Viele Unternehmen sprechen über Agilität, Dezentralisierung oder autonome Entscheidungen. Lernbegleitung ist ein Ansatz zur Stärkung der notwendigen, dezentralen Entscheidungskompetenzen und stellt den Sinn von klassischen Stabsstellen in Frage. Wie Lernbegleitung in der Praxis erfolgreich funktioniert, erläutert Alper Aslan. Und zeigt auch auf, warum dieses Konzept heute notwendiger denn je ist.
Dynamischere Märkte in einer VUCA-Welt
Über Jahrzehnte gewachsene Organisationen stehen heute vermutlich alle vor der gleichen Beobachtung: Die Märkte, in denen sie sich bewegen, sind dynamischer geworden. Unberechenbarer. Die Häufigkeit, in der man vom Wettbewerb oder sich verändernden Kundenerwartungen überrascht wird, hat zugenommen. Vieles davon wird unter dem Akronym VUCA zusammengefasst.
Die oben genannten Schlagworte sollen Abhilfe schaffen. Aber wie genau soll das funktionieren? Und welche Rolle spielt Lernbegleitung dabei?
Wir können Probleme nicht genauso lösen wie vor 100 Jahren
Historisch betrachtet, ist der sogenannte Taylorismus eine sehr intelligente Antwort auf rapide wachsende Märkte, in denen die Nachfrage das Angebot bei Weitem übersteigt.
Ein wesentlicher Aspekt des Taylorismus ist die sogenannte funktionale Teilung: Man zerlegt Aufgaben in Teilaufgaben und bildet Spezialisten aus, die nichts anderes tun, als genau diese bekannten Aufgaben nach dem immer gleichen Schema abzuarbeiten. Das steigert die Effizienz enorm. Das einzelne Zahnrädchen muss sich dabei nicht mehr hinterfragen, sondern einfach nur – gut geölt – seinen Job immer besser erledigen. In der Regel zementieren diese Funktionen auch einen Qualitätsanspruch für ihre Disziplin innerhalb ihrer Organisation.
Diese Entwicklung ging so lange gut, bis die Dynamik der Märkte begann, die Dynamik der jeweiligen Organisation zu übersteigen. Oder anders ausgedrückt: Wenn sich das Umfeld einer Organisation schneller verändert als sich das Innere der Organisation anpassen kann, droht das System zu kollabieren. Es kann sich an die Veränderungen des Marktes nicht schnell genug anpassen. Dann reicht es nicht mehr, wenn die Zahnrädchen nur noch effizienter ihren Job erledigen.
Die Lösung?
Dezentralisierung! Autonomie! Unternehmerisches Denken und Handeln!
Reflexartig fallen dann Sätze wie zum Beispiel:
- „Die Menschen müssen unternehmerisches Denken und Handeln lernen!“
- „Entscheidungen müssen dort getroffen werden können, wo sie anfallen!“
- „Wir brauchen weniger Hierarchien und Gremien und mehr dezentrale Entscheidungen!“
- „Schlankere Prozesse sind notwendig!“
Und so weiter. Das klingt vermutlich vertraut.
Was dabei aber übersehen wird: Die Art, wie Probleme angegangen werden, ist häufig trotzdem gleichgeblieben. In der Regel gibt es weiterhin Experten-Inseln, sogenannte Abteilungen oder Stabsstellen. Um die Vertragsgestaltung kümmert sich HR. Die Erfolgsüberwachung macht das Controlling. Für gute Produkte ist die UX-Abteilung verantwortlich. Um Security kümmern sich die Security-Experten. Und Kundenkontakt? Das machen weiterhin der Außendienst und der Service.
Ab-Teilung statt Zusammenarbeit
Ab-Teilung. Das Wort spricht eigentlich Bände. Wir versuchen weiterhin die Effizienz dieser funktional geteilten Einheiten zu verbessern. Beispielsweise indem wir klarer regeln, wer wofür genau zuständig ist (Verantwortlichkeit) und damit versuchen, die Schnittstellen zu den anderen Einheiten zu optimieren.
Besser wäre es eigentlich über Zusammenarbeit nachzudenken. Zu häufig agieren diese Einheiten weiterhin nur nebeneinander statt miteinander. Und wenn man Pech hat, dann agieren sie sogar gegeneinander.
Wie stellen wir uns das eigentlich vor: Wie sollen Menschen dezentral, autonom sinnvolle Entscheidungen treffen, wenn man sie vom notwendigen Wissen abtrennt, das für eine gute Entscheidung notwendig ist? Und wie sollen sie lernen, ob sie sinnvoll entschieden haben, wenn sie keine Möglichkeit erhalten, die Konsequenzen ihrer Entscheidungen am Markt zu spüren?
Die Konsequenzen des eigenen Wirkens erleben
Sowohl das Spüren-Können von Konsequenzen als auch von Veränderungen im jeweiligen Markt sind essenziell, um kurzfristig, dezentral und autonom entscheiden und aus den Entscheidungen lernen zu können. Ohne diese beiden Aspekte berauben wir diejenigen, die dezentral entscheiden sollen, um jede Gelegenheit, notwendige Kompetenzen zu entwickeln und mit ihren Entscheidungen zu wachsen.
Eine lernende Organisation ist eine Organisation, die sich und ihre Entscheidungen konsequent am Markt ausrichtet, dort experimentiert und damit die vorhandene Entscheidungskompetenz weiter verbessert. Quasi mit jeder Entscheidung dazu lernt. Man könnte es auch echte Agilität nennen.
Es braucht Übung am realen Kontext, damit Kontextkompetenz entsteht
Wissen reicht nicht mehr, um in einer komplexen Welt, die Entscheidungskompetenz aufrechtzuerhalten. Es braucht Kontextkompetenz. Damit meine ich die Fähigkeit, in einer bestimmten Situation zu erkennen, welches Wissen vorhanden ist, aber auch wo Wissenslücken existieren, und alles in einen sinnvollen Zusammenhang bringen zu können und gerade deswegen handlungsfähig zu sein.
Was früher das Wissen war, ist heute das Verstehen.
Früher, da haben wir Menschen in Schulungen und Trainings geschickt, damit sie sich Wissen aneignen. Dieses vergaßen sie im Alltag allerdings schnell wieder, weil es zu wenig Bezug zu ihrer Praxis hatte. Oder aber, weil im Alltag niemand dabei geholfen hat, das Gelernte in der Praxis auch tatsächlich regelmäßig zu üben. Es war quasi Lernen auf Vorrat und ich halte das für eine große Verschwendung.
Ich höre schon die Personaler aufschreien und diskutieren: „Wir können die Trainings durch Praxisbeispiele anreichern und den Lernenden Hausaufgaben aufgeben!“. „Ja könntet Ihr. Aber die macht nur leider keiner…“. „Dann lass uns doch die Schulung in zwei Teile aufteilen und dazwischen eine Praxisphase einbauen!“
Sie kennen das, oder?
Das Problem ist analog zu eben: Wir versuchen das neue Problem mit alten Denkmodellen zu lösen. Indem wir ein bestehendes Konzept versuchen besser zu machen, statt es neu zu denken.
Von Selbsterkenntnis und neuer Lösungsorientierung
Und jetzt kommt der eigentliche Witz an der Sache. Ich bin selbst jahrelang das Problem gewesen, das ich hier beschreibe. Meine Funktion innerhalb meiner Organisation war die eines Experten für User Experience.
- „Ein Team will wissen, wie ihre Kunden arbeiten? Sie müssen zu mir! Nur ich kann da helfen!“
- „Wie gut ist unser Produkt? Da kann ich Antworten liefern, aber sonst niemand!“
- „Was könnten wir noch verbessern? Lasst mich mal schauen, wann ich Zeit dafür habe!“
Stabsstellen tendieren dazu, andere zu bevormunden und sie und ihr Wissen klein zu halten, um die eigene Daseinsberechtigung zu untermauern.
#Stabsstellen in #Organisationen tendieren dazu, andere zu bevormunden und sie und ihr #Wissen klein zu halten, um die eigene #Daseinsberechtigung zu untermauern. Share on XAls Experte wurde ich zur zentralen Sammelstelle für jegliches Wissen rund um unsere Kunden, deren Bedürfnisse und Erwartungen. Wie kann ich dann von den Teams erwarten, dass sie schnell, dezentrale Entscheidungen treffen, wenn das dafür notwendige Wissen zentral gebündelt wird?
Lernbegleitung als Brücke – von der Stabsstelle zur dezentralen Entscheidungskompetenz
Und jetzt werde ich eine Lanze brechen für all die Stabsstellen und Experten-Inseln da draußen. Es war viele Jahre gut und richtig, so zu arbeiten, wie wir es in der Vergangenheit getan haben. Durch unsere Expertisen haben wir den anderen Wertschöpfungseinheiten dabei geholfen, unseren hohen Qualitätsansprüchen immer besser gerecht zu werden. Der wirtschaftliche Erfolg unserer Unternehmen – und der wirtschaftliche Aufschwung der beiden letzten Jahrhunderte – ist mir dafür Beweis genug.
Aber diese Zeit ist nun vorbei. Wenn sich Märkte dynamisch verändern, können nicht mehr Einzelne in den zentralistischen Experten-Inseln die Last schneller Entscheidungen tragen. Wir brauchen neue Konzepte der gemeinsamen Wertschöpfung, die unseren Qualitätsansprüchen als Experten einer Disziplin gerecht werden und doch – in großen Teilen – ohne uns stattfinden können.
Meine Antwort auf dieses Problem heißt Lernbegleitung. Als Experte für User Experience treffe ich heute keine Entscheidungen mehr. Stattdessen begleite ich Menschen aus den dezentralen Wertschöpfungs-Einheiten, die Kompetenzen im Bereich User Experience entwickeln möchten, in ihrem Alltag.
Wie sieht Lernbegleitung konkret aus?
Im Kern besteht Lernbegleitung aus vier Teilaspekten:
Grundlagenschulung
Diese freiwillig lernenden Personen („Lernende“) erhalten eine Grundlagenschulung (8 Stunden, Frontalunterricht) von ihrer jeweiligen Lernbegleitung. Das Ziel ist es nicht, dass die Lernenden danach irgendetwas konkret können, sondern eigentlich nur, dass sie über genügend Wissen verfügen, um Situationen zu erkennen, in denen es helfen würde, wenn sie auf ihre Lernbegleitung zugehen würden.
Gemeinsame Vorbereitung
Sobald die Lernenden auf ein Problem treffen, dass durch die jeweilige Expertise ihrer Lernbegleitung gelöst werden könnte und auf diese zugehen, teilt die Lernbegleitung das notwendige Wissen und alle vorhandenen Erfahrungen mit den Lernenden, bietet Übungsmöglichkeiten an, und vieles mehr. Eine Lernbegleitung erfindet also keine Aufgaben, gibt auch keine Hausaufgaben auf, geschweige denn, dass sie eine Praxisphase einschiebt. Stattdessen begleitet sie die Lernenden nur im Rahmen der alltäglich anfallenden Aufgaben im Rahmen der Wertschöpfung. Ja, auch eine Lernbegleitung hat Lehrziele. Aber diese sind nur so notwendig, wie reale Probleme dadurch gelöst werden können. Es wird nichts erzwungen oder künstlich herbeigeführt.
Beobachtung & Rückhalt
Die Lernenden müssen die Probleme dann jedoch selbständig lösen. Das heißt auch: Sehr viele Entscheidungen ohne fremde Hilfe treffen.Die Lernbegleitung unterbreitet den Lernenden ein Angebot: „Wenn Du möchtest, dann begleite ich Dich in deinem Alltag, bin stiller Beobachter – außer Du bist Dir in einem Moment beziehungsweise bei einer Entscheidung unsicher und fragst nach meiner Einschätzung. Dann bin ich da, um Dich in dem unsicheren Moment zu unterstützen.“
Gemeinsame Reflexion
Und abschließend bietet die Lernbegleitung den Lernenden an, dass man gemeinsam reflektiert, wie sich die Lernenden in den entsprechenden Momenten gefühlt haben. „Wie hast Du Dich gefühlt? Wie sicher warst Du in deinen Entscheidungen? Was hat Dir zu noch mehr Sicherheit gefehlt? Wo hast Du mich gebraucht? Was habe ich beobachtet und was kann ich Dir für das nächste Mal mit auf den Weg geben?“
Lernbegleitung als längerfristige Tätigkeit
Diese iterativen Lernschleifen (Punkte 2 bis 4) drehen die Lernenden mit ihrer Lernbegleitung – in unserem Fall für User Experience Research – über circa 320 Stunden, verteilt über ein Jahr. Wobei sich das je nach individuellem Lernfortschritt massiv unterscheiden kann. Natürlich sind diese Angaben speziell für die Disziplin User Experience Research geschätzt worden. Das kann für andere Disziplinen völlig anders aussehen!
Durch diesen Ansatz haben wir in der Organisation unsere ehemalige Experten-Insel von etwas mehr als einer Handvoll Menschen zu mittlerweile 24 zentralen und dezentralen Kompetenzträgern weiterentwickelt. Nahezu vollständig ohne externe Einstellungen! Etwa die Hälfte davon ist durch Lernbegleitung bei der Kompetenzentwicklung begleitet worden. Und wir sind hier noch lange nicht am Ende angekommen. Tendenz steigend.
Für uns ist Lernbegleitung ein Erfolgsmodell. Weg von zentralen Wissens-Inseln, hin zu dezentraler Entscheidungskompetenz.
#Lernbegleitung ein #Erfolgsmodell. Weg von zentralen #Wissens-Inseln, hin zu dezentraler #Entscheidungskompetenz. Share on XVielleicht ist das auch etwas für Ihr Unternehmen. Welche Gedanken gehen Ihnen durch den Kopf?
Ich freue mich auf Ihre Fragen und Anregungen!
P.S.: Natürlich gibt es weiterhin Aufgaben, die zentral verbleiben. Und es gibt auch andere Maßnahmen neben der Lernbegleitung, die zur Unterstützung der Dezentralisierung beitragen, beispielsweise Angebote zum Selbstlernen, wie LernOS, aber auch BarCamps oder Communities of Practice. Diese Vertiefung würde hier jedoch den Rahmen sprengen.