Untaugliche Personalauswahlmethoden

Untaugliche Personalauswahlmethoden – Personaler, verlost Eure Jobs!

Ein provokanter Titel, zugegeben. Allerdings meine ich es durchaus ernst mit meiner These. Viele Personaler wären wirtschaftlich erfolgreicher, wenn sie die zu vergebenden Stellen verlosen, anstatt auf ihre klassischen Personalauswahlmethoden zu setzen.

Folgen Sie gerne meiner Argumentation und Sie werden verstehen, was ich meine!

Des einen Überfluss, des anderen Fachkräftemangel

Ständig wird im Zusammenhang mit dem Arbeitsmarkt das Buzzword Fachkräftemangel in den Ring geworfen. Dabei stellt sich die Situation wesentlich differenzierter dar: Während die einen Unternehmen, die vorwiegend zu den ewig Ersten der Arbeitgeberrankings gehören, mit Bewerbungen zugeschossen werden, finden andere Unternehmen nur wenig Zugang zu den Gehörgängen potentieller Bewerber. Dass eine geringe Markenstärke auch der Arbeitgebermarke ein erschwertes Entré verschafft, habe ich hinlänglich dargestellt.

Auf der Suche nach den Besten

Dass immer noch viele Unternehmenslenker in Interviews die platte Aussage treffen, man sei auf der Suche nach den Besten, wundert mich. Sollte es sich doch längst herumgesprochen haben, dass es nicht darum geht, die Besten, sondern die am besten passenden Bewerber zu finden. Wie aber erkennen Unternehmen genau diese Bewerber?

Vorqualifikation anhand der Bewerbungsunterlagen

In den meisten Recruitingabteilungen werden Bewerber zuerst anhand ihrer Bewerbungsunterlagen vorqualifiziert. Zur Verfügung stehen dafür klassischerweise insbesondere Lebenslauf, Anschreiben, Zeugnisse. Weitere Personalauswahlmethoden folgen.

Auf der Suche nach dem perfekten Lebenslauf

Nehmen wir uns zuerst den Lebenslauf vor. Wie der perfekte Lebenslauf auszusehen hat, das versuchen uns zahlreiche Ratgeber in Print und online einzureden. Wenn man, wovon man heute durchaus ausgehen sollte, als potentieller Bewerber nach „Perfekter Lebenslauf“ googelt, erhält man je nach Eingabe zwischen 537.000 und 8,2 Millionen Treffer. Auf den ersten Blick könnte man meinen, es gäbe sogar so etwas wie Modetrends (siehe Jahreszahlen bei den Google-Vorschlägen). Das ist natürlich Blödsinn und hat nur mit SEO-Optimierung zu tun.

Google-Suche nach dem perfekten Lebenslauf für Beitrag untaugliche Personalauswahlmethoden

Der „perfekte Lebenslauf“ ist kompletter Quatsch!

Knapp auf den Punkt: Einen perfekten Lebenslauf gibt es nicht, ebenso wenig wie Sie einen perfekten Recruitingprozess finden werden. Die Ratgeber zielen mit der vermeintlichen Perfektion allenfalls auf Struktur und Layout ab. Ob inhaltlich die Biografie des Bewerbers die gleiche hohe Attraktivität auf Personaler ausübt, ist dadurch keineswegs gesichert.

Vorauswahl auf Basis von Erfahrung statt Anforderungsanalysen

Studien haben mittlerweile belegt, dass 92% der Personaler einen kritischen Blick auf den Lebenslauf und das Anschreiben werfen. Allerdings gehen die Personaler bei der Sichtung der Bewerbungsunterlagen weitgehend erfahrungsbasiert vor. So sollen trotz einer relativ hohen Quote von 73% strukturierter Interviews, letztlich über 70% dennoch vorab keine verbindlich festgelegten und mit dem Fachbereich abgesprochenen Kriterien definiert haben. Das bedeutet, dass durch die strukturierten Interviews die Illusion entsteht, hochgradig auswahltaugliche Gespräche geführt zu haben. Nur helfen diese eben laut Studie nicht, um wirklich passende Profile zu identifizieren.

In meinem Allzeit-Klassiker habe ich diesen Blindflug bereits 2013 unter dem Motto Der Recruitingprozess – Drei Blinde spielen russisches Roulette ausführlich skizziert.

Fehlende Vergleichbarkeit von Noten

Möglicherweise wenden Sie jetzt ein, dass Ihr Unternehmen sehr wohl definierte Kriterien festgelegt habe, die sogar objektiv seien. Gemeint sind Noten. Dann muss ich Sie enttäuschen: Vergessen Sie die Vergleichbarkeit von Noten sofort wieder! Nicht nur, dass hinlänglich bekannt ist, dass sich Abiturnoten beispielsweise in Bayern und Hessen überhaupt nicht objektiv vergleichen lassen. Die Situation ist noch viel brisanter.

Eine weitere Studie der Uni Flensburg weist deutlich darauf hin, dass weder die Noten deutscher Hochschulen untereinander in irgendeiner Weise vergleichbar seien, noch dass die Höhe der erzielten Abschlussnoten statisch ist. Das heißt: Die Notenschnitte verändern sich fortlaufend (aktuell werden sie immer besser). Außerdem gibt es dazu noch von Studienfach zu Studienfach höchst unterschiedliche Maßstäbe. Dort wo beispielsweise eine zwei vor dem Komma bei BWL-Studenten für eine durchschnittliche Leistung ausreicht, erzielt die Mehrzahl der Juristen auf der Notenskala bis 18 gerade mal 4 Punkte!

Und jetzt sagen Sie mir bitte, dass Sie diese Unterschiede alle im Blick haben und Noten als objektivierte Auswahlkriterien valide nutzen können.

Noten sagen nichts über zukünftige Leistungen aus

Auch das haben Sie möglicherweise bereits immer vermutet oder oft gelesen: Noten sagen nichts über die spätere Leistung eines Mitarbeiters im Unternehmen aus. Oder anders formuliert: Es gibt keinen validen Zusammenhang zwischen Noten und der weiteren persönlichen Entwicklung im Unternehmen.

Konformität sticht Authentizität

Zwar ist es sinnvoll, neben der Noten alle anderen in Bewerbungsunterlagen verfügbaren Informationen zu nutzen. Einstellende Personaler unterliegen jedoch oft gängigen Vorurteilen. Leider werden diese von den gleichen Medien, die perfekte Bewerbungsunterlagen propagieren und anbieten, immer wieder verbreitet und damit zementiert.

Einen kritischen und damit kontroverse Beitrag zu diesem Thema schrieb ich im Jahr 2014 unter dem Stichwort Konformität oder Authentizität – Selfie als Bewerbungsfoto. An meiner Meinung hat sich bis heute nichts geändert.

Warum zwängen wir Bewerber in Konformität und standardisierte Rahmen anstatt sie wirklich kennenlernen zu wollen und sie so sein lassen, wie sie sind?

Untaugliche Personalauswahlmethoden bei Zweitgesprächen und Assessments

Selbstverständlich nehme ich Ihr jetzt verlautendes „Noten sind ja nur ein erstes Indiz, wir testen Bewerber deswegen noch in weiteren Stufen!“ gerne zur Kenntnis. Aber dieser Beitrag würde nicht auf Persoblogger.de erscheinen, wenn es nicht auch hier kritischen Widerspruch gäbe.

Bereits 2010, und das ist wahrlich schon eine Weile her, wurden im Rahmen einer Studie 500 Personaler  befragt. Die Wissenschaftler wollten erfahren, welche Kriterien bei der Planung von Auswahlverfahren angelegt werden. Wissen Sie, was dabei Erschreckendes herauskam? Prof. Dr. phil. habil. Uwe P. Kanning von der Hochschule Osnabrück berichtet darüber.

Wonach HR seine Personalauswahlmethoden aussucht

  • Den größten Einfluss auf die Auswahl der richtigen Methode war die Antwort auf die Frage, wie die Bewerber darauf reagieren könnten. Das ist aus Markengesichtspunkten zwar durchaus sinnvoll. Allerdings das Image eines Verfahrens als Top-Kriterien zu verwenden, ist grob fahrlässig.
  • Auf Platz zwei lagen die Gesamtkosten für die Auswahlmethode. Statt auf eine Kosten-Nutzen-Relation zu setzen, argumentierten die Personalentscheider mit den absoluten Kosten. Das Bemerkenswerte daran ist, dass die gleichen Entscheider wohl kaum die billigste und schwächste IT für ihre Prozesse einsetzen würde. Aber wenn es darum geht, die richtigen Bewerber für eine spätere (bestenfalls langjährige) Mitarbeit auszuwählen, gilt Sparen als große Tugend.
  • Ebenso fragwürdig war das Kriterium, das den Rang drei der häufigsten Nennungen erzielt hat: Die Verbreitung der Methode. Getreu dem Motto „Wenn die anderen das auch machen, kann es nicht verkehrt sein“. In diesem Zusammenhang sprechen die Forscher von einer Kreisvalidierung. Jeder glaubt, die anderen machen es richtig und umgekehrt. Alle fühlen sich bestätigt. Und alle irren.
  • Erst auf Platz vier und weit abgeschlagen folgte in der Studie das eigentlich wesentliche Kriterium: Die Validität der Methode mit Blick auf eine stabile Prognose.

Umfragen zu Personalauswahlmethoden bestätigen Fragwürdigkeit

Diese Ergebnisse wurden durch eine aktuelle Umfrage von Get Ahead unter 112 Unternehmen hinsichtlich der Auswahl von Führungskräften bestätigt. Zwar erachten über 90% der Befragten die Validität der Verfahren für besonders wichtig. Trotzdem werden noch immer Verfahren eingesetzt, „(…)deren mangelhafte diagnostische Eignung schon vor 15 von der Forschung dokumentiert wurde.“. Beispielsweise nutzt noch immer fast ein Fünftel der Unternehmen den Typentest DISG.

Keine Messung der Performance nach der Einstellung

Obwohl ich bis hierhin ein durchaus vernichtendes Zeugnis für die Recruitingprozesse in Unternehmen ausgestellt habe, könnte man entgegnen, dass die Personalauswahl ja trotzdem ganz gut funktioniert habe. Das veranlasst mich zu einer Rückfrage: Wie messen Sie denn die weitere Entwicklung der von Ihnen eingestellten Kandidaten im Zeitverlauf? Ich vermute mal, dass die Recruiter nach der Unterschrift und dem Onboarding der neuen Mitarbeiter aus dem Prozess heraus sind. Auftrag ausgeführt, Fachbereich zufrieden.

Allerdings wissen Sie selbst dann, wenn Sie eine Entwicklung der Leistungen neu eingestellter Mitarbeiter tatsächlich tracken nicht, ob von Ihnen abgelehnte Bewerber besser gewesen wären. Sprich, ob Sie wirklich die am besten passenden eingestellt haben.

Ebenfalls ungeklärt bleibt, ob Sie nur für den Fachbereich in der aktuellen Situation die passenden Bewerber eingestellt haben oder auch langfristig für Ihr Unternehmen. Dazu lege ich Ihnen meinen Beitrag Wer entscheidet über eine Einstellung nach dem Bewerbungsgespräch – die Personalabteilung oder der Fachbereich? ans Herz.

Faking als neuer Trend

Dass der Begriff Fakenews in den letzten Jahren zum Top-Unwort aufgestiegen ist, wissen Sie längst. Aber das sogenannte Faking hat als Buzzword den Auswahlprozess erreicht. Das bedeutet, dass Bewerber immer häufiger zu stark beschönigten Aussagen oder gar Lügen greifen, um ihre Chancen auf eine Einstellung zu erhöhen. Jetzt mag man einwenden, dass Personaler doch längst das Gleiche tun und schon die Employer Branding Kommunikation der Unternehmen oft eine einzige Lüge sei.

Ich möchte hier nicht tiefer einsteigen. Nehmen wir trotzdem das Thema Faking als weiteren Punkt in unsere Liste auf. Ebenfalls in die Kategorie Erschwernis bei Personalauswahlmethoden fallen negativ beeinflussenden Effekte in der Wahrnehmung der Personaler, wie z.B. der Halo-Effekt.

Störfaktoren im Personalauswahlprozess

Ich fasse nochmal zusammen. Am Finden der am besten passenden Bewerbern hindern Sie folgende Störfaktoren:

  • Fehlen festgelegter Anforderungskriterien
  • Nicht-Vergleichbarkeit vermeintlich objektiver Noten
  • Kein wissenschaftlich fundierter Zusammenhang zwischen Noten und späterer Leistung
  • Unprofessionell durchgeführte nicht strukturierte Bewerbungsgespräche
  • Fehlleitende Effekte im Bewerbungsgespräch, unter anderem auf Basis von Vorurteilen
  • Einsatz nicht valider Auswahlmethoden
  • Faking
  • Fehlende Validierung der Einstellungen im Zeitverlauf nach dem Onboarding

Und die Liste ist bei Weitem nicht vollständig, glauben Sie mir.

Fehlende Bekanntheit kostet Reichweite

Bereits vor dem klassischen Auswahlprozess von Bewerbern schränken sich Ihre Erfolgsaussichten, die am besten passenden Bewerber einzustellen, deutlich ein. Eine mangelnde überregionale Bekanntheit oder Budgetknappheit sowie generelle Wissenslücken in Punkto modernem und effektivem Personalmarketing verringern die Anzahl passender Kandidaten schon im Vorfeld. Vielleicht sitzen die am besten passenden Bewerber in einer anderen Region Deutschlands oder gar im Ausland? Wie erreichen Sie diese dann?

Die verbleibende Gesamtmenge an Bewerbern ist nur ein Bruchteil aller theoretisch möglichen passenden Bewerber. Wenn Sie mit Ihrer unspezifischen Arbeitgebermarkenkommunikation dann noch eine Vielzahl gar nicht zur Unternehmenskultur passender Kandidaten angelockt haben, vermindert sich die Anzahl weiter.

Und Sie glauben immer noch, dass Sie trotzdem die optimale Besetzung gefunden haben?

Gedankenexperiment Jobverlosung

Was glauben Sie, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, tatsächlich den Top-Kandidaten oder die Top-Kandidatin für Ihre Stelle eingestellt zu haben?

Wäre es da nicht ein Gedankenexperiment wert, komplett auf irgendwelche formalen, strukturierten oder gar wissenschaftlichen Verfahren zu verzichten und Jobs stattdessen zu verlosen? Im Rahmen der sogenannten Selbstselektion erfolgt ja trotzdem so etwas wie eine natürliche Auslese. Denn nicht jeder Jobsuchende würde sich ernsterweise auf jeden Job bewerben oder diesen gar hinterher jahrelang ausüben wollen. Vielleicht wäre die Aufwand-Nutzen-Relation sogar recht positiv.

Da ich wenig bis keine Ahnung von Statistik habe, erspare ich Ihnen hier theoretische Abhandlungen oder Modellrechnungen.

Bei Anruf Ausbildung

Wenn Ihnen diese Gedankenexperiment zu gewagt oder gar abwegig ist, dann darf ich Sie gerne auf eine Aktion des Caritasverbands Düsseldorf hinweisen. Unter dem Stichwort „Bei Anruf Ausbildung“ ging deren Ausbildungsaufruf durch die Presse. Dort wurde allen Bewerbern (m/w), die sich bei der angegebenen Hotline melden, tatsächlich und ernsthaft ein Ausbildungsvertrag angeboten. Das mag nach Verzweiflung klingen, ist es wahrscheinlich auch. Allerdings hat die Aktion hohe Wellen bei den relevanten Zielgruppen geschlagen und war damit erfolgreich.

Fazit

Möglicherweise können oder wollen Sie meinem Gedankengang nicht folgen. So hoffe ich dennoch, zumindest einen Impuls gegeben zu haben, aktuelle Standardvorgehensweisen und Auswahlmethoden im Recruitingprozess kritisch zu hinterfragen. Und vielleicht Ihren Fachbereichen klarzumachen, vor welcher immensen Herausforderung Sie als Recruitingabteilung stehen.

Nur sollten Sie mit dem Vorschlag einer Verlosung sehr sorgsam umgehen, denn ansonsten haben Sie entweder das Recruiting anschließend erfolgreich in die Hände des Fachbereich delegiert. Oder zumindest der allgemeinen Behauptung Vortrieb geleistet, Recruiting könne doch jeder.

Was denken Sie?

Und wenn Sie auf der Suche nach ein paar hilfreichen Tipps zur Optimierung Ihrer Personalauswahl sind, habe ich da so einiges auf meiner Seite.

 

Stefan Scheller

Autor und Speaker Persoblogger Stefan SchellerMein Name ist Stefan Scheller. In meiner Rolle als Persoblogger und Top HR-Influencer betreibe ich diese Website und das gleichnamige HR Praxisportal. Vielen Dank für das Lesen meiner Beiträge und Hören meines Podcasts Klartext HR!

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