Den eigenen Recruitingprozess jetzt kritisch hinterfragen, denn das Thema Ghosting wird für zahlreiche Unternehmen zum neuen Alltag. Meine Thesen dazu: Das kurzfristige „Verschwinden und Abtauchen von Bewerbenden“ wird stark zunehmen. Und zukünftig stellt nicht mehr der beste Arbeitgeber auf dem Markt stark gesuchte Talente ein, sondern der schnellste. Der Druck auf die Recruitingprozesse wächst immens.
Was bedeutet Ghosting durch Bewerber im Recruitingprozess?
Ghosting im Recruitingprozess bezieht sich darauf, wenn Bewerbende plötzlich den Kontakt zu einem potenziellen Arbeitgeber abbrechen, ohne eine Erklärung oder Entschuldigung zu geben. Sie tauchen -wie ein Geist- einfach unter und „verschwinden“.
Ghosting im Bewerbungsprozess kann verschiedene Formen annehmen, zum Beispiel
- gibt es keine Antwort mehr auf E-Mails oder Telefonanrufe des Unternehmens
- Absagen von Vorstellungsgesprächen in letzter Minute und ohne Angabe von Gründen
- keinerlei Rückmeldung nach Vorstellungsgesprächen oder Auswahlverfahren
Ein solches Verhalten ist für die Recruitingverantwortlichen im Fachbereich sowie im HR sehr frustrierend. Immerhin haben sie Zeit und eventuell auch weitere Ressourcen investiert, um die sich bewerbende Person kennenzulernen. Es hinterlässt in jedem Fall einen faden Beigeschmack, wenn Bewerber:innen ohne Erklärung verschwinden.
Gründe für Ghosting durch Bewerber
Es gibt verschiedene Gründe, warum Bewerber:innen die Kommunikation komplett abrechen, zum Beispiel weil sie
- ihre Meinung über das Unternehmen geändert haben und glauben, dass die Stelle nicht mehr zu ihnen passt,
- mit persönlichen oder beruflichen Problemen oder Konflikten konfrontiert sind, die sie davon abhalten, den Bewerbungsprozess fortzusetzen oder schlichtweg, weil sie
- zwischenzeitlich eine Stelle bei einem anderen Arbeitgeber angenommen haben.
Warum aber wird das Ghosting durch Bewerbende so stark zunehmen?
Der Arbeitsmarkt dreht sich weiter Richtung Arbeitnehmermarkt
Die Antwort ist naheliegend. Mit dem um sich greifenden Fachkräftemangel, der in vielen Branchen bereits Ausmaße eines Arbeitskräftemangels hat, drehen sich die Kräfteverhältnisse am Arbeitsmarkt immer weiter um. Der Arbeitnehmermarkt hält Einzug.
Zusätzlich hat sich auch die Erwartungshaltungen der jüngeren Generationen (in den Medien gerne als Generation Z und Alpha genannt) spürbar verändert. Und im Zeitalter von WhatsApp und SnapChat ist Instant-Kommunikation via Chat generationsübergreifend längst Standard.
Vergleich von Recruiting mit dem Online-Handel
Vermutlich kennen Sie das Phänomen der Ungeduld selbst auch aus dem privaten Bereich: bei Bestellungen im Online-Handel. Das Zauberwort heißt „Same day delivery“. Am Morgen bestellt, am Abend schon geliefert. Zumindest in der Theorie. Und wenn um 18 Uhr die Bestellung noch nicht eingetroffen ist, dann kann man jugendliche Familienmitglieder schon mal schimpfend auf dem Wohnzimmersofa vernehmen.
Wenn es hingegen funktioniert, sind alle glücklich. Und das tut es erstaunlich oft.
Warum aber konnten Unternehmen im Bereich Versandhandel ihre logistischen Prozesse derart stark optimieren, während Recruiting-Prozesse im Unternehmen nicht auf Tage, sondern eher auf Wochen, ja manchmal sogar Monate angelegt sind?
Da passt doch etwas nicht.
Zugegeben, eine Bestellung im Online-Shop ist kein Bewerbungsverfahren. Trotzdem stelle ich provokativ die Frage, ob Recruitingverantwortliche mit dem gleichen Eifer versucht haben, ihre Prozesse zu verschlanken und anzupassen, wie das im Versandhandel passiert ist. Und da habe ich gehörig Zweifel.
Die Geschwindigkeit im Recruiting bringt den Erfolg
Zukünftig wird aus meiner Sicht nicht mehr der Arbeitgeber die Top-Talente auf dem Markt einstellen, der objektiv am besten zu den Jobsuchenden passt, sondern derjenige, der am schnellsten ein attraktives Jobangebot unterbreitet.
Einige Arbeitgeber haben sich dieser Herausforderung gestellt. Sie führen bereits wenige Stunden nach dem Eingang einer Bewerbung eine persönliche telefonische Kontaktaufnahme durch. Im ersten Telefonat können Vorqualifizierungen sondiert und KO-Kriterien gegenseitig abgecheckt werden.
Diese Arbeitgeber punkten unter anderem damit, dass Sich-Bewerbende extrem positiv überrascht sind über so viel Engagement auf Unternehmensseite. Das zahlt sich im weiteren Bewerbungsprozess aus.
Einstellungen ohne FTE bzw. Planstelle
Blitzschnell auf dem Arbeitsmarkt zuzugreifen, wenn sich ein passendes Talent zeigt, ist für die meisten Unternehmen auch deswegen herausfordernd, weil nicht immer passende Planstellen bzw. sogenannte FTE zur Verfügung stehen. Umgekehrt bedeutet das: Haben Unternehmen ihre Personalstrategie angepasst und sind in der Lage, mit grundsätzlich gesuchten Talenten auch ohne bereits konkret genehmige Stelle ins Gespräch zu gehen, sichern sie sich einen wichtigen Zeitvorsprung.
Abstimmung mit Fachbereichen und Priorisierungen
Ein wesentlicher Zeitfaktor im Recruiting sind die beteiligten Hiring-Manager in den Fachbereichen. Klassischerweise sondiert HR die eingegangenen Bewerbungen und präsentiert diese dann dem einstellenden Fachbereich. Dieser Prozess ist besonders anfällig für zeitliche Verzögerungen. Manchmal hängt es gar an technischen Feinheiten, wie der fehlenden Freigabe für eine Vertretungsperson im Falle einer Abwesenheit der für die Einstellung zuständigen Führungskräfte im Fachbereich.
Genauso oft hat die Sichtung von Bewerbungen – oder besser: die Kontaktaufnahme mit den Bewerber:innen – nicht die notwendige Priorität. Das Tagesgeschäft von Führungskräften ist meist eng getaktet und lässt oft wenig Raum für Kurzfristigkeit.
Aber hier stellt sich die grundsätzliche Frage: Was hat mit Blick auf den gesamtunternehmerischen Auftrag Priorität? Ist das Tagesgeschäft am Ende wirklich wichtiger als eine Vakanz zu besetzen und dem Unternehmen neue Kapazitäten zur Verfügung zu stellen?
Übrigens ist das auch einer der Gründe, warum einige Unternehmen (wie auch mein Arbeitgeber DATEV) die Führungsrollen aufgeteilt hat in fachliche und personelle Führung. Dies hilft beim Setzen solcher Prioritäten deutlich.
In jedem Fall sollte es eine Vereinbarung zwischen HR und Fachbereichen geben, bis wann eine Rückmeldung zu den präsentierten Bewerbungen durch die Hiring Manager notwendig ist (eine Art „Servicelevel Agreement“). Und auch, was passiert, wenn sich die Führungskräfte im Fachbereich nicht fristgerecht mit einer Entscheidung rückmelden.
Prozessschritte und Auswahlverfahren
Den Recruitingprozess im eigenen Unternehmen höchst kritisch zu durchleuchten und als Prüfkriterium auch die Geschwindigkeit im Einstellungsverfahren herzunehmen, macht absolut Sinn. Wir diskutieren das in der HR-Szene schon seit vielen Jahren unter dem Stichwort Candidate Experience. Nur wird das Thema Geschwindigkeit auf einmal deutlich relevanter neben dem qualitativen Erleben des Recruitingprozesses.
Dazu habe ich unter dem Stichwort Candidate Journey Mapping schon vor Jahren einen immer noch aktuellen Artikel veröffentlicht.
Damit wir uns nicht missverstehen: Ich plädiere keinesfalls für beschleunigte Verfahren, die den qualitativen Aspekt gegenüber der Geschwindigkeit vernachlässigen! Aber auch ein nachfolgendes, gegebenenfalls sogar mehrstufiges Auswahlverfahren, kann zeitlich gestrafft durchgeführt werden. Hier ist allerdings Organisationstalent gefragt – und wieder die notwendige Prioritätensetzung.
Gefährlich sind in diesem Zusammenhang Sätze von Fachbereichsverantwortlichen wie „Die Person würde gut passen – aber lass uns mal schauen, ob wir nicht noch andere, ebenfalls passende Bewerbungen haben“. Das war vielleicht früher mal eine gute Taktik. Heute bedeutet das immer öfter, dass aufgrund solcher Verzögerungen Talente abspringen und dem Recruiting verloren gehen.
Prozessbeteiligter Betriebsrat
Ebenfalls zu betrachten ist die in größeren Unternehmen notwendige Mitwirkung eines Betriebsrats. Die Mitbestimmungsrechte im § 99 Abs. 1 BetrVG sind immer wieder der Grund für zeitliche Verzögerungen. Um die Rechte des Betriebsrats zu wahren und gleichzeitig einen maximal beschleunigten Prozess anzubieten, bedarf auch hier klarer Absprachen.
Ebenso hilft es ungemein, wenn Betriebsräte und Arbeitgeberseite ein sehr kollegiales Verhältnis und die gleiche Haltung mit Blick auf den zunehmenden Arbeitnehmermarkt haben. Es muss klar sein, dass beschleunigte Recruitingprozesse kein Versuch sind, Mitbestimmungsrechte zu beschneiden.
Recruiting KPI: Time to hire / time to fill
Um die besagte Prozessbeschleunigung im Recruiting zu verwirklichen, hilft eine Messung unter Verwendung gängiger Kennzahlen. Für die Dauer des Recruitingprozesses haben sich unter anderem als KPI die sogenannte time to hire und time to fill bewährt. Mehr dazu in meinem Artikel zu Recruiting-KPI.
Eine intensive Beschäftigung mit den Kennzahlen sowie dem Zustandekommen der Werte ist unabdingbare Voraussetzung für zeitliche Optimierungen im Recruitingprozess.
Bewerber auf dem Laufenden halten
Kommen wir abschließend noch einmal zurück zu den wichtigsten Personen im Recruitingprozess, den Bewerber:innen. Um ein Ghosting oder ein sonstwie geartetes Abspringen zu vermeiden, ist fortlaufende Kommunikation notwendig.
Der Vergleich zum bereits oben genannten Online-Versandhandel lohnt sich auch hier.
Beim Online-Einkauf finden häufig folgende Kommunikationsprozesse statt
- Benachrichtigung über den Bestelleingang
- Schätzung der vermuteten Bearbeitungsdauer
- Nachricht, dass die Bestellung zusammengestellt wird
- Versandbestätigung
- Ankunftsschätzung mit der Möglichkeit den Abstell-Ort zu definieren
- Live-Tracking der Zustellung
Im Recruiting gibt es selten Vergleichbares. Nach dem Eingang der Bewerbung herrscht oft (zu) langes Schweigen.
Und während dieses Schweigens haben clevere HR-Abteilungen am Markt die besten Chancen, um Talente mit durchdacht beschleunigten Recruiting-Verfahren für sich zu gewinnen. In dieser Hinsicht langsame Arbeitgeber verlieren den Wettlauf auf dem Arbeitsmarkt immer häufiger.