Ist das Bewerbungsanschreiben tot? Nein, es wird nur falsch eingesetzt! – Eine differenzierte Betrachtung

Wie sieht eine erfolgreiche Bewerbung aus? Was müssen überzeugende Bewerbungsunterlagen beinhalten? Diese und viele weitere Fragen werden in unzähligen Bewerbungsratgebern in Print und natürlich online beantwortet. Im Zentrum neben dem Lebenslauf steht auch das Bewerbungsanschreiben.

Dabei hat die klassische Bewerbung auf eine Stellenanzeige bisher erstaunlich lange dem Wandel der Zeit standgehalten. Nunmehr, in 2016 mehren sich die Stimmen, die zumindest das traditionelle Bewerbungsanschreiben für entbehrlich ansehen. Seine Bedeutung schwindet.

Zeit für eine differenzierte Betrachtung.

Telefónica Deutschland verzichtet auf Bewerbungsanschreiben – so what?

Vor wenigen Tagen wurde ich Telefónica Deutschland angeschrieben, dass das Unternehmen zukünftig auf ein Bewerbungsanschreiben verzichten werde. Aus deren Sicht ein berichtenswertes Highlight, das sicher etwas für meinen HR-Blog sei.

Da ich jedoch aufgrund der stark gestiegenen Bekanntheit von Persoblogger.de zwischenzeitlich mehrere solcher Mails pro Tag erhalte, landete die Anfrage mit einem „Was soll daran berichtenswert sein?“ sofort im digitalen Müllkorb. Aus meiner Sicht eine von vielen Aktionen, die rein der Publicity und Vermarktung der eigenen Personalsuche dienen.

Wegfall des Anschreibens als Durchbruch der Candidate Experience?

Unter diesem Motto ist zumindest Bloggerkollege Henner Knabenreich in seinem aktuellen Beitrag auf diese Anfrage eingestiegen. „Candidate Experience“, das Modewort des Jahres 2015 muss immer noch in vielerlei Hinsicht für jedwede noch so kleine Optimierung des Recruiting-Prozesses aus Bewerbersicht herhalten.

Schön zusammengefasst hat diese Meinung zum Anschreiben der Tweet von Tom Sperschneider

tweet-sperschneider
„letter of application. candidates won´t write them, recruiter won´t read them. so why“

Die Hürden für eine Bewerbung senken

Dieser Ansicht liegt die Haltung zugrunde, dass eine Bewerbung für den potenziellen Bewerber so einfach (und schnell?) wie möglich sein sollte, um die Hürde für einen erfolgreich begonnenen Bewerbungsprozess zu senken.

Böse Zungen behaupten, dass die Vertreter der Meinung „Bewerber sollen ruhig erst einmal zeigen, dass sie wirklich zum Unternehmen wollen und sich bei den Unterlagen anstrengen“ ein Opfer des vielbeschworenen Fachkräftemangels geworden seien. Oder andersrum: Im Recruiting erfolgreiche Unternehmen senken die Bewerbungshürden, die zum Absprung von Talenten führen können, so weit wie möglich.

Die mobile One-Click-Bewerbung als Optimum der Reduktion?

Diesen Gedanken weitergedacht, landet man in der Sinndiskussion sehr schnell bei der extremsten Ausprägung einer Bewerbung, der sogenannten One-Click-Bewerbung, bei der durch minimale Mausinteraktionen z.B. Social Media Profildaten importiert oder ein Link auf das eigene Profil an ein Unternehmen gesendet werden kann. Meine Haltung zu diesem Thema habe ich bereits ausführlich in vergangenen Beiträgen dargestellt.

Fraglich bleibt, ob der Wegfall eines Anschreibens als vermeintlicher Schritt in die „richtige“ Richtung gefeiert werden sollte?

Wozu wird das Bewerbungsanschreiben heute genutzt?

Um eine Antwort auf die Sinnhaftigkeitsfrage eines Bewerbungsanschreibens abgeben zu können, hilft ein genauerer Blick auf die derzeitige Nutzung eines solchen Dokuments:

  • Adressanschreiben für Umschlag
  • Nennung des Ansprechpartners für die Bewerbung (soweit bekannt)
  • Information über die Quelle der Bewerbungsabsicht
  • Aussage, dass der nachfolgende Lebenslauf Teil einer hiermit eingereichten Bewerbung ist
  • Hinweise darauf, warum man schon immer bei diesem Unternehmen arbeiten wollte
  • Wunsch bzw. Vorfreude auf ein persönliches Vorstellungsgespräch
Weg mit dem Anschreiben? Das Bewerbungsanschreiben auf dem Prüfstand
Bewerbungsanschreiben werden häufig falsch genutzt und daher als überflüssig angesehen
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Bewerbungsanschreiben sind mehr als Formalia

Mit Blick auf diese Aufzählung scheint das Anschreiben, wie es leider allzu oft genutzt wird, tatsächlich verzichtbar. Nur um die statistische Neugier der Recruiter nach den Bewerbungsquellen zu befriedigen? Oder um immer die gleichen (häufig komplett übertriebenen) Lobpreisungen des Unternehmens durch die Bewerber „unter die Nase gerieben zu bekommen“? Sicher nicht.

Wenngleich ich behaupte, dass selbst bei der E-Mail-Bewerbung dennoch im Text ein kurzer Hinweis auf die oben genannten Punkte zu finden sein dürfte. Wer sendet eine E-Mail ohne Anrede oder Appell ab? Zwar gibt es hier nicht immer ein sichtbares Dokument „Bewerbungsanschreiben“ – Bewerber verzichten darauf aber trotzdem nicht und haben letztlich damit auch eine Art „Anschreiben“ generiert.

Bewerbungsanschreiben werden falsch genutzt

Wer ein Bewerbungsanschreiben lediglich nach der oben dargestellten Aufzählung verfasst und vielleicht noch ein im Internet zuhauf erhältliches Muster verwendet, der bleibt weit hinter den Möglichkeiten eines perfekten Bewerbungsanschreibens zurück.

Die folgenden inhaltlichen Punkte gehen Ihnen in der Bewerbung als Mitteilung an die Personaler verloren  – es sei denn, Sie schaffen es, diese Infos in den Lebenslauf einzuarbeiten:

Hinweise zur konkreten Stelle

Geben Sie im Betreff genau an, für welche Stelle Sie sich bewerben oder nennen Sie bei Initiativbewerbungen die Bereiche des Unternehmens für die Sie sich interessieren – bzw. für welche nicht

Übermitteln Sie nur Ihren Lebenslauf ohne Anschreiben, kann es für Recruiter in großen Unternehmen durchaus schwierig werden, eine korrekte Zuordnung vorzunehmen. Bewerben Sie sich beispielsweise auf eine Vertriebsstelle in Deutschland, in Österreich, in der Schweiz oder einer Kombination davon?

Auch ist die Bearbeitung einer Bewerbung im Unternehmen, die oft arbeitsteilig erfolgt, davon abhängig, eine korrekte Zuordnung erkennbar zu machen. Ansonsten entsteht eine Menge zusätzlicher Aufwand, der zu Verzögerungen in der Bearbeitung, im schlimmsten Fall gar zu einem Nicht-mehr-zum-Zuge-Kommen führt (wenn sehr viele Bewerbungen bei begehrten Jobs eingehen).

Hintergrundinformationen zum Lebenslauf

Geben Sie den Recruitern wichtige Hintergrundinformationen zu Ihrem Lebenslauf, insbesondere was das „warum?“ angeht

Dies ist deswegen so essentiell, weil Sie möglicherweise als Quereinsteiger auf einer Stelle einsteigen wollen, für die Sie explizit keine aus dem Lebenslauf ersichtlichen Vorerfahrungen mitbringen.

In meiner Rolle als Fachbereich hätte ich nach dem Lesen eines präsentierten Lebenslaufs fast einmal einen Kandidaten sofort aussortiert, bei dem ich kaum einen Bezug zur gewünschten Stelle feststellen konnte. Im Anschreiben hat der Bewerber jedoch Hintergründe für seine Bewerbung genau für diese Stelle genannt, die sein Ansinnen in einem komplett anderen Licht gezeigt haben.

Ich selbst hätte vermutlich ebenfalls keine einzige meiner Karrierestationen erreicht, wenn ich unkommentiert nur meinen Lebenslauf eingereicht hätte. Denn im Lebenslauf stand nur meine Vergangenheit – nicht aber meine gewünschte Zukunft!

Teile im Lebenslauf hervorheben

Weisen Sie besonders auf zur von Ihnen gewünschten Stelle passende Informationen in Ihrem Lebenslauf hin

Auch hier ein Praxisbeispiel: Viele international erfahrene Bewerber legen in ihrer Darstellung im Lebenslauf einen Fokus auf diese Auslandserfahrung und geben den Level ihrer vielfältigen Sprachkenntnisse an. Ohne weitere Zusatzinformation suggerieren sie damit, dass sie in der Ausübung ihres neuen Jobs eher ein internationales Umfeld bevorzugen. Auch sprechen viele berufliche internationale Aufenthalte sowie viel Reisetätigkeit dafür, dass Sie einen Job mit entsprechenden Dienstreisen bevorzugen oder dem zumindest nicht abgeneigt sind.

Was aber, wenn Sie zwischenzeitlich genug vom Reisen haben, mittlerweile lieber sesshaft werden wollen, eine Immobilie kaufen möchten, um endlich bei Ihrem Partner in einem kleinen Vorort leben zu können?

Wo bitte schreiben Sie solche Informationen hin, wenn Sie kein Anschreiben verwenden? Etwa in den Lebenslauf, a la „Das habe ich zwar mal gemacht, will es aber jetzt nicht mehr! – Ach ja, und dort war ich auch – jetzt bin ich aber lieber nur noch in meinem Heimatort!“?

Nicht im Ernst?!

Die Illusion von einer perfekten „Recruiting-Welt“

In einer „perfekten Welt“ würde ein Top-Recruiter natürlich sofort anhand des optimal geschriebenen Lebenslaufs alle möglichen Einsatzszenarien bis ins Detail prüfen und gegebenenfalls nochmal Rückfragen stellen im persönlichen Gespräch bzw. in einem Telefoninterview.

Allerdings ist die Recruiting-Welt alles andere als perfekt. Es herrschen oft Zeitdruck, Ressourcenknappheit und (vor allem in großen Konzernen) wenig Überblick über alle Einsatzmöglichkeiten für die im Lebenslauf genannten Fähigkeiten und Karrierestationen.

Sie können also gerne auf ein Anschreiben verzichten, geben damit aber immer auch Möglichkeiten der eigenen sehr individuellen Darstellung ab.

Bleibt das Anschreiben also obligatorisch?

Nein, sicher nicht. Vielmehr sollte jede Organisation überlegen, was der richtige Weg für sie ist. Soll die Bewerbungshürde geringgehalten werden, ist zu prüfen, auf was verzichtet werden kann. Das kann das Anschreiben sein. Oder auch die Zeugnisse. Oder was auch immer. Gleichzeitig müssen die Recruiter aber so viel Informationen bekommen, dass sie noch effektiv und effizient arbeiten können.

Umgekehrt sollten Sie überlegen, ob Sie sich als Unternehmen ein Anschreiben zwar wünschen, aber auch bereit wären, darauf zu verzichten. Das bedeutet für Bewerbermanagementsysteme, eine Upload-Möglichkeit für ein Bewerbungsanschreiben vorzusehen, es aber nicht zum Pflichtfeld zu erheben.

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Online-Bewerbung bei DATEV. Anschreiben als Wunsch zum Kennenlernen

Headhunting und Active Sourcing funktionieren hingegen anders

Eine komplett andere Welt finden Unternehmen übrigens, die über Headhunting oder Active Sourcing agieren. Dort ist ein Zwang zum Bewerbungsanschreiben selbstverständlich unüblich und wäre sogar kontraproduktiv, weil ja umgekehrt das Unternehmen die Ansprache unternimmt und im Laufe des Prozesses ja schlecht fragen kann „Warum haben Sie sich bei uns beworben?“ oder „Warum glauben Sie zu uns zu passen?“. Aber ich denke, das versteht sich von selbst.

Fazit

Es gibt also weder einen Grund für „Hurra, das Bewerbungsanschreiben ist tot!“-Jubel, noch für eine konservative „Bewerber müssen sich anstrengen“-Haltung. Die HR-Welt ist viel bunter!

Lasst den Unternehmen, die weiter Anschreiben haben wollen, weil sie damit vermeintlich besser arbeiten können, diese Informationsquelle. Und wer das nicht (mehr) möchte, weil er sich Vorteile verspricht, soll das entsprechend verfolgen.

Am Ende wird die Realität darüber entscheiden, welche Unternehmen ihre Vakanzen schnell und gut besetzen können. Und, jetzt mal Hand auf´s Herz: Glauben Sie wirklich, dass Anschreiben oder nicht, am langen Ende kriegsentscheidend sind?

OK, schön, dass wir mal drüber geredet haben.

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Stefan Scheller

Autor und Speaker Persoblogger Stefan SchellerMein Name ist Stefan Scheller. In meiner Rolle als Persoblogger und Top HR-Influencer (Personalmagazin 05/22) betreibe ich diese Website und das gleichnamige HR Praxisportal. Vielen Dank für das Lesen meiner Beiträge und Hören meines Podcasts Klartext HR!

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