Im zweiten Teil der Serie Dilemmata der Personalentwicklung stellt sich Frank Edelkraut die Frage, ob bzw. wie PE umgebaut werden muss, um zukunftsfähig zu sein. Damit knüpft er unmittelbar an den ersten Teil an, in dem er dem Großteil der HR-Verantwortlichen bescheinigt, nicht über die Möglichkeiten zu verfügen, um die nötigen Qualifizierungen in der erwarteten hohen Qualität zeitnah durchzuführen. Kurzum: Die Zukunftsfähigkeit der PE ist gefährdet.
Ist das Talentmanagement professionell aufgestellt?
Nehmen wir an, das Top-Management Ihres Unternehmens oder eines Kunden sitzt zusammen und es wird intensiv darüber diskutiert, ob die Organisation für die Herausforderungen in 2022 gut aufgestellt ist. Dabei stellt jemand die Frage: Haben wir eigentlich eine Personalentwicklung, die das nötige Talentmanagement professionell aufstellt?
Nein. In Teil 1 meiner Artikelserie haben wir ja gesehen, dass Personalverantwortliche selbst nicht daran glauben, die anstehenden HR-Themen adäquat bearbeiten zu können und die PE taucht unter den „Low-Ten“ vier Mal auf.
Was nun?
Personalentwicklung zukunftstauglich machen
Getreu dem alten Motto Love it, Change it or Leave it können wir „Love it“ für die PE ausschließen. Denn wir haben gesehen, dass alleine die Masse an PE-Themen nicht zu bewältigen sein wird. So wie die PE heute agiert, kann es also nicht weitergehen. „Leave it“ ist zumindest aus Unternehmenssicht auch keine Option. Denn wenn Wertschöpfung immer stärker über Kopfarbeit erfolgt, sind die Mitarbeitenden beziehungsweise deren Kompetenzen und Produktivität entscheidend. Damit bleibt „Change it“. Wir brauchen eine zukunftstaugliche PE.
- Aber was heißt „zukunftstauglich“ genau?
- Wie sieht eine dazu passende Organisation der PE aus?
- Und wozu passend muss die Personalentwicklung eigentlich sein?
Wenn die PE zukunftstauglich aufgestellt werden soll, müssen wir zunächst ansehen, wie sich die Organisation insgesamt verändern wird. Beginnen wir damit, was Personalmanager für 2022 und die Folgejahre als Top-Themen auf der Agenda haben.
Aufbau kritischer Skills und Kompetenzen als Prio A
In einer Gartner-Befragung wurden folgende Themen genannt:
Dass der Aufbau kritischer Kompetenzen für 59% an erster Stelle steht, dürfte nach unserer bisherigen Diskussion nicht wundern. Und auch der Dauerbrenner Leadership auf Platz 3 darf natürlich nicht fehlen.
Für unsere Frage nach der PE-Organisation ist dagegen der zweite Punkt spannend. Wenn Organisationsdesign und Change Management auf dem 2. Platz landen, ist dies ein Ausdruck dafür, dass weitere Veränderungen und Transformationen erwartet werden. Neben dem auf Platz 4 genannten Umbau der Art wie wir arbeiten (Future Work bzw. New Work) stehen hier die großen Transformationen im Vordergrund, die viele Branchen und Unternehmen gerade durchlaufen.
Wir sollten nicht vergessen, dass die Digitalisierung, die Einführung agiler Arbeitsorganisation und so weiter ja nicht fertig sind, sondern nach der Pandemie eher intensiver betrieben werden.
Auch hier besteht Nachholbedarf. Dabei reden wir von grundlegenden Veränderungen, wenn etwa
- In der Automobilindustrie Autoproduzenten zu Elektromobilitätsanbietern,
- die Pharmaindustrie von Medikamentenentwicklern und -herstellern zu eHealth- bzw. Gesundheitsanbietern oder
- die Energiewirtschaft weg von fossilen Brennstoffen zu erneuerbare Energien-Versorgern
werden.
Diese Liste ließe sich fortsetzen, denn nahezu alle Branchen durchlaufen aktuell wesentliche Veränderungen. Alle diese Transformationen sind zu einem erheblichen Teil Lernprozesse. Denn eine Transformation ist erst abgeschlossen, wenn die Mitarbeitenden im „neuen Normal“ professionell agieren. So komplex wie die Transformation an sich ist, ist auch die zugehörige Personalentwicklung. Unterschiedlichste Bedürfnisse sind adäquat zu bedienen – und das schnell.
Eine Transformation ist immer auch ein Lernprozess
Schnell! Ich glaube, dass gar nicht oft genug wiederholt werden kann, dass Geschwindigkeit ein ganz zentraler Faktor für wirtschaftlichen Erfolg geworden ist. Haben wir uns früher auf Qualität fokussiert, ist es heute in vielen Branchen viel entscheidender, schnell zu agieren. Darauf beruht auch der große Erfolg des agilen Arbeitens, denn hier wird größter Wert daraufgelegt, dass schnell agiert und gelernt wird.
Ein Schlüsselfaktor für die Personalentwicklung ist damit die Time2Skill. Diese Kennzahl misst die Dauer vom Erkennen eines Lernbedarfes bis zur operativ genutzten Kompetenz.
- Ist PE heute schnell?
- Wissen wir überhaupt, wie lange Lernprozesse dauern, bis sie zu einer Kompetenz führen?
- Kennen wir die Anteile des eigentlichen Lernens und den Phasen zwischen Lernphasen?
Ok, ich gebe zu, dies ist eine rhetorische Frage. Schließlich beschäftigt uns das Thema Lerncontrolling schon seit Jahren, ohne dass wesentliche Fortschritte im operativen Lerncontrolling zu verzeichnen sind.
Schlüsselfaktor moderner Personalentwicklung: Time2Skill
Aber zurück zur Organisation der PE. Wenn die Lerngeschwindigkeit als zusätzlicher Faktor implementiert werden muss, wie sieht es mit anderen Faktoren, etwa der Produktivität aus? Heute sind die meisten Unternehmen und ihre Personalabteilungen auf Effizienz getrimmt. Und mit Effizienz ist hier vor allem Kosteneffizienz gemeint. Das ist gut für die Bilanz. Aber in Zeiten großer Veränderungen ist die entscheidendere Frage, ob das Richtige gelernt wird.
Nur: Was ist überhaupt das Richtige?
Bisher werden vor allem Fachthemen und soziale Aspekte der Zusammenarbeit qualifiziert. Dies sehr oft in Bezug auf die Anforderungen von Positionen, die Mitarbeitende innehaben. Es geht also um die Konformität der Menschen zu den Anforderungen der Organisation. In Zeiten relativer Stabilität ist dies eine recht effiziente Personalentwicklung. Aber wir reden ja über schnelle Veränderungen als neues Leitmotiv der PE. Heute muss PE (auch) darauf ausgerichtet sein, die Handlungsfähigkeit der Organisation in veränderlichen Märkten stärken. Wir sprechen auch von Unternehmensresilienz.
Unternehmensresilienz – mehr als kurzfristige Effizienz
Die Erfahrung zeigt, dass effizienzgetrimmte Organisationen eine geringe Resilienz aufweisen. Für HR und die Personalentwicklung bedeutet dies eine Umstellung, die Josh Bersin recht prägnant zusammengefasst hat.
Der Talent-Begriff muss neu gedacht werden
Um die Veränderungsbedarfe greifbarer zu machen, noch das Beispiel Talentmanagement. Während der Pandemie eher zurückgestellt, stehen nun viele Unternehmen unter hohem Druck, das Thema wieder aufzunehmen. Fachkräftemangel (Bedarf für Upskilling), ausscheidende Baby Boomer (Nachfolgeplanung), Transformationen (Reskilling) oder die Unternehmensresilienz (Metakompetenzen) führen zu einer Neudefinition des Begriffes Talent und veränderten Anforderungen an ein Talentmanagement.
Heute wird beim Talentmanagement in den meisten Unternehmen an eine kleine Mitarbeitergruppe mit besonderem Potenzial gedacht. Oft sind auch nur potenzielle Nachfolger für Führungsrollen gemeint. In einer sich permanent verändernden, komplexeren Wirtschaft ist dieses Verständnis unzureichend. Es kann gut sein, dass Mitarbeitende für das nächste Top-Thema besonders talentiert sind, die bis heute nicht aufgefallen sind. Diese können nur identifiziert und gefördert werden, wenn das Talentmanagement deutlich breiter gedacht und mehr Mitarbeitende als Talent betrachtet werden.
Vor allem bedeutet eine breitere Talentbasis auch eine größere Chance, gute Ideen und Lösungsvorschläge für Probleme zu bekommen. Es ist also sinnvoll, neben den Top-Talenten auch die „Mitte“ der Belegschaft in das Talentmanagement einzubeziehen. Hierzu können die bereits erwähnten Metakompetenzen als Maßstab genutzt werden und durch abgestufte Ansätze gleichzeitig der Aufwand in vertretbarem Rahmen gehalten werden. Trotzdem wird der Qualifizierungsaufwand weiter steigen.
Die neuen Talente: kompetente Menschen, die Komplexität beherrschen
Eine Konsequenz dieser und der vorherigen Überlegungen ist, dass PE zukünftig auf jeden einzelnen Mitarbeitenden maßgeschneidert wird. Standardqualifizierungen kann es nur noch für Standardthemen (Ausbildung, Pflichtschulungen usw.) geben. Für die wertschöpfungsrelevante Kopfarbeit (und alle anderen Spezialisten!) gilt das Prinzip des individuellen Lernens.
Personalentwicklung soll also alle Mitarbeitenden individuell unterstützen? Wie soll das mit den vorhandenen Kapazitäten gehen? – Gar nicht!
Hier ist die Organisation der Personalentwicklung doppelt gefordert. Einerseits gilt es deutlich effizienter zu werden. Und zum anderen agiler zu werden. Die Effizienz dürfte in den meisten Unternehmen alleine dadurch signifikant zu steigern sein, dass die Personalentwicklung stärker digitalisiert wird. Denn ohne eine durchgehende Digitalisierung der Personalarbeit sind weder die angestrebte Selbstorganisation der Mitarbeitenden und Teams möglich, noch die hohe Arbeitslast in HR zu bewältigen. HR muss auf Teufel komm raus automatisieren, um Ressourcen für die wirklich relevanten und komplexen Themen freizubekommen.
HR und PE sind auf Teufel komm raus zu digitalisieren!
Die Digitalisierung der Lernorganisation hilft übrigens auch den Lernenden und den Teams. Nur wenn die individuellen Lernprozesse, die Lern-Communities und die Lernunterstützung (wo möglich) auf einer HR-/Lern-Plattform abgebildet werden, können wir mehr Zeit dort investieren, wo sie wirklich Sinn macht: ins Lernen!
In agil arbeitenden Unternehmen bzw. solchen mit viel Projektarbeit, dient die Digitalisierung einem weiteren Zweck. In beiden Arbeitskontexten finden große Teile des Lernens in den Teams statt. Die Personalentwicklung ist weder am Lernprozess selbst, noch an der weiteren Nutzung neuer Erkenntnisse im Unternehmen beteiligt.
Zukunftsrelevantes Lernen findet außerhalb der PE statt
Das Dilemma hieran liegt darin, dass Lernen im Arbeitskontext absolut erstrebenswert ist. Und dass die agilen Frameworks und agile Praktiken sehr gute Unterstützung beim Lernen in den Teams bieten. Eine Unterstützung durch die Personalentwicklung wird gar nicht benötigt und meist auch gar nicht in Erwägung gezogen.
Aus Sicht der strategischen Personalentwicklung ist jedoch die Erfassung der genutzten bzw. neu entstehenden Kompetenzen wichtig. Sowie die übergeordnete Koordinierung der Lernergebnisse, die breiter nutzbar sind und skaliert werden sollten. Wenn Lernen in den Teams und die strategische Personalentwicklung zukünftig noch koordinierbar bleiben sollen, braucht es intelligente Strategien, um ein Auseinanderdriften des arbeitsnahen Lernens und der zentralen Aus- und Weiterbildung zu verhindern.
Zusammenfassung
Fassen wir zusammen. Damit unsere Personalentwicklung zukunftstauglich wird, organisieren wir sie so ausgerichtet:
- Kompetenzen vor Organisationsanforderungen –> Metakompetenz > Zertifikat
- Nachfrageorientierung vor Angebotsorientierung –> Kuratierung von Wissen, EXP-Journeys und Ermächtigung von (Lern)Communities > Qualifizierungsprogramme
- Schnelle Realisierung vor detaillierter Konzeption –> Agile Konzepte und Formate in Eigenregie der Lerner > zentrale Angebotssteuerung durch HR
- Lernbegleitung vor Lernvorgaben –> Lerncoaching der Lernenden, um ihre Eigenständigkeit zu fördern > Lernpfade und Karrieremodelle
- Lernkultur vor Lernorganisation –> einen positiven Lernrahmen für die gesamte Organisation schaffen > Lernen in der Verantwortung der disziplinarischen Vorgesetzten
- Lerncontrolling (Wirkungsnachweis) vor Kontrolle von Maßnahmendurchführung –> Wirksamkeitsnachweis in der Praxis > Happy Sheets nach Workshops
Wichtig! Der Begriff „vor“ soll ausdrücken, dass in den meisten Unternehmen beide Aspekte benötigt werden, sich aber die Schwerpunkte und damit die Organisation der PE auf die linke Seite verschieben.
Fazit zu Dilemma #2 der Personalentwicklung
Die heutige PE-Organisation ist noch weit von der individuellen, agilen, digitalen Zukunft entfernt, die selbstorganisierte Lernende und das Unternehmen benötigen. Wenn wir also feststellen, dass der Lernbedarf massiv steigt und die PE dafür und die zusätzlichen Anforderungen überhaupt nicht aufgestellt ist, bleibt nur eine Frage: Was nun?
Damit werden wir uns im dritten Artikel meiner Serie befassen.
Bis dahin: Stay calm and learn on!