Um das Thema Berufsorientierung und Jobwahl ist eine ganze Industrie entstanden. Die meisten davon betrachten das Thema jedoch aus meiner Sicht nicht ganzheitlich genug. In diesem Beitrag möchte ich Ihnen das IKIGAI Modell vorstellen, das diese Lücke zu schließen versucht.
Am Anfang steht die Berufsorientierung
Im Jahr 2014 hatte Jo Diercks das „Jahr der Berufsorientierung“ über eine Blogparade ausgerufen, der ich mit meinem Beitrag „Die Qualen der Generation Y“ damals gefolgt bin. Zwischenzeitlich finden sich auf dem Markt eine Reihe von Plattformen, Apps und sonstige Entscheidungshilfen. Flankierend kursieren in den Medien allerlei Konzepte und Studien, die mal mehr, mal weniger hilfreich für die Entscheidungsfindung sind.
New Work – die Arbeit, die Du wirklich wirklich willst
Medial höchst präsent ist beispielsweise der Begriff der New Work. Das von Fritjof Bergmann entworfene Konzept, das bereits Anfang der 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts entstand, wird allerdings meist stark verkürzt betrachtet. Oft stehen Operationalisierungen im Vordergrund im Bereich Arbeitsplatz, Arbeitsort beziehungsweise Mobilität sowie die Grundsätze von Selbstverantwortung und Mitbestimmung.
Im Kern des New Work Konzepts steht jedoch der Gedanke einer Arbeit nachzugehen, die Du wirklich wirklich willst. Die Doppelung des Wortes „wirklich“ ist dabei gewollt, um zu verdeutlichen, dass es letztlich um einen Herzenswunsch geht.
Die Suche nach dem Sinn der Arbeit
Bei Vertretern der sogenannten Generation Y, kommt ein besonderer Antreiber hinzu. Zunehmend suchen diese jungen Erwachsenen nach einem Sinn in der Arbeit. Zahlreiche Portale, zur Suche von nachhaltigen Jobs sowie Plattformen aus dem Bereich green jobs versuchen diesem Streben entgegen zu kommen.
„Liebe Deinen Job und Du musst nie mehr einen Tag arbeiten!“
Sie kennen sicher diesen oder vergleichbare Sinnsprüche. Mein Facebook-Feed jedenfalls ist voll davon. Die dahinterstehende Frage nach dem Lieben des eigenen Jobs erhält jedoch pünktlich im Jahresturnus immer einen Dämpfer, wenn die neue Gallup-Studie veröffentlicht wird. Auch wenn ich in einem Beitrag von 2017 die Interpretation der Gallup-Studien-Ergebnisse stark kritisiert habe, werden die Medien in Kürze wieder voll sein mit dem Thema Mitarbeiterzufriedenheit.
Aber ist Orientierung in Punkto Beruf und Job wirklich so leicht wie es der Spruch „Liebe Deinen Job und Du musst nie mehr einen Tag arbeiten!“ suggeriert? Die Veröffentlichung aktueller Studienergebnisse in der Wirtschaftswoche, die auch ein Auslöser für das Schreiben dieses Beitrag war, legt gar das Gegenteil nahe. Unter dem Titel „Bei der Berufswahl geht es nicht um Ihre Interessen“ warnen sie sogar davor, den Beruf auf Basis von Interessen auszuwählen.
Nicht die Interessen zählen, sondern das Können
In ihrer Argumentation beziehen sich die Studienautoren auf die Ergebnisse Ihrer Forschungen. Danach sei es für beruflichen Erfolg angeblich vor allem wichtig, dass man etwas tue, was man wirklich könne. Ob man es auch gerne tue, sei demnach zweitrangig.
Dieses Ergebnis klingt insofern erstaunlich, als dass es im krassen Widerspruch zur derzeit allerorts gefeierten New Work-Bewegung steht. Kippt New Work nunmehr an der Wissenschaftlichkeitsfront?
Der Psychologe Christopher Nye von der Universität von Michigan wollte eine der Grundannahmen der Berufsforschung testen: Dass Menschen sich bewusst ein Arbeitsumfeld suchen, das zu ihrer Persönlichkeit, ihren Werten und ihren Interessen passt. In der Theorie, auf der auch das Konstrukt der im HR bedeutsamen kulturellen Passung basiert, müssten die Menschen dann erfolgreicher und zufriedener sein. Allerdings stellte sich heraus, dass Menschen, die im gleichen Beruf arbeiten keineswegs immer auch die gleichen Interessen haben.
Wissenschaftliche Tests zur Analyse von Neigungen
Mit dem standardisierten sogenannten „Strong Interest Inventory“-Testverfahren untersuchten die Forscher 67.000 Personen aus 211 Berufen. Dabei analysierten Sie unter anderem wie wichtig soziale Aspekte für sie sind, wie künstlerisch die Menschen arbeiten und ob sie unternehmerisch tätig sein wollen. Das erstaunliche Ergebnis: Nur bei der Hälfte der Berufe gab es vergleichbare starke Interessen. Bei der anderen Hälfte verteilten sich die Interessen komplett unterschiedlich. Damit bewiesen die Wissenschaftler, dass viele Menschen in einer Branche oder auf einer Stelle arbeiten, die nicht unbedingt ihrem Hauptinteresse entspreche.
Sie schlussfolgerten daraus, dass viele Menschen sich einen Beruf aussuchen, ohne auf ihre Interessen zu achten. So weit so gut.
Erfolgskriterium Begabung statt Interesse
Der Psychologieprofessor Aljoscha Neubauer von der Universität Graz erläutert dazu, dass beruflicher Erfolg nur zu einem Drittel durch Interessen erklärt werden könne, aber überwiegend durch Begabung. Dabei definiert er Begabung als verschiedene messbare Kompetenzen, wie emotionale Intelligenz, künstlerisches Interesse, kognitive Leistungsfähigkeit oder räumliche Orientierung.
Er warnt deshalb sogar davor, sein Hobby zum Beruf zu machen sowie vor einer Spaßkultur. Diese führe auf Dauer zu Unzufriedenheit im Job. Vielmehr sollten Arbeitnehmer nach dem Prinzip des sogenannten Job Craftings handeln. Interessen, die im beruflichen Umfeld nicht gelebt werden können, sollten im Sinne eines Baukastenprinzips in der Freizeit Erfüllung finden.
Berufswahl und Jobauswahl erfolgen selten systematisch
Aus meiner Sicht ist das ein zu stark vereinfachtes Bild von Berufswahl und Berufsausübung. Denn das würde voraussetzen, dass Menschen sich systematisch mit der Wahl des eigenen Berufs sowie einer Stelle auseinandersetzen und dabei vor allem rational analytisch agieren. Stattdessen bin ich der Überzeugung, dass Menschen sich vor allem auf emotionaler Ebene auf einen neuen Job einlassen und die vermeintlich objektiven Kriterien lediglich Rahmenbedingungen darstellen, damit die persönlichen Antreiber der Jobsuchenden befriedigt werden können.
Auch verändern sich Berufsbilder stark. Wer vor 20 Jahren eine Bürotätigkeit aufgenommen hat, findet sich heute in einem komplett neuen Umfeld wieder. Abseits von Digitalisierung und Arbeit 4.0 liegen oft Welten dazwischen. Darüber hinaus glaube ich, dass der gleiche Job, der einen Berufseinsteiger kickt und überzeugt, nicht unbedingt der passendste bleiben muss, wenn ein Arbeitnehmer älter wird, Kinder hat oder sich seine Lebensumstände anderweitig drastisch ändern.
Bedarf an Ganzheitlichkeit: Das IKIGAI-Modell
Was einerseits logisch und aus Sicht der Wissenschaftler bewiesen zu sein scheint, springt für mich deutlich zu kurz. Denn fern jeglicher Sozialromantik, prallt nämlich für einen großen Teil der Gesellschaft die Realität mit großer Wucht auf die mediale Betrachtung von New Work und anderer Konzepte. Nüchtern betrachtet geht es vielen vor allem darum, etwas zu finden, mit dem sie insbesondere ihre finanziellen Verpflichtungen erfüllen können.
Arbeit ist für diese Menschen vor allem ein Mittel zum Zweck. Und dieser Zweck heißt Geld verdienen. Denn „von Luft und Liebe alleine wird man nicht satt!“.
Folglich braucht es eine deutlich ganzheitlichere Betrachtung. Hier kommt das Modell IKIGAI ins Spiel.
Was bedeutet IKIGAI? Wofür steht der Begriff?
Das Modell entstammt der japanischen Philosophie des sogenannten IKIGAI.
Laut Wikipedia bedeutet IKIGAI frei übersetzt „das, wofür es sich zu leben lohnt“. Es steht für „die Freude und das Lebensziel“ oder einfach ausgedrückt für „das Gefühl, etwas zu haben, für das es sich lohnt, morgens aufzustehen“.
In der japanischen Kultur hat die Suche nach dem IKIGAI eine wichtige Bedeutung. Dabei steht eine ausführliche Selbsterforschung auf dem Weg zum IKIGAI. Findet ein Mensch sein IKIGAI, bewirkt dies für ihn ein Gefühl von Lebensfreude und hoher innerer Zufriedenheit.
Die Synthese – eine ganzheitliche Betrachtung mit IKIGAI
Als IKIGAI wird die Schnittmenge aus vier Kreisen definiert. Abweichende Darstellungen unterschiedlichster Autoren sind im Internet zahlreich zu finden.
Die vier Kreise beziehen sich dabei auf das,
- was Du liebst
- worin Du gut bist
- was die Welt braucht
- wofür Du bezahlt wirst
Die entstehenden Teilüberschneidungen stehen dabei für die eigene
- Mission (MISSION)
- Berufung (VOCATION)
- Arbeit (PROFESSION)
- Leidenschaft (PASSION)
Auch die vier freibleibenden Flächen finden in der Literatur zum Teil weitere Bezeichnungen. Diese erscheinen mir jedoch nicht immer ganz stimmig, so dass ich es bei dieser vereinfachten Variante des Modells bewenden lassen möchte.
Die wissenschaftliche Untersuchung des IKIGAI
Im Rahmen einer siebenjährigen Studie zwischen 1994 und 2001 untersuchten Wissenschaftler um Toshimasa Sone von der Universität Tōhoku, Sendai in Japan die Auswirkungen von IKIGAI auf das Leben der Menschen. Die Forscher befragten über 43.000 Personen im Alter zwischen 40 und 79 Jahren mit Bezug auf das IKIGAI. Dabei stand das IKIGAI für den Glauben daran, dass es das eigene Leben wert ist, gelebt zu werden.
Die Studie kam zu dem Schluss, dass eine durch IKIGAI empfundene positive Lebenseinstellung sogar in Verbindung mit physischer Gesundheit gebracht werden könne und zu einer höheren Lebenserwartung führe.
Na wenn das kein Grund ist, sich ein wenig intensiver mit der Philosophie um das IKIGAI-Modell zu beschäftigen…?
Fazit zum Streben nach dem IKIGAI
Mit Blick auf eine gelungene Berufs- und Jobwahl helfen einseitige Betrachtungen nur wenig. Das ganzheitliche Streben nach dem IKIGAI kann den Blick ganzheitlich schärfen. Zumindest erweitert das Modell das eigene Denken.
Nutzen Sie das IKIGAI-Modell doch einfach einmal zwanglos, um Ihre aktuelle Tätigkeit sowie Ihre derzeitigen Hobbys und sonstigen Tätigkeiten einzuordnen. Ich selbst fand die Ergebnisse durchaus erstaunlich…
Haben Sie Ihr IKIGAI schon gefunden?
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