Das vierte Blind HR Battle ist geschlagen. Es ging um die spannende Frage, ob Algorithmen einen menschlichen Recruiter ersetzen können. Ein in der Tat kontroverses Thema. Und ein sehr emotionales, wie sich deutlich an den zahlreichen Kommentaren zeigt. Immerhin geht es um die Frage, ob die eigene Tätigkeit als Personaler durch eine Software (zumindest größtenteils) ersetzt werden kann und ob Recruiter am Ende doch technikscheu oder gar innovationsresistent sind.
Angetreten waren Jan Kirchner von der Digitalagentur Wollmilchsau, der die provokante These pro Algorithmus vertrat. Sein Kontrahent Michael Witt von Voith Industrial Services hielt dagegen. Und wurde von zahlreichen Personalern unterstützt, die sich ebenfalls für den Faktor Mensch ausgesprochen haben. Wie sich die Diskussion dazu entwickelt hat und wie das Abstimmungsergebnis am Ende aussah, lesen Sie in diesem Beitrag.
Softwareeinsatz – ein Thema, das HR bewegt
Ähnlich wie bei den unterschiedlichen Stufen der industriellen Revolutionen (wir stehen heute vor bzw. mitten in der sogenannten Industrie 4.0), war es für Menschen immer schon schwer sich vorzustellen, dass sich Prozesse und Abläufe in der Zukunft massiv ändern können und werden. Daher ist es wenig verwunderlich, dass in einigen Kommentaren auf meinen letzten Beitrag oder in XING-Gruppen sehr schnell eine pauschale Antwort gegeben wurde. Nämlich dass Algorithmen Recruiter nicht ersetzen können. Am meisten daran irritiert hat mich allerdings die oft kompromisslose Art im Sinne von „Es ist so und wird auch immer so bleiben – Ende der Diskussion!“.
Ist HR technikscheu oder gar innovationsresistent?
Wenig verwunderlich also, dass in zahlreichen Studien Personaler als innovationsscheu oder gar veränderungsresistent entlarvt werden. Dabei ändert sich gerade im Bereich des Arbeitslebens eine Menge – nicht nur mit Blick auf das Themenfeld der sogenannten „New Work“.
Aber bleiben wir mal beim Thema massiver Softwareeinsatz in der Personalbeschaffung. Was spricht denn dafür, dass HR sich darauf überhaupt einlassen sollte?
Es gibt aus meiner Sicht mindestens zwei Haupt-Szenarien zu unterscheiden:
Algorithmen verringern die Anzahl der Bewerber
Zum einen gibt es Unternehmen, die so viele Bewerbungen erhalten, dass sie nahezu darin ersticken. Man denke nur an die ewigen Sieger der „Wer-ist-der-bekannteste-Markenartikler-dessen-Produkte-so-positiv-besetzt-sind-dass-ich-unterstelle-das-Unternehmen-sei-auch-ein-toller-Arbeitgeber“-Wettbewerbe. Dort besteht die Kunst darin, die Prozesse so zu straffen, dass die Recruiter in annehmbarer Zeit überhaupt noch eine Besetzungsentscheidung treffen können und aus 100.000 Bewerbern 5.000 rausfiltern. Wenn da der eine oder andere durch das Raster fällt, who cares? Sind ja genug da…
Bessere Auswahlentscheidungen mit Software
Zum anderen gibt es Unternehmen, die eher wenige Bewerbungen erhalten und darauf angewiesen sind, daraus die am besten geeigneten Bewerber herauszufiltern. Diese können sich mithilfe von Software Input für den Entscheidungsprozess holen, um die Qualität der Personalauswahl um (weitere) Prozentpunkte zu steigern. Allerdings ist so ein Unternehmen gut beraten, die Software vor allem als Unterstützung einzusetzen und gleichzeitig die Face-to-Face-Kommunikation zu forcieren. Gerade hier kann dieses Unternehmen gegenüber den erstgenannten Branchen-Riesen aus meiner Sicht punkten.
Selbstverständlich sind alle Zwischenstufen oder Kombinationen zwischen den beiden Szenarien ebenfalls denkbar.
Unabhängig davon, aus welchem Grund Softwareunterstützung im Auswahlprozess (ich beschränke mich in meinen Ausführungen jetzt mal hierauf, weil es der emotional kontroverseste Teilaspekt des Battle war) eingesetzt wird, gelten einige grundlegende Restriktionen.
Die gesetzliche Bremse in § 6a Abs. 1 BDSG als Restriktion
In § 6a Absatz 1 des Bundesdatenschutzgesetzes steht:
„Entscheidungen, die für den Betroffenen eine rechtliche Folge nach sich ziehen oder ihn erheblich beeinträchtigen, dürfen nicht ausschließlich auf eine automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten gestützt werden, die der Bewertung einzelner Persönlichkeitsmerkmale dienen. (…)“
Formaljuristisch betrachtet wäre die Frage nach dem kompletten Ersetzen des Recruiters durch Algorithmen damit schon fast beantwortet. Allerdings lässt sich der Begriff „ausschließlich“ sicherlich umgehen, wenn eben dann doch noch eine kleine menschliche Restentscheidung stattfindet.
Zudem werden es Bewerber oft gar nicht immer mitbekommen, wenn im Hintergrund derartige Software zur Anwendung kommt. – Jetzt mag der eine oder andere aufschreien, dass man das doch laut Gesetz gar nicht dürfe. Dem sei entgegengehalten, dass es genauso wenig erlaubt sein dürfte, dass deutsche Geheimdienste mit dem Wissen der Regierung deutsche Unternehmen für einen fremden Staat ausspionieren. Ganz abgesehen davon, dass das deutsche Datenschutzgesetz zwar eines der formal restriktivsten der Welt ist, aber leider nicht immer an die modernen Gegebenheiten der technischen Entwicklungen –gerade im Internet- angepasst ist.
Algorithmen sind schon state of the art
Algorithmen bewerten schon heute bei der Entscheidung über die Kreditwürdigkeit beispielsweise die vom Antragsteller verwendete Schriftart. Aus statistischen Wahrscheinlichkeiten sollen daraus angeblich valide Rückschlüsse gezogen werden können, wie sich die Zahlungsmoral verhält bzw. wie hoch das Kreditausfallrisiko ist.
Anderes Beispiel: Der weltgrößte Internethändler Amazon arbeitet an softwaregestützten Vorhersagen, welche Waren Kunden als nächstes kaufen werden – und will diese bereits vor einer Bestellung an ein kundennahes Logistikzentrum ausliefern.
Eignungsdiagnostische Verfahren und Psychotests
Viele Unternehmen setzen schon heute im Laufe des Bewerbungsverfahrens unterschiedliche eignungsdiagnostische Tests und Verfahren ein, um Bewerber besser einschätzen zu können. Immerhin geht es –langfristig betrachtet- bei jeder Einstellung um eine Millionen-Euro-Entscheidung. Denn Fehlbesetzungen, die über viele Jahre bestehen, kosten Unternehmen je nach Betriebszugehörigkeit der Mitarbeiter hohe Beträge. Insofern ist der Ansatz, eine optimierte Auswahlentscheidung via Software anzustreben, zumindest im Grundsatz verständlich.
Algorithmen sind nur so gut wie der Mensch, der sie programmiert hat
Allerdings wird bereits bei den zahlreichen in der Praxis verwendete Verfahren eines deutlich: Nicht jeder Test ist valide und hält was er verspricht. Oder bezogen auf Software: Algorithmen können nur so gut arbeiten, wie die Kriterien, auf denen die Berechnungen beruhen, korrekt und zielführend sind. Flapsig gesprochen bedeutet das: „Bullshit in – bullshit out“.
Die passenden Kriterien finden
Letzten Endes steht und fällt das Auswahlergebnis mit der Stichhaltigkeit der zugrundeliegenden Kriterien. Und mal ganz ehrlich: Daran kranken doch schon heute viele Auswahlentscheidungen ohne Software. Zum Beispiel weil Noten zu viel Wert beigemessen wird und nicht verstanden wird, dass Anpassung an das (Schul)System und Reproduktion nicht zwangsweise mündige und innovative Menschen generiert.
Und selbst bei Stellenanzeigen werden in den seltensten Fällen für die Bewerber wirklich aussagekräftige Kriterien genannt. Eine Studie von talentsconnect bzw. YouGov sagt, dass die Informationen in Stellenanzeigen (=Kriterien, die für die Bewerber relevant sind bei der Entscheidung für oder gegen eine Bewerbung) in einer Vielzahl der Fälle „meist schlecht“ oder „meist eher schlecht“ sind.
Wer also Algorithmen für die Personalauswahl stricken möchte, der muss sich sehr gut auskennen auf diesem Gebiet. Und dass auch Marktführer nicht zwangsläufig Koryphäen diesbezüglich sind, zeigt XING immer wieder deutlich. Wenn zum Beispiel Recruitingleitern Jobs als Praktikanten vorgeschlagen werden, worüber sich Bloggerkollege Marcus K. Reif kürzlich wieder mehr als nur gewundert hat…
Die Ergebnisse des Votings zum 4. Blind HR Battle
Vielleicht kommt die überwiegend skeptische oder ablehnende Haltung der Personaler im 4. Blind HR Battle genau daher, dass das, was Webnutzern bisher über XING und Co an vermeintlich passenden Job-Vorschlägen zugemutet wird, den Glauben an den effektvollen Einsatz von Algorithmen verhindert.
Dennoch konnten sich rund 28% der am Voting teilnehmenden Leser von Persoblogger.de für die Argumentation von Jan Kirchner erwärmen.
Über 72% der Leser hingegen können oder wollen sich keine rein softwaregestützten Prozesse im Recruiting vorstellen. Insofern meinen herzlichen Glückwunsch an Michael Witt zum Sieg beim 4. Blind HR Battle. Aber auch an Jan Kirchner herzlichen Dank für das tapfere Dagegenhalten.
Viele Leser haben sich deutlich für Mischformen ausgesprochen, wollten also keiner der natürlich bewusst so schwarz-weiß ausgelegten Argumentationen folgen.
Ich freue mich jedenfalls sehr, dass die Personalerszene das von mir ins Leben gerufene Argumentationsduell Blind HR Battle auch diesmal dazu genutzt hat, fleißig über die Zukunft des Recruiting zu diskutieren.