Genderwahnsinn und Geschlechtergleichheit

Genderwahnsinn, Frauen diskriminierende Algorithmen und das Streben nach Gleichbehandlung

In diesem Jahr steht das traditionelle Interview zum Jahreswechsel erstmals unter einem Motto. Der Genderwahnsinn steuerte 2018 in den Augen Vieler auf einen neuen Höhepunkt zu. Algorithmen, die eigentlich für Objektivität und Neutralität sorgen sollen, diskriminieren gezielt Frauen. Und große Internetunternehmen streben nach mehr Gleichbehandlung. Oder trauen sich einfach nicht mehr, geschlechtsbezogene Formulierungsvorschläge zu unterbreiten.

Meine persönlichen Gedanken vor dem Beginn des Jahres 2019.

Genderwahnsinn – das dritte Geschlecht und die Personaler

Deinen Beitrag betitelst Du unter anderem mit dem durchaus negativ aufgeladenen Begriff Genderwahnsinn. Warum?

Der Begriff „Genderwahnsinn“ ist in der Tat negativ konnotiert. Zum einen werden immer mehr Produkte und Dienstleistungen gegendert. Geschlechterrollen werden dabei so stark wie nie zuvor zur Grundlage von Produktmarketing-Aktionen. Insbesondere durch Produkte für Kinder verfestigen sich traditionelle Rollenbilder immer mehr.

Auf der anderen Seite streben vor allem weibliche Aktivistinnen immer stärker nach der Aufhebung dieser klassischen Rollenbilder und setzen sich für mehr Gleichberechtigung ein. Das ist für sich genommen ein mehr als legitimes Ziel. Und wenn man sich das sogenannte Gender Pay Gap bei der Bezahlung für gleiche Arbeit ansieht, gibt es hier tatsächlich deutlichen Handlungsbedarf.

Gender Pay Gap Europa
Quelle: www.destatis.de

Geschlechtsspezifische Ansprache als Herausforderung

Frauen wollen heute vor allem in der Kommunikation deutlich stärker wahrgenommen und entsprechend spezifisch adressiert werden. Auch im Umfeld von HR.

Das nehme ich auch so wahr. Und zunehmend lauter flüstert mir das schlechte Gewissen über die Schulter, wenn ich das sprachwissenschaftliche eigentlich korrekte generische Maskulinum in meinen Beiträgen verwende.

Würde es dann nicht leichter sein, gleich zum Beispiel von „Bewerberinnen und Bewerbern“ zu sprechen, statt das generische Maskulinum „die Bewerber“ zu verwenden?

Naja, mal abgesehen davon, dass es mit zwei geschlechtsbezogenen Substantiven häufig in einem Text noch nicht getan ist, bringt das dritte Geschlecht eine neue Herausforderung hinzu.

Die korrekte Ansprache des dritten Geschlechts

Du redest von der rechtlichen und nunmehr gesetzmäßigen Anerkennung von Menschen, die biologisch weder eindeutig Mann noch Frau sind?

Ja, genau. In meinen Beiträgen zur diskriminierungsfreien Ansprache von Menschen in Stellenanzeigen unter Einbezug des dritten Geschlechts, „divers“ genannt, sowie im Rahmen der FAQ zum dritten Geschlecht, habe ich entsprechende Hinweise gegeben und mir dazu ausführlich Gedanken gemacht.

In Summe haben alleine die drei Beiträge zum dritten Geschlecht auf meinem Blog innerhalb eines halben Jahres übrigens bereits 98.000 (!) Menschen erreicht.

Oha, dann ist ja so einiges los auf Deinem Blog…

Und in den Kommentaren zu den genannten Beiträgen kommt zum Teil das zum Ausdruck, was ich oben mit Genderwahnsinn meine: Nicht immer sehen es die Menschen positiv, wenn es um Gleichberechtigung, Anerkennung von Rechten oder Anforderungen an Political Correctness geht.

Es handelt sich in jedem Fall um ein sehr emotionsgeladenes Thema. Und HR steht mittendrin und muss sich zu den Auswirkungen Gedanken machen.

Frauen diskriminierende Algorithmen im behördlichen Einsatz

Ähnlich emotional diskutiert wird ja auch ein aktuelles Thema in Österreich, bei dem einer Behörde vorgeworfen wird, einen frauenfeindlichen bzw. Frauen diskriminierenden Algorithmus einzusetzen. Wie siehst Du die Situation?

Vielleicht erläutere ich erst einmal, worum es konkret geht: Der Arbeitsmarktservice (AMS), vergleichbar mit der Bundesagentur für Arbeit in Deutschland, setzt ab 2019 einen Algorithmus ein, um für die Jobvermittlung eingesetzte Steuergelder fokussierter verwenden zu können. Dabei werden von der Software drei Gruppen von Jobsuchenden klassifiziert. Solche mit guten, mittleren und schlechten Perspektiven, eine Arbeit zu finden. Durch den verstärkten Einsatz von Mitteln für die Gruppe mit der mittelguten Perspektive, sollen die knappen Budgetmittel effizienter eingesetzt werden. Soweit so gut.

Aufreger ist die Tatsache, dass zur Ermittlung der Vermittlungsperspektiven zahlreiche Eigenschaften der Jobsuchenden herangezogen werden, die nach Ansicht der Entwickler einen Einfluss auf die Vermittelbarkeit haben. Dies sind neben dem Wohnort, dem Ausbildungslevel, gesundheitlichen Beeinträchtigungen sowie dem Alter, auch geschlechtsbezogene Merkmale. Konkret erhalten Frauen einen generellen Abzug bei der Vermittelbarkeit. Auch führen zum Beispiel Betreuungspflichten zu einer Chancenverschlechterung – aber nur bei Frauen.

Betreuungspflichten haben bei Frauen negative Auswirkungen auf die Jobperspektive

Wieso denn das?

Es geht dabei vor allem um Statistik. Das System geht von Betreuungspflichten aus, wenn jemand in Karenz war oder eine Geburt hatte. Und Betreuungspflichten erschweren statistisch bewiesenermaßen den Wiedereinstieg in einen Job. Allerdings nur bei Frauen. Bei Männern hätten Betreuungspflichten statistisch gesehen keine Folgen für die Jobperspektive. Dies erklärte der Betreiber der Software, der zur Entwicklung seines Algorithmus die Daten und historischen Erfolgsaussichten von etwa 900.000 Arbeitslosen verarbeitet hat. Die Trefferquote (=Prognosequalität) der Algorithmen-basierten Software soll hier bei 85% liegen.

Stellenwert von effizienter Verwendung von Steuergeldern vs. Gleichberechtigung

Da kann ich verstehen, dass die Gemüter hochkochen.

Mit reinem Blick auf die Tatsache, dass Frauen durch diese Kategorisierung tendenziell weniger Fördermittel erhalten, stimme ich zu. Allerdings muss man auch Folgendes berücksichtigen: Die Software bzw. der Algorithmus diskriminiert nicht per se. Er erkennt ein Muster und schlussfolgert daraus eine Konsequenz mit einer recht hohen statistischen Wahrscheinlichkeit. Die eigentliche Diskriminierung erfolgt an anderer Stelle: Nämlich dadurch, dass Frauen in Bewerbungsprozessen in der Realität schon seit Jahren mit schlechteren Chancen zu kämpfen haben.

Aber der Algorithmus bestätigt diese tatsächliche Diskriminierung ja noch und verfestigt die Ursachen…

Diskriminiert der Algorithmus oder der Mensch dahinter?

Ja und nein. Mit dem Algorithmus sollen knappe Budgetmittel für die Jobvermittlung bestmöglich eingesetzt werden. Der Algorithmus erkennt Zusammenhänge und geschlechtsspezifische Unterschiede in der Realität und bewertet sie mit der genannten Zielsetzung erst einmal korrekt. Er bewertet die realen Vermittlungschancen höher als eine (letztlich in der Realität nicht vorhandene, aber gewollte) Gleichbehandlung.

Natürlich könnte man umgekehrt argumentieren, dass der Algorithmus nicht auch noch zum Nachteil von Frauen gereichen kann, wenn sie eh bereits diskriminiert werden. Dann würde man allerdings die in der Realität vorhandenen Folgen der Diskriminierung durch Unternehmen bewusst ignorieren und der Gleichbehandlung den Vorzug geben vor einer höchstmöglichen Effizienz bei der Budgetverteilung.

Insofern ist es eher eine Frage, welcher Zielsetzung die Behörde am Ende den höheren Stellenwert einräumt. Die Diskriminierung der Frauen im Bewerbungsprozess wird dadurch allerdings in keinem Fall auch nur einen Deut verbessert.

Ein ziemlich kniffliges Thema, das deutlich zeigt, dass der Einsatz von Algorithmen alleine weder für Gerechtigkeit noch Gleichbehandlung sorgt. Es kommt auf die Interpretation und Schlussfolgerung sowie die daraus abgeleiteten Maßnahmen an.

Verfassungsmäßigkeit der Verwendung von geschlechtsspezifischen Merkmalen durch Algorithmen

Die Verfassungsmäßigkeit einer Verwendung von geschlechtsspezifischen Merkmalen durch Algorithmen wie dem des AMS wird übrigens recht prominent angezweifelt. Wer sich zu diesem Thema weiter informieren möchte, dem empfehle ich die Darstellungen auf dem Verfassungsblog.

Gendern – das neue Political Correctness Fettnäpfchen

Trauen sich Unternehmen denn überhaupt noch, solche Schlussfolgerungen zu ziehen, wenn es um geschlechtsspezifische Merkmale geht? Die Gefahr in ein Political Correctness Fettnäpfchen zu treten, erscheint mir derzeit extrem hoch.

Ich fürchte, dass die Gefahr in der Tat sehr hoch ist. Das hat wohl auch die Google-Mutter Alphabet erkannt. Denn die Produktverantwortlichen für eine Technologie zur Satzergänzung, die in Gmail eingebaut wurde, verzichtet bewusst auf geschlechtsspezifische Vorschlagstexte. So wird auf ein „I love“ zu Satzbeginn nur ein „you“ oder „it“ vorgeschlagen, nicht aber ein „him“ oder „her“. Damit soll vermieden werden, dass sich Menschen diskriminiert oder angegriffen fühlen, falls die Software das falsche Geschlecht vorschlägt.

Ist nicht Dein Ernst …?!

Doch, absolut. Der Gmail Produktverantwortliche wird zitiert mit:

„Not all screw ups are equal. Gender is a big, big thing to get wrong.“, was sinngemäß so viel heißt wie „Nicht alle Fehler sind gleich – das Geschlecht ist eine sehr sehr ernste Angelegenheit, um sich dabei zu irren.“

Diskriminierungen vermeiden lernen

Was können Personaler denn nun tun, um nicht zwischen diese hochemotionalen Fronten zu geraten?

Vor allem können Sie sich informieren über Themen wie Diskriminierung durch Sprache, Gleichbehandlung sowie Diversity. An dieser Stelle verweise ich gerne auf einen der mittlerweile annähernd 300 Downloads auf meinem HR-Studien Download Portal: Das Diversity Factbook 2018 von Charta der Vielfalt.

Wie hat sich Dein Projekt mit dem HR-Download Portal eigentlich entwickelt?

Bis zum Jahresende haben meine aktuell monatlich 40.000 Blog-Leserinnen und Leser knapp 30.000 Inhalte aus dem Portal heruntergeladen. Kostenfrei und ohne Anmeldung. Und spätestens im zweiten Quartal 2019 folgt dann die Veröffentlichung meiner ersten eigenen großen Studie, die ich zusammen mit der Universität Bayreuth und dem Hochschulmagazin audimax durchführe. Es lohnt sich also in jedem Fall, meinen Blog zu abonnieren.

Lesetipps für Personaler und Ticket-Code

Wo Du gerade schon anfängst Werbung zu machen. Magst Du noch drei Lesetipps für spannende Blog-Beiträge von Dir abgeben?

Selbstverständlich gerne. Wer sie noch nicht gelesen hat, dem empfehle ich folgende häufig gelesenen Artikel:

Du weißt doch: Werbung auf Persoblogger.de gibt es nur in Maßen und vorwiegend auf Basis von nützlichen Hinweisen. 😉

Vielen Dank für das abermals recht spannende Interview. Es freut mich immer, wenn wir uns so intensiv unterhalten können!

Dir auch vielen Dank! Und Allen da Draußen einen guten und erfolgreichen Start in 2019!

Ihr Persoblogger Stefan Scheller

Stefan Scheller

Autor und Speaker Persoblogger Stefan SchellerMein Name ist Stefan Scheller. In meiner Rolle als Persoblogger und Top HR-Influencer (Personalmagazin 05/22) betreibe ich diese Website und das gleichnamige HR Praxisportal. Vielen Dank für das Lesen meiner Beiträge und Hören meines Podcasts Klartext HR!

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Über eine Buchung als Speaker oder Moderator für Ihre Veranstaltung freue ich mich natürlich ebenso wie über das Abonnieren meines Newsletters oder gar Ihre Mitgliedschaft im PERSOBLOGGER CLUB.

DANKE!

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