Immer häufiger werben Unternehmen in Stellenanzeigen mit Vertrauensurlaub. Versprechen wie „Mache Urlaub, soviel und wann Du möchtest!“ sollen Bewerber anlocken. Steckt hinter Vertrauensurlaub ein modernes und noch unterschätztes Employer Branding Werkzeug? Oder handelt es sich eher um einen kurzfristig wirksamen Personalmarketing-Gag? Einblicke in das Konstrukt Vertrauensurlaub.
Was bedeutet Vertrauensurlaub?
Im Kern deutet Vertrauensurlaub den Verzicht auf explizite und zu genehmigende Urlaubsanträge sowie das Fehlen eines Urlaubscontrollings durch den Arbeitgeber. Stattdessen setzen Unternehmen auf eine verantwortungsvolle Gestaltung der Zeitautonomie durch ihre Mitarbeiter. Häufig meint Vertrauensurlaub auch unbegrenzten Urlaub bzw. eine Urlaubs-Flatrate.
Wie steht Vertrauensurlaub zu Vertrauensarbeitszeit?
Sowohl Vertrauensarbeitszeit als auch Vertrauensurlaub ergänzen sich. Denn wenn es keine Kontrolle der urlaubsbedingten Abwesenheiten mehr gibt, fällt häufig auch die Arbeitszeitaufschreibung oder Messung. Ansonsten wäre durch die Hintertür das Konzept der Vertrauensarbeit gleich wieder aufgeweicht. Auf Basis der dokumentierten Arbeitszeit ließe sich nämlich nach Abzug von Krankheitstagen die (urlaubsbedingten) Abwesenheiten trotzdem errechnen und festhalten.
Status quo von Vertrauensurlaub in Deutschland
Nach dem Bundesurlaubsgesetz (BUrlG) stehen Arbeitnehmern bei einer Vollzeitbeschäftigung im Rahmen einer 5-Tage-Woche 20 Tage gesetzlicher Mindesturlaub zu. Durchschnittlich ergänzen Unternehmen diesen Anspruch auf rund 28 Urlaubstage, die deutschen Arbeitnehmern zur Verfügung stehen. Vertrauensurlaub verzeichnet eine starke Steigerung, ist aber in Summe eher noch eine Seltenheit.
Vertrauensurlaub boomt – allerdings noch auf geringem Niveau
Die Plattform Joblift hat 14 Millionen Stellenanzeigen der vergangenen zwei Jahre analysiert und festgestellt, dass Vertrauensurlaub in Deutschland derzeit von 132 Arbeitgebern angeboten und in deren Ausschreibungen explizit beworben wird. Damit sei das Angebot im letzten Jahr laut Analyse um 25% gestiegen.
Stellen mit Vertrauensurlaub werden schneller besetzt
Zusätzlich habe die Untersuchung nach Aussage von Joblift gezeigt, dass die durchschnittliche Besetzungsdauer von Stellen inklusive Zusicherung von Vertrauensurlaub mit 22 Tagen bei der Hälfte der 44 Tage ohne eine Angabe von gewährtem Vertrauensurlaub lag.
Gemessen wurde jedoch lediglich die Dauer der Anzeigenschaltung. In wie weit die Stelle tatsächlich besetzt wurde oder wie lange die gefundenen Bewerber in der Anstellung blieben, lässt sich dabei nicht erkennen.
Welche Vorteile bringt die Einführung von Vertrauensurlaub?
Vorreiter bei der Einführung von Vertrauensurlaub waren US-Unternehmen wie Netflix. Im Rahmen der Flexibilisierung von Arbeitszeiten und Arbeitsorten wurde versuchsweise komplett auf die Erfassung von Zeiten verzichtet. Dies sparte dem Unternehmen Kosten für bürokratische Überwachungstätigkeiten und stärkte gleichzeitig die Flexibilität der Arbeitnehmer bei der Nutzung ihrer Lebenszeit.
Neben einem höheren Freiheitsgefühl des Einzelnen führe Vertrauensurlaub gleichzeitig zu einem höheren Commitment der Mitarbeiter und damit zu einer stärkeren Bindungswirkung. Das Employer Branding könne demnach deutlich profitieren. So die Befürworter.
Welche Bedeutung hat Arbeitsleistung und Bezahlung im Rahmen von Vertrauensurlaub?
Wenn keinerlei Zeiten mehr dokumentiert werden, benötigt es eine andere Basis, auf der Arbeitnehmer für ihren Einsatz entlohnt werden. Diese Basis für die Entlohnung ist das Arbeitsergebnis. Mitarbeiter werden nicht länger daran gemessen, wie lange sie für ihre Aufgabenbewältigung benötigen. Stattdessen zählt nur das Endergebnis.
So nachvollziehbar und sinnvoll dies auf den ersten Blick erscheint, wirft der Fokus auf die Arbeitsergebnisse weitere Fragen auf. Allen voran: Wie werden diese Arbeitsergebnisse konkret gemessen? Insbesondere in einer agilen Welt, bei der zunehmend die Ergebnisse des Einzelnen im Vergleich zum Gruppen- oder Unternehmensergebnis in den Hintergrund rücken und klassische individuelle Zielvereinbarungen ein Auslaufmodell scheinen.
Bedeutet die Einführung von Vertrauensurlaub den kompletten Steuerungsverlust?
Die Befürworter von Vertrauensurlaub führen dazu an, dass die Steuerung von Arbeitszeit und Urlaubszeit sich nur verlagere. Vom Unternehmen beziehungsweise der Führungskraft weg und hin zur Mitarbeitergruppe. Konkret steuern sich Teams durch interne Absprachen untereinander selbst. Gruppendynamische Effekte inklusive.
Gleichzeitig besteht die konkrete Erwartungshaltung des Arbeitgebers, dass die Mitarbeiter ihre Abwesenheiten so regeln, dass die betrieblichen Abläufe dadurch nicht gestört werden. Das heißt: Sind dringende Projektaufgaben zu einem nahenden Stichtag zu erledigen, sollten Urlaube im betrieblichen Interesse zu dieser Zeit hintan stehen.
Vertrauensurlaub setzt auf Selbstverantwortung und Selbststeuerung
Diese Selbstverantwortung und Selbststeuerung ist in vielen Unternehmen bereits im Unternehmensleitbild sowie den Unternehmenszielen verankert. Zumindest theoretisch. In der Praxis herrscht vor allem in größeren Unternehmen ein klassisches Command-and-Control-Verständnis vor. Dies hat auch mit dem zugrundeliegenden Bild von Führung und den nicht zeitgemäßen Auswahlverfahren von Führungskräften zu tun.
Aber selbst wenn den Mitarbeitern diese Verantwortung für die eigene Steuerung von Arbeitszeit und Urlaubszeit tatsächlich übergeben werden würde, lässt sich das Konzept des Vertrauensurlaubs nicht überall gleichermaßen leicht umsetzen. In größeren Unternehmen, bei denen Arbeitsergebnisse nicht nur innerhalb eines Teams erbracht werden, sondern abteilungsübergreifende Abhängigkeiten bestehen, wird diese Selbststeuerung schnell sehr komplex. Insbesondere wenn es keine zentral dokumentierten Aufzeichnungen gibt, die eine übergreifende Urlaubsplanung erleichtern. Dies ist der Einstieg in eine Wiederaufnahme der Dokumentation von Abwesenheiten – heute auch Urlaubskalender genannt.
Grenzen der Selbststeuerung je nach Tätigkeit und Branche
Zusätzlich gibt es Branchen und Tätigkeiten, bei denen die Selbststeuerung natürlicher erscheint als bei anderen. Einen vermeintlich einfacheren Zugang dazu sollten Unternehmen mit vorwiegend kreativen oder projektartigen Tätigkeiten haben, beispielsweise im Agentur-Geschäft. Nehmen wir hingegen beispielsweise klassische Kundenhotlines, die Arbeit am industriellen Band, den Werksschutz oder die Unternehmensgastronomie, ist die Selbststeuerung eine deutlich höhere Herausforderung. Das hat auch mit der Mentalität der jeweiligen Mitarbeiter sowie den gewohnten Arbeitsweisen zu tun.
Teilweise spielen sich bereits heute Dramen sich in Unternehmen ab, wenn es um das Freinehmen von Brückentagen zwischen Feiertag und Wochenende oder den Schulferien geht. Häufig müssen Führungskräfte dazu klare Vorgaben machen oder sogar eine Entscheidung zugunsten von Mitarbeitern bzw. zuungunsten anderer treffen, da die Einigung untereinander festgefahren ist.
Selbstverantwortung und Selbststeuerung erfordern besondere Fähigkeiten. Soziale Kompetenz und emotionale Intelligenz gewinnen massiv an Bedeutung.
Umgang miteinander innerhalb der Teams entscheidend
Wie werten Mitarbeiter und Führungskräfte das Verhalten von Kolleginnen oder Kollegen, die sich aus ihrer Sicht überdurchschnittlich viel Urlaub nehmen? Werden sie als Schmarotzer des Systems Vertrauensurlaub gebrandmarkt oder sind sie gar Vorbilder für eine herausragend effiziente Arbeitsbewältigung? Unterstellt man ihnen, zu wenige Aufgaben zu haben und legt gar eine zusätzliche Schippe auf? Dies würde vermutlich im Ergebnis zu mehr Dienst nach Vorschrift führen und den positiven Employer Branding-Effekten, auf die Vertrauensurlaub abzielt, entgegenwirken.
Das Gerechtigkeitsempfinden der Menschen ist subjektiv und extrem stark ausgeprägt. Lassen sich auf Dauer tatsächlich Schattenbuchhaltungen durch Mitarbeiter vermeiden, die sich ungerecht behandelt fühlen, weil sie sich in den gruppendynamischen Prozessen nicht durchsetzen konnten?
Zumindest muss es Mechanismen geben, um im Zweifelsfall eine Lösung bzw. Deeskalation zu erreichen. Vielleicht findet gar der Feelgood-Manager hier eines seiner Aufgabenfelder?
Rechtliche Grenzen von Vertrauensurlaub
Auch der Gesetzgeber trägt mit seinen bisherigen Regelungen nicht unbedingt zur Steigerung von Eigenverantwortung und Selbststeuerung in Unternehmen bei. Denn das Arbeitszeitgesetz macht sehr klare Vorgaben, wie lange Mitarbeiter am Stück arbeiten und wie lange die Erholungspause dazwischen sein muss.
Der #Gesetzgeber trägt nicht unbedingt zur #Steigerung von #Eigenverantwortung und #Selbststeuerung in #Unternehmen bei. Share on XBedenklich finde ich persönlich die Entwicklung, dass Unternehmen die in der Tat veralteten Regelungen des Arbeitszeitgesetzes in der Praxis zunehmend einfach ignorieren. Begründung: Diese passten nicht mehr in unsere moderne Zeit und seien eher hinderlich als förderlich für Unternehmen und Arbeitnehmer. Das mag so sein, trotzdem gelten diese Gesetze noch.
Zu bewältigende Themenstellungen bei Vertrauensurlaub
Hier nur einige wenige beispielhafte Themenstellungen, die eine Einführung von Vertrauensurlaub zusätzlich mit sich bringt:
- Der Arbeitgeber würde rein faktisch nicht mehr aus der Entgeltfortzahlung nach Ablauf der verpflichtenden 6 Wochen entlassen, da Mitarbeiter im Anschluss einfach bezahlten Urlaub nehmen könnten. Die maximale (Aus)Nutzung des Vertrauensurlaubs kann das Unternehmen hingegen nicht ohne Weiteres sanktionieren.
- Umgang mit Versicherungsschutz im Rahmen von Arbeitsunfällen durch die Berufsgenossenschaft wenn Arbeitszeit und Urlaubszeit ineinander verschmelzen und keine Dokumentation erfolgt.
- Umgang mit dem Vertrauensurlaub bei Kündigung des Arbeitnehmers. Dieser könnte bis zum Ablauf der Kündigungsfrist einfach vom unbegrenzten Urlaubsanspruch Gebrauch machen und seinen Arbeitsplatz von heute auf morgen verlassen.
Gefahr der Selbstausbeutung durch Vertrauensurlaub
Skeptisch argumentieren auch Betriebsräte und Gewerkschaften sowie Arbeitswissenschaftler in Bezug auf Vertrauensurlaub. Studien hätten ergeben, dass Mitarbeiter mit Vertrauensurlaub tendenziell eher zu wenig Urlaub machen als zu viel. Dies liege am hohen sozialen Druck aus der Gruppe. Und der Erwartungshaltung des Arbeitgebers, die anstehenden Aufgaben selbstverständlich trotzdem zeitnah zu erledigen.
Und schauen wir mal auf die Unternehmenspraxis:
Die wenigsten Arbeitnehmer dürften über schlechte Auslastung oder Langeweile im Büro klagen. Vielmehr steigt die Arbeitsbelastung und der gefühlte Stress in den letzten Jahren deutlich an. Überstunden sind an der Tagesordnung – oftmals ohne die Chance auf einen Freizeitausgleich. Urlaubsüberträge auf das nächste Jahr werden häufiger.
Ist das Locken mit „Urlaub so viel und wann Du möchtest!“ dann überhaupt seriös?
Arbeitgeber haben Arbeitnehmer von Gesetzes wegen vor Überlastung und Überarbeitung zu schützen und müssen daher u.a. zumindest auf die Einhaltung des gesetzlichen Mindesterholungsurlaubs achten. Bei Vertrauensarbeit durchaus eine Herausforderung.
Wie stehen deutsche Arbeitnehmer zum Vertrauensurlaub?
Der XING-Urlaubsreport 2018 als Teil der alljährlichen repräsentativen Studie „Kompass Neue Arbeitswelt“ des Marktforschungsinstituts marketagent.com, wertete eine Befragung von 1015 deutschen Arbeitnehmern zum Vertrauensurlaub aus. Danach sieht eine knappe Mehrheit von 51% das Thema positiv und glaubt an eine praktische Umsetzbarkeit. Wie zu erwarten war, werden diese positiven Stimmen deutlich von jüngeren Arbeitnehmern getragen.
Erschreckenderweise gaben fünf Prozent der Befragten an, dass sie mit lediglich fünf Tagen Urlaub im Jahr auskommen würden. Das ist jedoch auf das Befragungsdesign zurückzuführen. Denn diesem liegt die Annahme zugrunde, dass die Mitarbeiter die bestehenden Arbeitsaufgaben durch den Vertrauensurlaub trotzdem erledigen müssen. Jeder Zwanzigste scheint sich mit mehr als fünf freien Tagen pro Jahr schon nicht mehr dazu in der Lage zu sehen.
Wer setzt in Deutschland bereits auf Vertrauensurlaub?
Die Anzahl der Unternehmen, die mittels Internet-Recherche zu finden sind, ist eher überschaubar. Darunter finden sich unter anderem das Startup Casper, die Hamburger Agentur Elbdudler oder der Carsharing-Anbieter SnappCar.
Die Berliner Kreativagentur eShot stellt das Modell Vertrauensurlaub nach sechs Jahren Anwendung derzeit in Frage. Hintergrund ist das starke Anwachsen des Unternehmens auf knapp 100 Mitarbeiter. Bei dieser Größenordnung übersteige der Aufwand zur Aufrechterhaltung des Vertrauensurlaubs mittels eigenverantwortlicher Abstimmungen untereinander, die damit verbundenen Vorteile. Die Unternehmensleitung überlege, ob sie Anfang 2019 wieder zum klassischen Modell zurückkehre. Immerhin biete eine feste Zahl an Urlaubstagen auch Sicherheit und Struktur, so Mitgründer Christian Thum in einem Interview des Onlinemagazins ze.tt.
Fazit zum Thema Vertrauensurlaub
Das Thema Vertrauensurlaub hat eine hohe Faszination. In Stellenanzeigen wirkt es per se erst einmal als positives Merkmal in puncto Unternehmenskultur. Bei genauerer Betrachtungsweise bedarf es für eine erfolgreiche Einführung jedoch zahlreicher Regelungen im Vorfeld. Der Abschluss einer entsprechenden Betriebsvereinbarung mit dem Betriebsrat empfiehlt sich definitiv. Auch muss festgelegt werden, wie der Arbeitgeber trotzdem seinen gesetzlichen Pflichten nachkommt und was das für den Arbeitnehmer bedeutet.
Werden diese Voraussetzungen beachtet und ist die Unternehmenskultur insgesamt reif für diesen hohen Grad an Selbstverantwortung und Selbststeuerung, kann Vertrauensurlaub ein relevantes Differenzierungsmerkmal im Rahmen des Employer Brandings werden. Mit dem Begriff um des Effektes willen vorschnell im Rahmen von Stellenausschreibungen zu werben, dürfte jedoch nach hinten losgehen. Die Hausaufgaben für eine erfolgreiche Umsetzung von Vertrauensurlaub sollten vorher unbedingt abgeschlossen sein.
Neben dem XING-Urlaubsreport steht eine weitere spannende Infografik zum Umgang von Arbeitnehmern mit Urlaub auf dem HR-Studien Download Portal zum kostenfreien Herunterladen bereit.
Und wie stehen Sie zum Thema Vertrauensurlaub?