Das Konzept der Psychological Safety steht für eine neue Arbeitskultur in den Unternehmen. Für Vertrauen und Emotionen – sowohl bei Mitarbeitenden als auch und besonders bei Führungskräften. In einer Zeit, in der Organisationen sich transformieren und Fehler- beziehungsweise Lern-Kulturen etablieren möchten, spielt psychologische Sicherheit eine zunehmend große Rolle, findet Nina Rahn, Geschäftsführerin von d.vinci.
Was unsere heutige Arbeitswelt ausmacht
Die allermeisten Unternehmen können auf die Herausforderungen des Marktes heute nicht mehr dadurch reagieren, indem sie ihre Organisation und damit ihre Beschäftigten auf Effizienz und Prozesseinhaltung trimmen. Es gibt nur noch selten den einen richtigen Weg, um ein Problem zu lösen. Und ist die eine Herausforderung beherrschbar geworden, dann taucht meist sofort die nächste und die übernächste Überraschung auf. So ist es nun eben in dieser komplexen und dynamischen Welt.
Das war mal anders, es soll Zeiten gegeben haben, da war „Dienst nach Vorschrift“ erwünscht. Heute würden sich die wenigsten von uns das noch nachsagen lassen. Zurecht – denn das reine Arbeiten nach Vorgabe reicht nicht im Ansatz mehr aus, um als Unternehmen zukunftsfähig zu sein.
Gefordert sind Ideen und Zusammenarbeit
Heute braucht es vor allem Ideen und Zusammenarbeit, um ständig neu auftauchende Herausforderungen zu lösen. Wertschöpfung im 21. Jahrhundert entsteht vor allem dadurch, dass Menschen möglichst all ihre persönlichen Erfahrungen, Facetten, Talente mit denen anderer Menschen wirkungsvoll zusammenbringen können.
Doch das passiert nicht einfach automatisch, indem man kompetente Menschen einstellt und hält. Viel mehr braucht es eine Umgebung, in der sich diese auch trauen, ihre Ideen, Fragen, kritischen Meinungen oder Bedenken einzubringen.
Das Konzept der psychologischen Sicherheit (Psychological Safety)
Das Konzept, dass sich hinter einem solchen Arbeitsumfeld verbirgt, nennt sich „Psychological Safety“ und wurde von Amy C. Edmondson, Professorin für Leadership & Management an der Harvard Business School, entwickelt. Sie beobachtete Teams in Krankenhäusern und fand heraus, dass die gut zusammenarbeitenden Teams vermeintlich mehr Fehler machten als die schlechteren. Das erschien zunächst einmal völlig konträr zu ihren Erwartungen.
Doch im weiteren Verlauf wurde erkennbar, dass die gut funktionierenden Teams eine deutlich höhere Bereitschaft und Offenheit zeigten, von Fehlern zu berichten, damit das Team daraus lernen konnte. Die Mitglieder dieser Teams fühlten sich in ihrer Arbeitsumgebung offensichtlich ausreichend psychologisch sicher, um Schwächen, Fehler, Bedenken zu kommunizieren, weil sie keine Abwertung oder Tadel befürchteten.
Unter „psychologischer Sicherheit“ beziehungsweise psychological safety verstehen wir also ein Arbeitsumfeld, in der Menschen sich sicher genug fühlen, um Fehler ansprechen, „ein schlechtes Bauchgefühl“ zu teilen, auch halbfertige Ideen zu äußern und sich als Menschen mit ihrem ganzen Wesen einzubringen, ohne Angst vor Diffamierung oder Bloßstellung haben zu müssen.
Müssen wir nun alle nett miteinander sein?
In einem Umfeld von Psychological Safety geht es übrigens mitnichten darum, einfach nett miteinander oder möglichst immer der gleichen Meinung zu sein. Wenn sich das Arbeitsumfeld dauerhaft innerhalb der Komfort-Zone bewegt und stets Konsens herrscht, ist Weiterentwicklung und Teambestleistung kaum möglich!
Vielleicht ist sogar das Gegenteil der Fall: Meinungsverschiedenheiten und Spannungen sind der beste Treiber von Verbesserungen und Innovationen. Zumindest dann, wenn sie offen angesprochen werden können. Bei der Frage nach einer psychologisch sicheren Umgebung geht es genau darum:
- Können Menschen in der Organisation offen und aufrichtig miteinander umgehen, gerade auch wenn es unterschiedliche Sichtweisen und Anliegen gibt?
- Schafft die Organisation einen Nährboden dafür, dass Menschen bereit sind, Konflikte bewusst, direkt und produktiv auszutragen und Fehlentwicklungen frühzeitig und deutlich anzusprechen?
Wie kann eine Umgebung der Psychological Safety geschaffen werden?
Der Einfluss des Managements
Führungskräfte können aktiv zu einer Kultur der Aufrichtigkeit, Transparenz und Ehrlichkeit beitragen, um eine Atmosphäre psychologischer Sicherheit zu schaffen. Solange sie formale Macht haben, also über das Wohl und Wehe eines Mitarbeiters im Zweifel entscheiden könnten, sind sie auch jene, die am besten den Raum öffnen können, in dem sich Beschäftigte psychologisch sicher fühlen und möglichst angstfrei arbeiten.
Warum aber sollten sich Menschen der Gefahr aussetzen, im schlimmsten Fall gekündigt zu werden, wenn sie aktiv einen Fehler oder persönliche Schwächen kommunizieren? Nun, Führungskräfte sollten sich bewusst sein, dass diese Sorge immer mitschwingen kann und sind daher der wichtigste Ausgangspunkt, um eine psychologisch sichere Umgebung zu fördern.
Erst geben, dann bekommen
Erst wenn Führungskräfte sich selbst öffnen, ihre Fehler, Bedenken und Unsicherheiten offen ansprechen, ihre Schwächen zu teilen und aufrichtig (!) um Hilfe bitten, dann erst können sich nach und nach Teammitglieder trauen, dasselbe zu tun.
Diese Grundhaltung bei Führungskräften ist so essenziell und weicht gleichzeitig möglicherweise deutlich davon ab, was wir ursprünglich gelernt haben, wie eine „starke Führungskraft“ zu sein hat. Es kann daher hilfreich sein, bewusst am eigenen Führungsverständnis zu arbeiten und möglicherweise hinderliche Glaubenssätze zu hinterfragen.
Das ist die Basis, auf der folgende weitere Faktoren aufbauen. Auch bei diesen geht gerade von Führungskräften eine starke Wirkung aus. Doch es führt auch, wer hohes Ansehen genießt, Experte in einem Gebiet ist oder aus anderen Gründen viel Gehör findet. Sie alle führen auf eine ihre Weise und können mindestens in bestimmten Situationen für psychologische Sicherheit sorgen.
Zuhören und Nicht-Wissen statt sofort zu bewerten
Selbst in geschützten Umgebungen äußert sich nicht jedes Teammitglied gleich laut und explizit. Gerade aber die leiseren Töne und Sichtweisen von ruhigeren Personen können wesentlich sein. Führende sollten bewusst darauf achten, auch diese Personen zu Wort kommen lassen und sie aufrichtig nach ihrer Sichtweise fragen. Die Teams erfahren über die Zeit, dass alle Köpfe und Stimmen gebraucht werden. Wichtig ist dabei allerdings die innerlich offene Haltung – wir können von jeder Person und Sichtweise etwas lernen, wenn wir dem Impuls widerstehen, alles sofort zu bewerten.
Ein ehrliches „Ich weiß es nicht“ einer Führungskraft hat oft eine stärkere Wirkung, als wir uns das üblicherweise vorstellen. Weil es den Stempel der Unfehlbarkeit von der Führungskraft entfernt. Und Beschäftigte erkennen, dass es okay ist, auch über Nicht-Wissen zu sprechen. Außerdem wird klar, dass es eben unbedingt auch die Ideen und Meinungen der Mitarbeitenden braucht, und nicht pauschal davon auszugehen ist, dass das Management schon alle Antworten parat haben wird.
Auf Offenheit wertschätzend reagieren
Die eigenen Kolleginnen und Kollegen einzuladen, ihre Stimme zu erheben, ist nur der erste Teil. Noch wichtiger ist, wie Führende auf geäußerte Bedenken, Kritik und Sorgen reagieren. Wer kritische Stimmen abtut oder durchscheinen lässt, dass er oder sie diese für Blödsinn hält, sollte sich nicht wundern, wenn die Stimmen wieder leiser werden.
Führende sollten in jedem Fall Wertschätzung für das Gesagte ausdrücken. Denn es könnte das Gegenüber viel Überwindung gekostet haben, dies zu äußern. Und es zeigt Mitarbeitenden, dass ihr Beitrag willkommen ist!
Anschließend können gute Nachfragen helfen, um die Spannung noch besser zu verstehen und sie in produktive Energie umzuwandeln.
Innovation braucht Irrtum
Immer, wenn wir mit komplexen Fragestellungen konfrontiert sind, gibt es nicht die eine richtige Antwort. Wollen wir Innovation haben, müssen wir akzeptieren, dass Irrtümer und falsche Annahmen Teil des Prozesses sind.
Das muss aber explizit formuliert werden, denn traditionell ist unser Verständnis im Berufsleben eher jenes, nichts falsch machen zu dürfen. Achtung: Natürlich ist es problematisch oder sogar schädlich, wenn jemand bewusst eine Regel oder Werte verletzt, oder denselben Fehler mehrfach wiederholt – darum geht es hier nicht!
Bei Irrtümern geht es vielmehr um Annahmen, die sich später als nicht zutreffend herausgestellt haben. Wer mutig in unbekanntes Terrain laufen will, wird unterwegs auch mal irren und seinen Weg korrigieren müssen. Das ist Teil von Komplexität, es ist eben nicht alles vorhersehbar.
Doch weil wir oft anders sozialisiert wurden, ist es wichtig, dass Führende genau dies thematisieren und dazu beitragen, dass über Lernerfahrungen, Irrtümer und Fehler proaktiv, offen und wertschätzend gesprochen werden kann. Das kann beispielsweise im Rahmen von Failure Parties, Fuck-up Nights oder mindestens in regelmäßigen Teamreflektionen passieren.
Psychological Safety als Basis für eine lernende Organisation
Eine psychologisch sichere Umgebung allein ist noch kein Garant für den Erfolg eines Unternehmens. Dafür braucht es noch weitere Faktoren wie eine klare Ausrichtung und hohe Leistungsstandards.
Allerdings ist eine psychologisch sichere Umgebung zentral wichtig, um überhaupt eine lernende Organisation zu ermöglichen. In einer Arbeitskultur, in der Menschen sich sicher und angstfrei fühlen, ist die Wahrscheinlichkeit deutlich höher, dass auch unsichere Ideen ausprobiert werden, dass Fehlentwicklungen und Bedenken zeitnah geäußert werden, dass Irrtümer nicht nur geduldet, sondern anerkannter Teil der Arbeit sind und Konflikte, die es an jedem Arbeitsplatz gibt, produktiv gelöst werden.
Heutzutage, wo wir mit ständigen Veränderungen und komplexen Herausforderungen konfrontiert sind, brauchen Organisationen für ihre Zukunftsfähigkeit weder bessere Planung noch bessere Vorhersagen. Sie brauchen stattdessen eine Kultur des schnellen Ausprobierens und schnellen Lernens. Es sollte daher ein Anliegen jedes Unternehmens sein, eine möglichst psychologisch sichere Umgebung zu schaffen.