Das Jahr 2020 wird den meisten Menschen in Deutschland vermutlich vor allem als Corona-Jahr in Erinnerung bleiben. Dabei gab es eine Vielzahl von weiteren wichtigen Themen, die dadurch in den Hintergrund gedrängt wurden. Mit der Black Lives Matter-Bewegung kam zumindest das Thema Rassismus und Alltagsdiskriminierung auch hierzulande medial an. Trotzdem zweifeln noch immer viele Deutsche, ob bei uns denn überhaupt etwas aktiv gegen Rassismus getan werden muss. Zahlreiche Studien geben spannende Einblicke. Meine persönliche Bestandsaufnahme zu diesem nicht ganz einfachen Thema.
Was ist überhaupt Rassismus?
Erstaunlicherweise ist der Begriff in der Wissenschaft nicht ganz eindeutig definiert. Vielmehr unterliegt das Wort „Rassismus“ einer ständigen Anpassung und wird zudem aus verschiedenen Perspektiven betrachtet, zum Beispiel biologisch, soziologisch oder psychologisch.
Ein aktueller Definitionsversuch der Amadeu Antonio Stiftung wäre beispielsweise
Rassismus ist eine Ideologie, die Menschen aufgrund ihres Äußeren, ihres Namens, ihrer (vermeintlichen) Kultur, Herkunft oder Religion abwertet. In Deutschland betrifft das nicht-weiße Menschen – jene, die als nicht-deutsch, also vermeintlich nicht wirklich zugehörig angesehen werden. Wenn Menschen nicht nach ihren individuellen Fähigkeiten und Eigenschaften oder danach, was sie persönlich tun, sondern als Teil einer vermeintlich homogenen Gruppe beurteilt und abgewertet werden, dann ist das Rassismus.
Wie verbreitet ist Rassismus am Arbeitsplatz in Deutschland?
Laut der aktuellen Studie „Rassismus im Kontext von Wirtschaft und Arbeit“ der Initiative Gesicht Zeigen!, EY sowie CIVEY vom Oktober 2020 haben über 20% der Befragten über 18 Jahre schon einmal eine rassistische Diskriminierung im Jobumfeld erlebt. Dabei waren rund 3% selbst Betroffene.
70,8% berichten von keinen rassistischen Diskriminierungen in ihrem Job-Umfeld. Weitere 9,1% haben dazu keine Angaben gemacht.
Befragt wurden 5.000 Beschäftigte im Befragungszeitraum vom 11. bis 21. August 2020. Die Ergebnisse gelten bezogen auf die Grundgesamtheit dabei als repräsentativ. Statistische Fehler liegen bei 2,5%
Also alles kein großes Problem?
Das AGG will Diskriminierungen vermeiden
Insbesondere wir Personaler beschäftigen uns schon von Berufs wegen stärker mit dem Thema Diskriminierung und Rassismus als andere Berufsgruppen. Dies liegt unter anderem an den Regelungen des sogenannten Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes, kurz AGG. Dieses Bundesgesetz soll „Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität verhindern und beseitigen“.
Seit 2006 wird es von Personalern leider zu häufig vor allem dazu benutzt, um Bewerberinnen und Bewerbern keine Gründe zu nennen, warum es mit der Bewerbung nicht geklappt hat. Denn das Gesetz gibt Personen, die diskriminiert werden oder zumindest stark vermuten, dass eine Ablehnung auf einer Diskriminierung beruht, einen starken Rechtsanspruch an die Hand. Konkret sieht das Gesetz eine sogenannte Beweislast-Umkehr vor. „Kläger (m/w/d)“ müssen vor Gericht lediglich die Tatsachen vorbringen, auf Basis derer nach überwiegender Wahrscheinlichkeit eine Diskriminierungshandlung erfolgt ist. Und das Unternehmen muss dann beweisen, dass diese eben gerade nicht der Fall war.
Folglich geben Personaler lieber extrem wenig Informationen an abgelehnte Bewerber, um möglichst wenig Angriffspunkte zu haben. Aus einem „Antidiskriminierungsgesetz“ wird in der Praxis also schnell ein Grund für eine bewusst negative Candidate Experience.
Aber kommt Diskriminierung und Rassismus wirklich so häufig vor?
Diskriminierung von weiblichen Kopftuch-Trägerinnen im Recruiting
Aufsehen erregt hat einen Feldversuch von Doris Weichselbaum im September 2016, den das Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit veröffentlicht hat und der durch zahlreiche große Medien ging.
Dabei wurden gleich lautende Bewerbungen an Unternehmen in Deutschland gesendet. Einziger Unterschied waren die dabei verwendeten Namen sowie die Bewerbungsfotos:
Das erschreckende Ergebnis:
Die Rückmelde-Quote unterschied sich signifikant. Bei gleicher Qualifikation im Lebenslauf erzielten Bewerbungen unter dem Namen „Meryem Öztürk“ und mit einem Kopftuch nur in 4,2% der Fälle einen Erfolg. Der Lebenslauf mit dem deutsch anmutenden Namen „Sandra Bauer“ und ohne Kopftuch war im Vergleich in fast 19% erfolgreich.
Diskriminierung und Rassismus passieren oft unterschwellig
Sind also alle Personaler verkappte Rassisten? Sicher nicht. Aber es ist nicht leicht, sich der häufig unterschwelligen subjektiven Einschätzungen und eigenen Vorurteile (englisch: bias) bewusst zu werden. Unter dem Stichwort „unconscious bias“, also eine Art unbewusstes Schubladendenken, gibt es eine ganze Reihe von Literatur. Mittlerweile kennt die Wissenschaft sehr viele mögliche Ansatzpunkte für unterschwelligen Rassismus im Alltag und am Arbeitsplatz.
Diejenigen, die zumeist am wenigsten von #Diskriminierung und #Rassismus am #Arbeitsplatz betroffen sind, bestimmen in den Chefetagen über die zu treffenden Maßnahmen. Share on XUnzählige Arten von Vorurteilen – ein Überblick
Biases kommen in vielerlei Gestalt zum Tragen. Dabei gibt es mehr Effekte, als ich hier aus dem Stand aufzählen könnte. Einen Überblick in Form einer Infografik mit 50 Biases habe ich für Sie als Download bereitgestellt. Und wenn Sie weitere Einblicke zum Thema Unconscious / Implicit Bias im Bereich Recruiting suchen, werden Sie in einem Artikel von 2021 fündig.
Rassismus über verwendete Begriffe
Immer häufiger kommt es zu einer Diskussion über Rassismus bei der Verwendung von Begriffen im Berufsalltag, die aus einer Zeit stammen, als das Bewusstsein von Rassismus noch nicht so ausgeprägt war wie heute. Und nein, wir reden hier nicht über „Befindlichkeiten“ oder gar „übertriebene political correctness“!
Meine Interview-Partnerin Lunia Hara hat in der Folge 12 meines Podcasts Klartext HR mit dem Titel „Diversity – mehr als nur Toleranz zeigen“ Einblicke in eigene Erlebnisse am Arbeitsplatz geschildert. Wir haben über die verletzende Wirkung gesprochen, die beispielsweise von der bewussten Verwendung der ursprünglichen Bezeichnung sogenannter „Schaumküsse“ (eine bekannte Süßigkeit) ausgeht.
Auch sprachen wir in den 15 Minuten darüber, warum die Frage „Wo kommst Du her?“ mit Blick auf die abweichende Hautfarbe eines Gegenübers nicht immer eine gute Idee ist. Lunia gibt dabei darüber hinaus wertvolle Tipps, wie unschöne Situationen im Arbeitsumfeld (aber nicht nur dort) vermieden werden können.
HR muss Rassismus offen entgegentreten
Wir Personaler haben bei diesem Thema eine besondere Rolle und tragen eine erhöhte Verantwortung. Unternehmen werben zwar häufig mit aufwändigen Diversity-Kampagnen und betonen ihre Offenheit. In der Praxis agieren dann aber Menschen aus sich heraus – und wir sind und bleiben als Menschen unperfekt. Aber wir sollten uns zumindest bestmöglich bemühen.
Nach der oben genannten Studie von Gesicht-zeigen haben übrigens die wenigsten Beschäftigten Angst davor, dass es ihnen Nachteile bringen könnte, wenn sie sich am Arbeitsplatz aktiv gegen Rassismus einsetzen.
Und dennoch ist es angeblich für 37% der Gesamtbevölkerung nicht wichtig, sich aktiv gegen Rassismus einzusetzen. 28% verneinen sogar die Frage, ob sie bei rassistischen Vorfällen im Unternehmen sofort ihre Vorgesetzten informieren würden.
Was muss also passieren, damit Alltagsrassismus und Diskriminierung verschwinden?
Bei allem Optimismus fürchte ich, dass ein komplettes Verschwinden von Rassismus und Diskriminierung am Arbeitsplatz reines Wunschdenken ist. Aber wir müssen auf jeden Fall mit Maßnahmen seitens HR in diese Richtung arbeiten.
Die Studienautoren geben gleich vier Ansatzpunkte für Maßnahmen mit:
- Klare und transparente Kommunikation eines Code of Conduct (Verhaltensleitlinien auf Basis von Werten)
- Integration des Themas in die Unternehmensstrategie, Einrichtung einer Beschwerdestelle (z.B. Compliance Officer)
- Fortbildungen und Trainings für die Beschäftigten (auch interkulturelle Trainings)
- Netzwerke knüpfen, sowohl innerhalb des Unternehmens als auch nach außen (auch mit Betroffenen)
Aktiver Einsatz gegen Rassismus notwendig
Gefordert sind wir alle. Denn wer möchte nicht in einem Unternehmen arbeiten, das eine offene und inklusive Kultur pflegt, in der Menschen jederzeit auf Augenhöhe zusammenarbeiten können?
Ein erster Schritt ist sicherlich die Bewusstmachung und Information zu diesem Thema. Mein Artikel hier soll seinen Beitrag dazu leisten.
Und auch innerhalb der HR-Community gibt es schon seit einigen Jahren Aktivitäten in dieser Hinsicht unter dem Motto „Love HR, hate racism“.
In diesem Sinne: Werden Sie sich der Situation bewusst und handeln Sie aktiv!
Nicht nur jetzt in der eher gefühlsduseligen Vorweihnachtszeit. Es geht um eine lebenswerte Zukunft für alle. Danke.