgepriesene Authentizität. So wusste ich kaum, wie mir geschah, als ich kurz darauf einen zweiten Termin zusammen mit einem Manager aus dem Consulting angeboten bekam. Dafür sollte ich ein fachliches Thema aufbereiten und dieses dann zusammen mit einer Selbstpräsentation zum Besten geben.
Ich kürze an dieser Stelle ab, denn es folgte ein weiteres Gespräch mit meiner zukünftigen (ersten) Führungskraft. Ab dem zweiten Termin hatte ich jedoch bereits das sichere Gefühl, dass sich die Situation zu meinen Gunsten gedreht und ich mir den Einstieg redlich erarbeitet hatte.
An dieser Stelle sei erneut angemerkt, dass es diesen Test mit samt der Personalerin kurz darauf bereits nicht mehr gab.
Fachliche Mängel durch persönliche Kompetenzen wettmachen
Meine zeitgleich mit mir eingestellten beiden Teamkollegen hatten mir später verkündet, dass sie als BWLler nur ein einziges vergleichsweise oberflächliches Gespräch führen mussten und man sie quasi von der Uni wegakquiriert hatte. Schon damals hatte ich also erfahren, dass es Unterschiede gibt zwischen der fachlichen und der persönlichen Eignung für einen Job. Fehlt eines, muss das andere überdurchschnittlich überwiegen.
Dieses Prinzip schien mir auch die kommenden Jahre weiter treu zu bleiben. Genau genommen war es nie meine fachliche Qualifikation, die meine Karriere beflügelt hatte. Weder als Geschäftsleitungsassistent noch als Teamleiter eines Doppelteams aus Produktmanagern und Controllern. Genauso wenig wie beim Einstieg in den Personalbereich.
Hätte ich mich von außen (ohne dass mich jemand im Unternehmen kennt) mit meinen bisherigen Qualifikationen und Zeugnissen für die jeweilige Folgestelle beworben, wäre ich vermutlich stets komplett chancenlos geblieben. Trotz 1,8er Abi, zwei juristischen Prädikatsexamen in Bayern und zahlreichen gewerblichen Nebenjobs, die ich mir aufgebaut hatte. Der interne Vermerk im Bewerbersystem wäre vermutlich „Fachliche Qualifikation passt nicht zum Anforderungsprofil“ gewesen oder ähnlich.
Und trotzdem bin ich nach 14 Jahren immer noch fest im Unternehmen und arbeite auf meiner Traumstelle – endlich mit tiefer fachlicher Kompetenz. Aber wer weiß, wohin mich der nächste oder übernächste Schritt trägt?
Die Hürde Recruiter nehmen
Worauf ich hinaus will? Mein eigener Einstieg in die Firma zeigt sehr schön die Problematik auf, der sich jährlich zehntausende Bewerber gegenüber sehen: Sie haben möglicherweise ganz gute Noten, aber es gibt immer noch viele andere mit besseren Noten. Besserer Ausbildung. Mehr Praktika. Auslandserfahrung.
Recruiter, die zum Teil Jobs mit hunderten Bewerbern zu bearbeiten haben, stehen vor der großen Herausforderung, hinter diese Noten auf die persönlichen und sozialen Kompetenzen der Bewerber zu blicken. Denn die Noten alleine könnten auch durch egoistisches Strebertum zustande gekommen sein, oder gar mit Ellenbogenmentalität. Gesucht werden aber meist echte Teamplayer und Menschen, die in modernen Arbeitsmethoden effektiv zusammenwirken können. Da helfen Noten alleine nur bedingt für eine Prognose.
Noch eine Stufe härter ist es für Bewerber mit Migrationshintergrund und wenig vergleichbaren, im fernen Ausland erworbenen Qualifikationen.
Weg von Fakten, hin zum Menschen
Vor gar nicht allzu langer Zeit wurden zum Beispiel über das Betriebsverfassungsgesetz, das AGG und weitere Gesetze, Regeln geschaffen, die u.a. dem Zweck dienen sollen, personelle Entscheidungen zu verobjektivieren. Und was wäre wohl objektiver als Zahlen, wie Abschlussnoten oder sonstige Bewertungen. So zumindest auf den ersten Blick.
Zwischenzeitlich merken Personaler jedoch sehr wohl, dass das stupide Abgleichen von Noten oder ähnlichen Bewertungen bei Weitem nicht die besten Bewerber zutage fördert. Auch die fachliche Qualifikation scheint vielerorts nicht mehr zwangsläufig die erste Geige zu spielen. Zumindest wenn man propagierten Sätzen wie „Hire for attitude, train for skills“ Glauben schenkt. Das meint nichts anderes, als dass man letztlich eine Person wegen ihrer (persönlichen, sozialen und methodischen) Kompetenzen einstellen sollte und sie dann fachlich auf Vordermann bringt über entsprechend intensive Einarbeitung.
Das Vitamin B von heute: Talent-Relationship-Management
Aber wie kommen nun Bewerber über die aufgezeigten formalen Hürden hinweg, so dass sie dem Unternehmen ihre Persönlichkeit präsentieren können? – Natürlich über Beziehungen.
Und diese Beziehungen suchen verstärkt die Unternehmen sogar selbst. Aus eben jenem Grund. Kenne ich die potenziellen Bewerber schon, dann ist der Recruiter im Fall der Bewerbung nicht mit den klassischen Bewerbungsunterlagen alleine. Auch die sogenannte kulturelle Passung ist schon bekannt.
Das Kind hat einen typisch neudeutschen Namen: „Talent-Relationship-Management“ und ist eines der Hype-Themen der Unternehmen in Zeiten des Fachkräftemangels.
Aber ist damit dann wieder alles beim alten, vermeintlich ungerechten „Job nur über Vitamin B“? – Vielleicht.
Ich würde es jedoch eher so beschreiben (Achtung, jetzt wird’s philosophisch!): Dem früheren Vitamin B der Vetternwirtschaft (These) folgte die Regelwut der sturen Verobjektivierung (Antithese). Nun ist es Zeit für die Synthese: Über Talent-Relationship-Management können Unternehmen lange vor der eigentlichen Bewerbung aktiv mit Interessierten in Kontakt treten und diese kennenlernen. Neben der rein fachlichen Qualifikation sowie der Noten, sind damit auch im Vorfeld weitere wichtige Kompetenzfelder kennenlernbar.
Ob damit die Personalauswahl tatsächlich besser wird, hängt allerdings dennoch von der Kompetenz der rekrutierenden Personaler und Hiringmanager ab. Instrumente gibt es zwischenzeitlich genug. Sie müssen aber auch entsprechend professionell genutzt werden.