Wenn sich Unternehmen transformieren, nimmt im Wandel das Thema Lernen eine besondere Rolle ein. Eine sogenannte lernende Organisation zu sein, strebt auch das Nürnberger Softwareunternehmen DATEV eG an. Unter dem Hashtag #DATEVlernt sind Ziele, Maßnahmen und Ergebnisse sogar für die Öffentlichkeit via Social Media transparent. Christian Kaiser, Leiter Diversity & Transformation zeigt in seinem Artikel den Weg dieser Transformation auf – und gibt vertiefte Einblicke in eine dazu vergebene Forschungsarbeit.
In den 90er Jahren habe ich in meinem Studium in Bamberg den Begriff der „Lernenden Organisation“ erstmals kennengelernt. Er war für mich von Anfang an positiv besetzt und irgendwie vertraut. Auch wenn ich in meiner beruflichen Praxis bewusst keine konkrete Umsetzung dieser Idee erlebt habe.
Seit 2018 ist das jetzt anders. Mit dem Start meiner Tätigkeit im organisationalen Experiment „Cross Solution Center (#XSC)“ in der DATEV eG, den darauffolgenden Aktivitäten der dauerhaften organisationalen Transformationen mittels eines „Change & Transition Frameworks“ und vielfältigen Erfahrungen mit einladungsbasierten Dialogformaten ist für mich der Begriff „lernende Organisation“ konkret erlebbar geworden.
Lernprozess auf organisationaler Ebene
Unter dem Hashtag #DATEVlernt findet ein Lernprozess auf organisationaler Ebene statt. Nicht nur einzelne Mitglieder der Organisationen lernen individuell, sondern die ganze Organisation lernt.
Die laut Wikipedia Definition mit dem Begriff verbundene „Manipulation der Wissensbasis und die Aneignung verschiedener Kompetenzen durch Mitglieder der Organisation“ ist beobachtbare Realität.
Bei der Premiere des Podcasts Klartext HR habe ich mich mit Stefan Scheller auch über die Erfahrungen mit „Plattformen organisationalen Lernens“ ausgetauscht.
Wie es dazu kam:
Arbeit am System, nicht (nur) im System
Im Frühjahr 2018 entschied die DATEV eine zusätzliche Software-Entwicklungseinheit als organisationales Experiment „zu gründen“. Das ausgelobte Ziel des sogenannten Cross Solution Centers (XSC): selbstorganisierte Teams, in agiler Arbeitsweise, begleitetet durch integrierte Corporate Learning Coaches und geführt von einem Empowerment Team. Dieses sollte nicht im System, sondern am System arbeiten.
Mit Carolin Geyer durfte ich dieses Experiment kommunikativ begleiten. In unserer Einheit „Change & Transition“ haben wir regelmäßige Dialogformate (z.B. Forum XSC gestaltet als Lean Coffee) organisiert und mit allen Beteiligten im System die dauerhafte Kommunikation der Erfahrungen in allen verfügbaren intern und externen Kommunikationskanälen als zentralen Teil der Veränderungsarbeit etabliert.
Zeitgleich begannen auch im Vorstandsgremium der DATEV Überlegungen, wie sich die DATEV zukünftig aufstellen muss, um ein konkurrenzfähiges Online-Unternehmen zu werden. In einem unternehmensweiten Transformationsprozess 2018 und 2019 wurde die Aufbau- und Ablauforganisation bei DATEV grundlegend geändert.
Via Co-Creation zum Framework Change & Transition
Das wiederum erfordert ein neues Verständnis in der Herangehensweise an Veränderungsprozesse. In der Begleitung des Experiments XSC haben wir diese in Co-Creation mit Christina Grubendorfer und Reiner Kruschwitz von LEA in einem Change and Transition (kurz: CaT)-Framework in ein Modell und mit der liegenden Acht als Unendlichkeitskennzeichen in eine grafische Form gebracht:
Um die Erfahrungen auch mit anderen Akteuren in der Transformation auszutauschen haben wir die im Softwareentwicklungsbereich bereits vorhandene Kultur der „Community of Practice“ (kurz: CoP) aufgegriffen und zu einer unternehmensweiten „Community of Practice ChangeTransition“ (CoPCaT) im Enterprise Social Network eingeladen. Bis heute ist die daraus entstandene Community ein wichtiger Pfeiler der gemeinsamen Transformation.
Wir haben zudem die Energie von Barcamps im „Multiformat-Event“ DigiCamp und im CoCreationCamp als regelmäßige Dialogformate in der organisationalen Transformation etabliert, die allen Teilgeber:innen reflektierte Entscheidungen ermöglichen.
Und nach fast einem Jahr der Aktivitäten haben wir rückblickend unsere Arbeit in einen dramaturgischen Dreiklang formuliert, der seit dieser Zeit für unser Verständnis einladungsbasierter Veränderungsarbeit steht:
Change & Transition – unser Verständnis
Folgende Bestandteile hat unser Verständnis von Change & Transition bei DATEV:
- PULL-Prinzip
- konstantes Überkommunizieren
- Dialogräume
um anschließend reflektiertere Entscheidungen treffen zu können
Wir teilen die Überzeugung von Judith Muster, dass interaktive Formate nur dann hilfreich sind – bzw. „ein schärferes Schwert werden“, wenn neben Dialogformaten auch Strukturen für Verstetigung und Umsetzung gegeben sind.
Daher haben wir mit dem Open Space DATEV – orientiert an Open Space Agility von Daniel Mezick – einen Prozess etabliert, in dem die Beteiligten dezentral, selbstgesteuert und vernetzt gemeinsam Probleme diskutieren und in Experimenten an Lösungen arbeiten. Dazu laden wir alle Mitarbeitenden der DATEV zweimal im Jahr ein.
Und in Summe der Aktivitäten entsteht folgendes Transformationsbild. Es zeigt natürlich auch nur einen kleinen Ausschnitt der unzähligen weiteren #DATEVlernt Momente der Organisation.
Dieses Transformationsdesign haben Studierenden in einer Hausarbeit untersucht. Und beim initialen Barcamp vom Open Space DATEV im Januar auch als teilnehmende Beobachter:innen persönlich erlebt. Gerne lege ich Ihnen zur Vertiefung ausgewählte Ergebnisse dieser Hausarbeit ans Herz.
Forschungsarbeit zu #DATEVlernt
Und genau diese organisationale Wirklichkeit haben die drei Master-Student:innen Melanie Schäfer, David Hartmann und Adrian Hufnagel im Rahmen des Projektseminar von Prof. Dr. Karl Wilbers am Lehrstuhl für Wirtschaftspädagogik und Personalentwicklung im Fachbereich Wirtschaftswissenschaften Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität in Nürnberg untersucht.
Ihre Hausarbeit beschäftigt sich mit der Forschungsfrage inwieweit Ziele, Erfolgsfaktoren und Hemmnisse einer lernenden Organisation beim Transformationsdesign #DATEVlernt vorgefunden werden können.
Diese Forschungsarbeit zu #DATEVlernt hat mich natürlich sehr bewegt. Im Folgenden möchte ich daher einige Ergebnisse der Untersuchung herausgreifen.
Schon in der Management Summary geben die Studierenden eine erste Einschätzung:
Es wurde deutlich, dass erste organisationale Strukturen für eine lernende Organisation bereits bestehen. Die einladungsbasierten Dialogformate regen zum Wissensaustausch an und fördern gleichzeitig die Reflexionsfähigkeiten der Mitarbeitenden. Außerdem wurde deutlich, dass es die DATEV eG als oberstes Gebot sieht, kundenorientierte Lösungen zu finden und für die Partner sowie Mitglieder des Unternehmens flexibler zu sein.
Und so schreiben sie es in der Hausarbeit:
Was ist #DATEVlernt?
„#DATEVlernt steht für eine proaktive Veränderung der Organisationskultur, wobei das Transformationsdesign sukzessive und iterativ aus den letzten zwei Jahren entstand (dabei sind die Jahre 2018-2020 gemeint). Im Fokus von Veränderungen steht die breite Kommunikation, aber auch der Einbezug von Partnern der DATEV in den Transformationsprozess. Frau Bangerth macht in dem Impulsvideo klar, dass der Wandel nicht hinter geschlossenen Türen, sondern offen und transparent im Sinne einer Ko-Kreation stattfinden soll.
Mit #DATEVlernt sollen Experimentierräume geschaffen werden, um nicht nur intern, sondern auch im Austausch mit Dritten die Veränderung zu gestalten und voranzutreiben.“
„Mit #DATEVlernt soll die Zusammenarbeitskultur gefördert, die durchgängige unternehmensweite Steuerung vereinfacht und die Anpassungsfähigkeit auf interne als auch externe Impulse gestärkt werden. Im Fokus von #DATEVlernt steht die Kommunikation von Mitarbeitenden über Unternehmensbereiche hinweg. #DATEVlernt soll außerdem die Prozessorganisation von transaktionalen Teams erleichtern (Bangerth, 2020).
Da Lernen am besten im Dialog stattfindet, werden in den Dialogformaten von #DATEVlernt Informationen geteilt. Frau Bangerth hofft außerdem, dass viele Mitarbeitende mit einbezogen werden und gemeinsam überlegen, welche Themen besprochen werden müssen. Letztendlich machte es sich die DATEV eG zum Ziel, agiler miteinander zu arbeiten. Deswegen braucht es ein Design wie #DATEVlernt.“
Bezug zur lernenden Organisation
Und die Studierenden haben in ihrer Hausarbeit den Bezug zur lernenden Organisation hergestellt:
Was ist eine lernende Organisation?
„Die grundlegenden Ziele einer lernenden Organisation sind die Schaffung neuen Wissens und das Lernen aus Erfahrungen, um das Wissens- und Lernpotenzial der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu vergrößern. Infolgedessen soll die Leistungsfähigkeit des Unternehmens gesteigert werden (Dückert, 2018; HR-Lexikon der Personalwirtschaft, 2021).“
„Durch die Kombination der Aspekte Anpassungsfähigkeit und Innovationsfähigkeit wird eine Organisation veränderungsfähig, wodurch sie am Markt konkurrenzfähig bleibt und somit auf Dauer bestehen kann (meta | five, 2021).“
„Jedoch ist die Anpassung an hohe Dynamiken in einer Organisation wichtig, da hohe Dynamik in trägen Organisationen zu Überforderungen und Hektik führt, was wiederum ein Hemmnis bedeuten würde (Wohland et al., 2004, S. 53).“
Ist DATEV eine lernende Organisation?
Und die Studierenden beantworten in der Hausarbeit die Frage: „Ist #DATEVlernt eine lernende Organisation?“
„Dafür konnte der Faktor, dass es eine gemeinsame „True North“ bei DATEV geben muss und diese auch entsprechend unternehmensweit kommuniziert werden muss, sowohl durch die Ansprache von Julia Bangerth (2020), als auch durch einen LinkedIn Artikel von Carolin Geyer (2020) belegt werden. Die True North zeigt sich dabei in der Vision, dass die DATEV eine sich ständig verbessernde und partizipative Organisation sein will mit dem Ziel, immer schneller qualitativ hochwertige Lösungen bei gleichzeitig stärkerer Kundenorientierung anbieten zu können (Bangerth, 2020).“
„Darüber hinaus ist es wichtig, dass Mitarbeitende den Wert von anderen Ideen anerkennen. Dieses Verhalten konnten wir direkt bei Führungskräften beobachten, die häufig nach Feedback fragen oder neue Ideen sammeln, wobei alternative Ansichten respektiert werden. Gegenstimmen werden reflektiert beantwortet.“
„Die Tatsache, dass Führungskräfte offen zugeben, dass sie noch klassisch führen und gleichzeitig nach Erfahrungen mit neuen Führungsstilen fragen, zeigt dass der Open Space genau diesen Erfolgsfaktor fördert.“
Hemmnisse auf dem Weg zur lernenden Organisation
Aber die Studierenden verdeutlichen in ihrer Forschungsarbeit auch beobachtete Hemmnisse und verdeutlichen ihre Einschätzung:
„Hier zeigt sich ein gemischtes Bild, während manche Mitarbeitende sich beschweren, dass die DATEV zu langsam ist, geht es anderen zu schnell.“
„Für viele Erfolgsfaktoren zeigt sich ein durchwegs positives Bild, etwa beim Verständnis und der Achtung für retardierende Kräfte, der Selbstführung, der Belohnung von Engagement oder der offenen Feedbackkultur. Auch für die Kriterien, dass Mitarbeitende Risiken auf sich nehmen und Neues erkunden, sowie dass sie Probleme identifizieren und lösen und bei dem Faktor, dass auch kleine Verbesserungen aufgenommen werden, konnten wir nur positive Beispiele erkennen. „
„Das zeigt, dass (noch) nicht alle Personen bei der DATEV so arbeiten, wie es das Ziel von #DATEVlernt ist. Im Bereich Organisationskultur im Sinne einer lernenden Organisation können daher Format, Kultur und Verhaltensweisen des Open Space als Vorbild für andere Bereiche der DATEV dienen, damit durch #DATEVlernt das gesamte Unternehmen eine lernende Organisation wird.“
Die Studierenden schränken ihre Beobachtungen aufgrund des erlebten Fokus zurecht ein:
„Die meisten Teilnehmenden am Open Space sind auch ein Stück weit Vorreiter der agilen Transformation, die in der DATEV aber auch retardierende Kräfte miteinbeziehen müssen.“
Meine Freude über diese Feststellungen der Forscher:innen ist sicher nachvollziehbar:
„Die steigende Beteiligung an den Formaten von #DATEVlernt motiviert uns zu folgender Aussage: Wenn die meisten Mitglieder der DATEV bereit sind, Dialogformate, wie die des Open Space DATEV als Vorbildfunktion aufzunehmen, wird sich unserer Meinung nach eine Art Sog entwickeln, der die retardierenden Kräfte in den Bann des Change and Transitions ziehen wird.“
Empfehlungen zur Optimierung des Transformationsergebnisses
Und in der Management Summary haben die drei sehr deutliche Beobachtungen und Empfehlungen formuliert:
„Unserer Meinung nach könnten zum Beispiel Influencerinnen und Influencer eine Botschafterrolle für die agile Transformation einnehmen. Außerdem stellt sich für uns als Forschende heraus, dass einzelne Führungskräfte Innovationen nur fördern wollen, solange sie sich im Rahmen des Geschäftsmodells und des aktuellen Produktportfolios befinden. Doch genau diese Denkweise begrenzt langfristig die Möglichkeiten und damit auch die Veränderungsfähigkeit der Organisation. Hier kann weitere Forschung anknüpfen und eine detaillierte Betrachtung mit Bezug zu disruptiven Innovationen sinnvoll sein. Insgesamt ist die DATEV eG unserer Meinung nach auf einem guten Weg, da die angebotenen Dialogformate Anlass bieten, über jedes relevante Thema zu sprechen.
Deshalb sollte die Strategie #DATEVlernt als Vorbild für die Entwicklung der DATEV zu einer lernenden Organisation gesehen werden.“
Mein Fazit zu #DATEVlernt als Vorbild für eine lernende Organisation
Im Blick auf die bevorstehenden Herausforderungen einer grundsätzlichen Transformation des Produktportfolios in die Cloud bei gleichzeitig erheblichen Veränderungen in den Geschäftsprozessen unserer Genossenschaftsmitglieder und deren betreute Unternehmen ist eine „lernende Organisation“ auch die notwendige Voraussetzung für erfolgreiches Agieren im Wandel und Übergang.
Einladung zum DATEV DigiCamp und CoCreationCamp
Ich freue mich daher schon sehr auf das nächste DATEV DigiCamp im Juli und die Reflexion der Transformationsaktivitäten im dritten CoCreationCamp im November.
Und dazu laden wir externe Teilgeber:innen ganz herzlich ein!
Einblicke gibt folgendes Video zum DigiCamp:
Und wir freuen uns auch sehr darüber, dass #DATEVlernt vom CIO Magazin in der Kategorie PEOPLE für den Digital Leader Award 2021 nominiert ist.
Daumen drücken!