Sprachanalyse-Software im Recruiting einsetzen

Einsatz von Sprachanalyse-Software im Recruiting – aktueller Stand der Diskussionen

Personalauswahl als Teil des Recruitings unterlag Jahrhunderte lang ausschließlich dem Menschen. Dabei wurden seit jeher unterschiedliche Methoden und Verfahren angewendet, um die nach Meinung der Rekrutierenden bestmöglichen Bewerber zu identifizieren. Die fortschreitende Digitalisierung im HR erfasst seit einigen Jahren insbesondere das Recruiting. Neben klassischen Persönlichkeitstests kommt mittlerweile auch Sprachanalyse-Software zum Einsatz.

Wie valide sind die damit erzielbaren Resultate mit Blick auf eine optimale Personalauswahl? Einblicke in den Stand der Diskussionen.

Die am besten geeigneten Bewerber identifizieren

Personaler sehen sich häufig dem Vorurteil ausgesetzt, dass Recruiting und insbesondere Personalauswahl Jeder könne. Das stimmt insoweit, als dass tatsächlich Jeder Personen aufgrund irgendwelcher Merkmale in der eigenen subjektiven Einschätzung für geeignet halten und auswählen kann. Ob diese Auswahl jedoch im wissenschaftlichen Sinne valide ist und sich die Prognose für die Passung auf die konkrete Tätigkeit im Unternehmen tatsächlich bestätigt, steht auf einem anderen Blatt.

Ich würde sogar behaupten, dass sich Menschen nirgendwo selbst so viel in die eigene Tasche lügen wie bei der Personalauswahl.

Menschen lügen sich nirgendwo so sehr in die eigene Tasche wie im Rahmen der #Personalauswahl im #Recruiting Share on X

Denn Fakt ist vielmehr: Valide Personalauswahl, also das Identifizieren der konkret tatsächlich am besten geeigneten Bewerber (m/w/d) ist aus wissenschaftlicher Sicht eine enorme Herausforderung.

Einstellungsentscheidungen haben enorme finanzielle Auswirkungen

Ebenso unterschätzt werden in den meisten Unternehmen die enormen Auswirkungen, die eine Einstellungsentscheidung hat. Werden die am besten geeigneten Personen eingestellt, erhöht sich die Chance auf eine Produktivitätssteigerung im Unternehmen deutlich. Umgekehrt beeinflussen nicht korrigierte Fehlbesetzungen das Unternehmensergebnis über die Zeit ebenso massiv.

Der Einsatz von Methoden und Werkzeugen in der Personalauswahl muss also das Ziel haben, Fehlprognosen über die zukünftige Leistungsfähigkeit von Personen zu vermeiden und stattdessen bestmöglich valide Aussagen treffen zu können. Und ja: „Bestmöglich“ heißt dabei nicht „optimal“ oder „perfekt“. Denn der Mensch ist per se ein hochkomplexes Wesen.

Dazu noch in einer sogenannten VUCA-Welt die Zukunft mit Sicherheit voraussagen zu wollen, dürfte sowieso ein abenteuerliches Unterfangen sein.

Mit digitalen Analysewerkzeugen zu besseren Prognosen bei der Personalauswahl?

An dieser Stelle setzen eine Reihe von Dienstleistern im HR-Markt mit ihren Produkten an. Nach deren Ansicht soll beispielsweise mittels algorithmischer Analyse menschlicher Persönlichkeitsmerkmale („Affective Computing“ oder „Künstliche emotionale Intelligenz“ genannt) die Prognosequalität in der Personalauswahl gesteigert werden können.

Einige dieser Verfahren sehen sich jedoch mit einer besonders vehementen Kritik durch Wissenschaftler und Fachleute aus der Praxis konfrontiert.

Sprachanalyse-Software zur Ermittlung von Persönlichkeitsmerkmalen

Der wohl derzeit bekannteste Anbieter von Sprachanalyse-Software zum Einsatz im Recruiting dürfte die PRECIRE Technologies GmbH sein. Über die Software Precire wird eine 15-minütige Sprachprobe des Bewerbers analysiert.  Aufgrund von Wortwahl, Satzstruktur und anderen Kriterien ziehen die Algorithmen Rückschlüsse auf den Charakter des Menschen und weisen in der Analyse entsprechende Merkmalsausprägungen aus.

Dabei betont der Anbieter seit 2016, dass die Erkenntnisse wissenschaftlich fundiert seien. Im Jahr 2018 erschien gar ein eigens zu diesem Zwecke verfasstes Buch, das auf weitere Studien und Erkenntnisse verweist.

Vielfältige Kritik an der Nutzung der Sprachanalyse-Software PRECIRE

Die an der Software geübte Kritik wird zunehmend lauter. Uwe Kanning, seines Zeichens Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Osnabrück, beschäftigt sich schon einige Zeit intensiv mit Sprachanalyse-Software im HR-Umfeld. Er verweist dabei stets auf den nur geringen kausalen Zusammenhang zwischen Persönlichkeit und beruflichem Erfolg.

In einem Interview auf Human Resources Manager online formuliert Kanning dies sehr plakativ:

„Precire verwendet unter anderem Sprachprofile von erfolgreichen Menschen, um dann einen Menschen zu finden, der ein ähnliches Sprachprofil hat. Das ist so, als ob Sie einen guten Verkäufer mit Schuhgröße 47 haben und deswegen nur noch Leute einstellen, die diese Schuhgröße haben. Die Stichproben sind sehr klein und es besteht die Gefahr, dass Merkmale, die hierin zufällig auftreten, fälschlich als kausal interpretiert werden“ – also anzunehmen, dass eine bestimmte Schuhgröße der Grund sei für eine Eigenschaft oder Leistung.“.

Testrezension über die Sprachanalyse-Software PRECIRE

Eine ausführliche Testrezension zur Sprachanalyse-Software PRECIRE verfassten Prof. Lothar Schmidt-Atzert, profilierter deutscher Eignungsdiagnostiker in Zusammenarbeit mit Janina Künecke (Psychologische Hochschule Berlin) sowie Johannes Zimmermann (Universität Kassel). Die Testrezension erfolgte im Auftrag des Diagnostik-und Testkuratoriums der Föderation Deutscher Psychologenvereinigungen (DGPs und BDP) gemäß TBS-DTK (Diagnostik- und Testkuratorium, 2018).

In der Ergebnisdarstellung finden sich unter anderem folgende Text-Passagen:

„PRECIRE erfasst bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, die ansonsten mit Fragebogen gemessen werden. Es bleibt aber offen, ob damit die berufliche Eignung besser erkannt werden kann. Es fehlt sogar der Nachweis, dass PRECIRE diesbezüglich den Fragebogen ebenbürtig ist. Insgesamt ist die psychometrische Qualität des Verfahrens nicht hinreichend belegt.“.

„In der Psychologie ist die Erkenntnis fest verwurzelt, dass Ergebnisse stets methodenabhängig sind; daher ist das Vertrauen in die Ergebnisse der unzureichend dokumentierten Studien gering.“

„Die Anforderungen an die Validität sind insgesamt teilweise erfüllt.“

Datenschutzanforderungen als Minenfeld beim Einsatz von Sprachanalyse-Software

Zusätzliche Kritik am Einsatz von Sprachanalyse-Software äußert Datenschutzexpertin Rechtsanwältin Nina Diercks. Denn laut Bundesdatenschutzgesetz dürfen Daten in der Bewerberauswahl nur dann verarbeitet werden, wenn sie für die Entscheidung erforderlich sind. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn es keine gleich geeignete Methode gibt, bei der weniger Daten erhoben werden. Mit Blick auf die nur teilweise vorhandene Validität, besteht für Unternehmen beim Einsatz von Sprachanalyse-Software ein erhöhtes Risiko von Datenschutzverstößen.

In wie weit die Einwilligung der Bewerber diesen Mangel heilt, ist fraglich. Schon deswegen, weil man mit Blick auf die Freiwilligkeit der Einwilligung der Bewerber zur Durchführung des Tests juristische Zweifel haben kann. Dies ist in etwa vergleichbar mit der Frage nach der Freiwilligkeit zur Anlage eines persönlichen Accounts im Rahmen der Bewerbung.

Sprachanalyse-Software ist eine Black Box

So verlockend der Einsatz von Sprachanalyse-Software bei der Personalauswahl im Recruiting auch sein mag, wirft sie doch erhebliche Fragen auf. Aufgrund der verwendeten Technologie sowie der (bei PRECIRE) bislang unzureichend ausführlichen Dokumentation der Funktionsweise, bleibt Sprachanalysesoftware weiterhin eine Black Box.

Mit Blick auf die Richtlinien des Ethik-Beirats HR-Tech würde ein Einsatz im Unternehmen möglicherweise bereits am Fehlen der sogenannten Subjektqualität scheitern. Je nachdem, ob die Ergebnisse einer Sprachanalyse willentlich beeinflussbar sind. Hier gehen die Meinungen auseinander. Mehr dazu in meinem Blogbeitrag zu Ethik beim Einsatz von künstlicher Intelligenz im Recruiting.

Auch die Frage nach möglichen (AGG-relevanten) Diskriminierungen ist umstritten. Während der Anbieter die Möglichkeit einer Diskriminierung durch die Algorithmen vehement abstreitet, lässt sich ein Zusammenhang zwischen dem Geschlecht und der vermehrten Verwendung gewisser Worte dennoch ableiten. Insofern spiele nach Ansicht der Kritiker das Geschlecht bei der Auswertung schon eine Rolle – Diskriminierungen seien daher auf jeden Fall möglich.

Sprachanalyse als ergänzendes Verfahren

Auf eine Sprachanalyse muss allerdings deswegen nicht per se verzichtet werden. Sie sollte jedoch auf keinen Fall alleine den Ausschlag für eine Einstellungsentscheidung von Bewerbern geben. Untergeordnet und ergänzend kann eine Anwendung zusammen mit hochstrukturierten Interviews, Leistungstests oder Intelligenztests sowie Arbeitsproben einen abgrenzbaren Mehrwert liefern.

Sprachanalyse-Software außerhalb der Personalauswahlentscheidung

Anscheinend hat der Anbieter nach der sich immer stärker formierenden Kritik sowie der Verleihung des „Big Brother Awards 2019“ an PRECIRE nunmehr selbst sein Produkt neu ausgerichtet. So findet sich auf der Website aktuell kein Hinweis mehr auf den Einsatz der Sprachanalyse-Software bei der Personalauswahl im Rahmen des Recruitings.

Stattdessen werden nur noch folgende Einsatz-Szenarien genannt:

  • Live-Analyse Ihrer Marketingtexte
  • Persönlicher Wirkungs-Check
  • E-Mail Assistent für die tägliche Kommunikation
  • Wirkungstraining für Führungskräfte und Mitarbeiter

Auch der im kritischen Beitrag von Auswahldiagnostik-Experte Jo Diercks (Cyquest) dargestellte Test der verlinkten „Speech-Demo“ führt nur noch auf einen 404-Fehler. Sprich: Die Zielwebsite ist nicht (mehr) vorhanden.

Personalauswahl zeigt eine große Kluft zwischen Theorie und Praxis

Im Beitrag „Die Kluft zwischen Wissenschaft und Praxis in der Personalauswahl“ zeigten Lena Funk (Ludwig-Maximilians-Universität München), Prof. Dr. Jens Nachtwei (Hochschule für angewandtes Management, Fakultät Wirtschaftspsychologie, Berlin) und Prof. Dr. Klaus Melchers (Universität Ulm) in der Zeitschrift PERSONALquarterly bereits in Ausgabe 3/2015 auf, welche Herausforderungen es zu meistern gilt.

Validität versus Einsatzhäufigkeit von Auswahlverfahren im Personalwesen
Quelle: PERSONALquarterly; Personalauswahlverfahren Einsatzhäufigkeit versus Validität (eigene Darstellung)

Die Grafik zeigt deutlich, dass sehr valide Personalauswahlverfahren in der Praxis deutlich wenig angewendet werden, als nicht valide.

Betrachtet man die ebenfalls im Rahmen der Studie erhobene Richtung der mittleren Abweichungen genauer, zeigt sich, dass sowohl die befragten Studierenden als auch die Personaler die Validität von Assessment Centern, Persönlichkeitstests und unstrukturierten Interviews eher überschätzen. Die Validität von Intelligenztests, Fachwissenstests und strukturierten Interviews  wird hingegen häufiger unterschätzt.

Als Erklärungsversuch kommt vor allem das faktische Unwissen der Anwender in der Praxis in Frage, da sich kaum Korrelationen zwischen den Validitäts-Einschätzungen durch Personaler und den tatsächlichen Validitäts-Messungen der Wissenschaft nachweisen lassen. Wenn das mal keine bittere Erkenntnis ist!

Entschuldigend wirkt allenfalls, dass viele HR-Praktiker kaum wissenschaftliche Fachzeitschriften lesen und somit über derzeitige wissenschaftliche Erkenntnisse gar nicht informiert sein können. Zudem schlägt das verbreitete wissenschaftliche Erfolgsparadigma zu, möglichst häufig in hochrangigen englischsprachigen Wissenschaftszeitschriften zu publizieren, seltener hingegen in deutschsprachigen Praxiszeitschriften.

Aufklärungsarbeit zu erfolgreicher Personalauswahl im Recruiting erfolgsentscheidend

Mit den zunehmenden Möglichkeiten im Rahmen der Digitalisierung von HR steigt der Bedarf an Aufklärung sogar noch weiter an. Denn wenn Anbieter auf dem HR-Markt Lösungen anbieten können, ohne dass die Personaler deren Validität auch nur annähernd einschätzen können, gerät die Arbeit der Personalabteilungen noch stärker in Schieflage.

Denn nur weil etwas möglich ist und vermeintlich über Augenscheinvalidität Ergebnisse liefert, bedeutet das nicht, dass die Personalauswahlentscheidung mittels Technologie auch nur einen Deut besser wird.

RecruitingRebels wollen Auswahlentscheidungen verbessern

Aus diesem Grund wurde am 23. Oktober 2019 in Stuttgart der Verein recruitingrebels gegründet. Zweck des Vereins ist es, wissenschaftlich fundierte Verfahren in der Personalauswahl zu fördern und massiv Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben.

Stefan Scheller

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