Im ersten Teil meiner Reihe über die grundsätzliche Positionierung von HR in Unternehmen wurden die drei klassischen Rollen Fachbereich, Business Partner und Recruiter bereits inhaltlich grob eingeführt. Zeit nunmehr einen intensiveren Blick auf den Recruiter zu werfen, den ich beim letzten Mal als „Ende der Nahrungskette“ bezeichnet hatte. Ist dieser klassische Recruiter, wie wir ihn heute kennen schon morgen am Hungertod gestorben, quasi ein Auslaufmodell? Oder gibt es Hoffnung? Denn die stirbt bekanntlich, so auch am Ende der Nahrungskette, zuletzt.
Im klassischen Recruiting-Prozess übernehmen die Recruiter als Kernaufgabe insbesondere
– die Schaltung von Stellenanzeigen
– die Sichtung und Bewertung eingehender Bewerbungen
– das Anfordern ergänzender Unterlagen
– die Vereinbarung von Vorstellungsgesprächen, gegebenenfalls mit vorgelagerten Telefoninterviews
In dieser nüchternen Zusammenstellung klingt das schon stark nach einer klassischen Routinetätigkeit mit einem hohen Grad an wiederkehrenden Prozessschritten. Zugleich schwingt ein gewisser Grad an mechanistischem Denken mit. Im Sinne von „Stelle mit Anforderung X und Y und Z ist frei“, also „Ausschreibung von Stellen mit Anforderung X und Y und Z“ und schließlich „Check der Unterlagen auf Anforderung X und Y und Z“.
Der Algorithmus als besserer Recruiter?
Dem einen oder anderen schwant spätestens an dieser Stelle, wer zukünftig in Konkurrenz mit den Recruitern treten könnte. Es sind diesmal nicht die Fachbereiche. Ich rede hier von IT-Systemen.
Schon heute steckt in zahlreichen Online-Bewerbermanagement-Systemen (was für ein Wortungeheuer!) eine Menge Technologie, die den Auswahlprozess anhand von einzelnen Kriterien erleichtern und beschleunigen soll. Dieses sogenannte Matching, also der Abgleich von Anforderungsprofil mit den zur Verfügung stehenden Bewerberdaten, kann der Recruiter auf Knopfdruck auslösen. In der Ergebnisliste finden sich dann die geeignetsten Kandidaten …
Ach, tatsächlich …?
Die Fachbereiche in Definitionsnot
Was sich bis zum letzten Absatz so selbstverständlich und einfach angehört hat, funktioniert in der Praxis oft nur sehr eingeschränkt. Denn dazu sind zwei Voraussetzungen nötig: 1. Müssen die bei den Stellenanforderungen hinterlegten Kriterien trennscharf sein und 2. müssen in den vom Bewerber hinterlegten Daten die vom Recruiter bei der Ausschreibung hinterlegten Anforderungskriterien analogen auch vom Bewerber zur Verfügung gestellt worden sein.
Schon bei 1. wird es dann spannend, wenn 50% der gesuchten Stellen ein BWL-Studium oder vergleichbare Berufskenntnisse, mehrere Praktika bzw. eine gewisse Anzahl von Jahren an Berufserfahrung erfordern. Möglicherweise gepaart mit Auslandserfahrung und Englisch als Fremdsprache. Herzlichen Glückwunsch! Dann haben wir genau die von Thomas Sattelberger (Ex Telekom Vorstand) genannten „Barbies und Kens im Businesslook“.
Zudem besteht die Herausforderung für die Fachbereiche, sich so weit mit den recruitingrelevanten (!) Anforderungen ihrer gewünschten neuen Mitarbeiter zu beschäftigen, dass sie die notwendigen trennscharfen Kriterien definieren können. Ein Blick auf die heutige Praxis lässt mich daran zweifeln, dass dies ohne kompetente Beratung effizient gelingt.
Der natürliche Feind des Matchings: Die One-Klick Bewerbung
Beim Blick auf 2., der Verfügbarkeit der für das Matching von Anforderungsprofil und Bewerberprofil notwendigen Kriterien in der Bewerbung, spielt ein Trendthema eine wichtige Rolle: Unter dem Stichwort „One-Klick Bewerbung“ bestehen zunehmend Tendenzen, die Erstkontakt-Hürde für Bewerber weiter abzusenken, indem schlanke Bewerbungen möglich sind. Sei es durch das Zur-Verfügung-Stellen des XING-Profils per Knopfdruck, oder auch via Klick in einer Recruiting-App bzw. einer Kurzbewerbung via SMS.
Stellen wir uns also vor, der Trend setzt sich weiter durch und Bewerber werden den Unternehmen im ersten Schritt zukünftig wesentlich weniger Daten im Rahmen ihrer Bewerbung zur Verfügung stellen. Dann fällt das Matching sehr schnell in sich zusammen oder wird ineffizient.
Wenn Bewerber einen Menschen erwarten
Es muss also einen weiteren Entscheidungs-Prozessschritt geben. Entweder bereits eine Entscheidung zum Beispiel für ein Telefoninterview auf Basis der wenigen zur Verfügung gestellten Daten, oder eine Entscheidung, dass der Bewerber bitte weitere relevante Bewerberinformationen nachliefern möge.
Dieser Prozess könnte für das Nachfordern von Unterlagen theoretisch automatisiert werden. Allerdings frage ich mich dann, warum man einerseits eine schnelle und niedrigschwellige erste Kontaktaufnahme zur Verfügung stellt und dann andererseits automatisiert doch wieder umfassend Unterlagen anfordert, ohne dass zuvor ein Mensch sich mit dem Bewerber beschäftigt hat?
Und Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass die Fachbereiche diese Menschen sein wollen, die zukünftig in Masse solche personellen Vorauswahlentscheidungen auf Basis knapper Informationen treffen wollen? Das würde konsequent zu Ende gedacht bedeuten, dass die Fachbereiche ihrerseits kompetente Experten ausbilden müssten und der Recruiter dann zwar organisatorisch im Fachbereich angesiedelt wäre. Allerdings würde sich im Gesamtprozess damit wenig verändern.
Ich verwende hier bewusst den Begriff „Mensch“. Denn aus meiner Sicht ist das einzig erfolgversprechende Recruiting-Konzept der Zukunft: „Mehr Mensch, weniger Automatismen und Anonymität!“.
Mehr Mensch – weniger Automatismen und Anonymität
Gerade größere Unternehmen sind für Bewerber oft ein anonymes Gebilde. Im Personalmarketing ist schon lange die Erkenntnis gereift, diese Anonymität durch authentische, menschliche, sympathische Kommunikationsmaßnahmen zu durchbrechen. Wir stellen unsere Recruiting-Ansprechpartner in unseren Social Media Kanälen dar, bloggen aus dem Alltag, posten auf Facebook und stellen den Menschen in den Mittelpunkt.
Und plötzlich wollen wir einem Algorithmus die Entscheidung übergeben bzw. die Kommunikation mit den Bewerbern überlassen? Nicht im Ernst, oder?
Da möchte ich jeden Befürworter einmal in die wunderbare Situation versetzen, in der er oder sie einem großen Dienstleistungsunternehmen gegenüberstehen, das keine persönliche Hotline anbietet. Ich sag nur „Sie haben eine falsche Taste gedrückt“ oder „Leider habe ich Sie nicht verstanden“…
In gleicher Weise würden wir das persönliche Gefühl des „Menschen gegenüber“ im Kopf des Bewerbers zerstören. Dabei gilt für mich das Gleiche auch bei sogenannten Online-Assessment-Verfahren, bei denen Massen von Bewerbern vorab gegen Algorithmen kämpfen.
Tarnen, täuschen, spielen lassen
Die Perversion zeigt sich dann, wenn man erkennt, dass diese Verfahren eigentlich aus Sicht des Bewerbers oft nichts anderes sind als das verzweifelte Unterfangen endlich durch den Schutzwall an Robotern und IT-Systemen, die Unternehmen damit um sich aufbauen, zu stoßen und auf einen Menschen zu treffen. Den hatte der Bewerber eigentlich aufgrund der Personalmarketing-Kommunikation schon früher erwartet.
Und was tun Personalmarketingverantwortliche dann? Genau: Sie versuchen die Anonymität solcher Verfahren zu durchbrechen und verkleiden diese mittels Recruitainment-Elementen, machen ein Spiel aus diesen Onlineverfahren. Dann wird der Spielinstinkt des Bewerbers geweckt und alles ist gut. Zu toppen ist diese Absurdität nur noch, wenn im Rahmen des Spiels sogar wieder ein vermenschlichter Avatar zum Einsatz kommt, weil man dann doch irgendwie sowas wie einen menschlichen Bezugspunkt braucht.
Dabei spreche ich mich hier nicht gegen Recruitainment aus. Das würde Recruitainment-Experten wie Jo Diercks nicht gerecht werden. Im Gegenteil bin ich großer Fan dieser HR-Innovation, insbesondere im Bereich Employer Branding und Personalmarketing. Aber im genannten Zusammenhang halte ich einige kritische Gedanken dennoch für höchst angebracht, damit Recruitainment nicht missbraucht wird, um einen im Grunde bewerberfeindlichen Prozess aufzuhübschen und zu tarnen.
Das eigentliche Problem der Recruiter zeigt auch dessen Lösung
Genau jetzt sind wir am Kern meiner Ausführungen. All die oben gezeigten Strategien zeigen eines deutlich auf: Unternehmen scheinen überflutet zu werden von Massen von Bewerbern, die es mittels automatisierter Prozesse zu steuern und auszudünnen gilt. Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen.
Statt jedoch die Auswirkungen, also das Managen von Quantität immer stärker zu fokussieren und IT-technisch zu unterstützen, ist für mich die Reduktion und das Managen von Qualität der Schlüssel zum Erfolg. Recruiting muss also zum Ziel haben, weniger (!), dafür aber wesentlich passgenauere Bewerber in der Hand zu halten.
Konkret heißt das: Die Zukunft der Recruiter verlangt Expertise im Bereich
- Passgenaue Entwicklung von Stellenprofilen und Übersetzung in recruitingrelevante Maßnahmen
- Auf- und Ausbau eines persönlichen Kontakts zu möglichen Bewerbern (Messen, Fachveranstaltungen, Workshops, usw.)
- Dauerhaftes Kontakthalten (Talentrelationship Management) mit potenziellen Bewerbern
- Managen des Talentpools, das heißt, Zuspielen von geeigneten Bewerbern in den Recruitingprozess, schon vor dem großflächigen Ausschreiben einer Stelle auf allen Plattformen
Und im letzten genannten Punkt steckt auch die große Chance des Recruitings, das durch HR und nicht die Fachbereiche betrieben wird: Denn wie sollte ein Fachbereich einen übergreifenden Talentpool managen? Professionelles Talentrelationship Management zeichnet sich doch gerade dadurch aus, dass es einen Menschen gibt, der seinen gesunden Menschenverstand anschaltet und erkennt, dass ein Talent möglicherweise auch für eine ganz andere Position im Unternehmen geeignet ist. Der Talentmanager benötigt den Überblick, fachbereichsübergreifend.
Auf den Punkt gebracht
Wenn Recruiting weiter so betrieben wird wie heute (flächendeckende Ausschreibung und Managen von Bewerbermassen), bedrohen Algorithmen und die sich immer aktiver in den Recruitingprozess einbringenden Fachbereiche die Kerntätigkeiten der Recruiter.
Stellt sich Recruiting aber als bereichsübergreifender Experte für das schlanke Recruiting via Talentrelationship Management auf, sichert sich dieser HR-Bereich nicht nur das eigene Überleben. Nein, Recruiting leistet damit wieder einen besonders wertschöpfenden Beitrag zum unternehmerischen Erfolg. Zusammen mit den Fachbereichen, die es als kompetente Markenbotschafter auszubilden und zu unterstützen gilt.
Denn eines ist den Befürworten von Fachbereichen als Recruiter zu Gute zu halten: Die Fachbereiche spielen tatsächlich eine stärkere Rolle im Recruiting-Prozess als früher. Allerdings nicht durch Verlagerung der Verantwortung auf diese, sondern durch strategisch durchdachtes Zusammenspiel mit den Recruitern in HR.
Dazu bedarf es in den Unternehmen einer grundlegenden Entscheidung, ob man sich einen konsequenten Weg Schritt für Schritt in Richtung mehr Qualität und weniger Masse zu gehen traut, oder ob man gar bereit ist für einen radikalen Schnitt. Dieser könnte zum Beispiel lauten: Keine Stellenausschreibungen mehr, nur Personalmarketing, persönliche Kontakte, Talentrelationship Management und gegebenenfalls der Einsatz eines externen Personalberaters…
Dieses und weitere Szenarien in den nächsten Teilen, bei denen es u.a. um die Rolle des Business Partners bzw. die des externen Personalberaters in diesem Zusammenhang geht. Dabeibleiben lohnt sich also…