Nach dem 1. Teil meiner Ausführungen zum Recruiting von IT-Spezialisten und Softwareentwicklern am Montag hier Teil 2 mit einer Rezension des praxiserprobten Handbuchs von Joel Spolsky, dem Mitgründer des IT-Forums Stack Overflow. Passend zur CeBIT 2014.
Die knapp 170 Seiten des englischsprachigen Buches hatte ich auf meiner Rückreise von London fix durchgearbeitet, da sie sehr launig und witzig geschrieben sind. Man merkt sehr schnell, dass der Autor Ahnung hat, weil er selbst seit vielen Jahren IT-Talente rekrutiert.
Das Buch von Joel Spolsky
Auf den ersten Seiten erfährt der Leser anschaulich, warum es sich lohnt im Bereich Softwareentwicklung nur mit den Besten zusammen zu arbeiten. Da Software in der Vervielfältigung keine hohen Stückkosten produziert, liegt der Verkaufserfolg einzig in deren Qualität. Spolsky ist der Ansicht, dass durchschnittlich begabte Softwareentwickler auch nur durchschnittlich gute Software produzieren werden. Er zieht einen Vergleich mit klassischer Musik, indem er konstatiert, dass nur Toptalente in der Lage sind eine Beethoven-Symphonie zu schreiben, egal wie lange man den durchschnittlich Begabten die Chance dazu gibt.
Insofern zielt die folgende Anleitung ausschließlich auf das Recruiting von IT-Top-Talenten ab. Und dass es die nicht freilaufend auf dem Arbeitsmarkt, insbesondere nicht auf allgemeinen Jobbörsen gibt, dürfte auch klar sein. Deswegen setzt Stack Overflow mit seinen Produkten Careers 2.0 genau dort an, wo allgemeine Stellenbörsen aufhören.
Was Softwareentwicklern wirklich wichtig ist
- Persönliches Wachstum und fortlaufendes Lernen in und mit der Firma
- Ein erstklassiges Team, das zusammenpasst
- Ein kompetentes Management, das wirklich Ahnung hat von dem, was es tut
- Möglichst wenig bürokratische Hindernisse bei der Arbeit
- Gestaltungsfreiheiten und hohe Einflussmöglichkeiten auf die eigene Arbeit
- Begeisterung für die Produkte des Unternehmens
- Herausragende technische Arbeitsumgebungen und Hardware, gerne auch mit scheinbar überflüssigem technischen Spielzeug
- Eine Einbindung in die Visionen und Ziele des Unternehmens
- Kreative Arbeit, z.B. das Schreiben neuen Codes anstelle der hundertsten Überarbeitung des alten Codes
- Der Standort des Unternehmens sowie die Möglichkeit im Homeoffice zu arbeiten
- Eine helle, freundliche Arbeitsumgebung mit Tageslicht, ergonomischen Möbeln und anderen Wohlfühlfaktoren
- Rückzugsräume zum konzentrierten Arbeiten
Das klingt nach einer Menge Ansprüche. Wenn man es allerdings genau betrachtet, sollte das der Anspruch jedes Arbeitnehmers an sein Unternehmen sein. Nur hapert es wahrscheinlich bei der umfassenden Erfüllung derselben in vielen Unternehmen gewaltig.
Wir lernen: In einem Bewerbermarkt mit wenigen, aber anspruchsvollen IT-Talenten liegt die Messlatte, was ein Unternehmen bieten muss, hoch. Sehr hoch.
Hochschulmarketing als Erfolgsfaktor
Es gilt die IT-Talente bereits von Anfang an mit dem Unternehmen in Kontakt zu bringen. Ein Grund, warum die DATEV sich zum Beispiel am Software Campus beteiligt.
Spolsky spricht sich aber vehement gegen Mitarbeiterempfehlungen aus, insbesondere wenn dafür Prämien winken. Dies führen maximal zu Passung, jedoch in den seltensten Fällen zu gleich hoher Talent-Qualität. Zudem werde die notwendige intrinsische Motivation durch die wesentlich schwächere extrinsische Motivation ersetzt. Wer freiwillig und aus Überzeugung empfiehlt und dabei die Unternehmensziele im Blick hat, wird bessere Empfehlungen geben, als jemand für den die Zahlung der Prämie im Vordergrund steht.
Stattdessen setzt er auf überdurchschnittlich hohe Einstiegsangebote, die er Ex-Praktikanten unterbreitet, von deren Fähigkeiten er überzeugt ist. Dies verhindere ein Begeistern für andere Firmen.
Der Bewerbungsprozess – Personaler müssen umdenken
Grundsätzlich hält Spolsky nicht viel von Lebensläufen und deren Aussagekraft. Kommt mir irgendwie bekannt vor. Er versucht durch gezielte Auswahl der Recruiting-Kanäle bereits sehr hochwertige Bewerbungen zu erhalten und nutzt die Lebensläufe dann als erstes Sortierkriterium.
Dabei sind für ihn zahlreiche Punkte im Lebenslauf von Softwareentwicklern relevant, um den Bewerber in die nächste Runde zu nehmen. Diese Kriterien zum Erkennen eines IT-Top-Talents sind jedoch keine klassischen Einstellungsvoraussetzungen, sondern dienen lediglich dem Zweck, die beiden EINZIGEN (!) bei Bewerbern relevanten Eigenschaften
- Smart (kennt sich aus, weiß sich zu helfen, gestaltet, passt gut ins Team)
- Gets things done (packt an, erbringt Höchstleistungen, ist kreativ und innovativ)
besser einschätzen zu können:
Woran man ein IT-Top-Talent erkennt
- Leidenschaft für das Programmieren seit Kindesbeinen an
- Eigene Programmierprojekte in der Freizeit
- Individuelles Anschreiben, um zu zeigen, dass er genau hier arbeiten will. Massenanschreiben signalisieren im IT-Umfeld tendenziell eher Verzweiflung
- Ausreichende Sprachkenntnisse, die wichtig sind, um die eigenen Ideen schlagkräftig darstellen zu können sowie für das Verfassen von Dokumentationen
- Achtet auf Rechtschreibung! – Ein erst einmal erstaunlich wirkender Punkt, der aber verständlich wird, mit dem Nachsatz, dass Programmierung mit Genauigkeit zu tun hat. Wer selbst bei einem Anschreiben schlampig ist und sich keine Mühe gibt, wird nie ein hochqualifiziertes IT-Talent sein
- Köpfchen in Punkto Mathematik, guter Schachspieler oder das Gewinnen von Preisen bei analytischen Leistungstests
- Erfolgreiches Durchlaufen anspruchsvoller Auswahlverfahren, z.B. an Elite-Universitäten, bei denen die Aufnahmequote < 30% liegt
- Diversity-Aspekte, also die Unterscheidung zu allen anderen im Team, damit neue Ansätze eingebracht werden. Ein besonders spannender Punkt, weil häufig diejenigen eingestellt werden, die genauso denken wie der Einstellende
- Kenntnis ausgefallener, moderner bzw. schwieriger Programmiersprachen als Indiz dafür, dass es sich um keinen „Mainstream-Entwickler“ handelt
Wovor Spolsky bei der Auswahl von IT-Top-Talenten warnt
Tödlich sei insbesondere das klassische Keyword-Matching bei Programmiersprachen. Ein Top Softwareentwickler sei fähig jede neue Programmiersprache auf Basis seines bestehenden Wissens und seiner Leidenschaft zu lernen. Hier greift Spolsky die in Unternehmen häufig praktizierte Methode des softwaregestützten Auswahlverfahrens deutlich an. Diese Verfahren erweisen sich schon deswegen als nutzlos, weil Bewerber (insbesondere diejenigen, die nicht zu den Top-Talenten zählen) zwischenzeitlich einfach die notwendigen Keywords angeben, um durch diese Stufe des Auswahlverfahrens zu gelangen.
Was noch viel entscheidender ist: Die den Einstellungsprozess vorantreibenden HR-Akteure müssen einen Einblick haben, welchen Wert die jeweiligen Programmiersprachen im Markt haben und wie sich deren Bedeutung entwickelt. Dieser Gedanke gießt Öl ins Feuer derer, die Personalrecruiting in den Fachbereichen im Unternehmen sehen und nicht in HR, wie zum Beispiel Bloggerkollege Henrik Zaborowski.
Kein Recruitainment-Schnickschack im Auswahlprozess
Von Recruitainment-Elementen im Rahmen des Auswahlverfahrens hält Spolsky nichts. Insbesondere ein sogenanntes Programming-Quiz schrecke die Top-Entwickler ab, die es gar nicht nötig hätten, sich auf solche Spielereien einzulassen. Tendenziell ziehe das eher die schlechten Entwickler an, die sich aus Verzweiflung durchbeißen.
Hm. Gerade dieser Punkt scheint mir stark diskutierbar, da zur Zeit in Deutschland die Recruitainment-Elemente stark an Bedeutung zunehmen. Allerdings ist die Frage trotzdem unbeantwortet, ob damit tatsächlich die TOP-TALENTE angezogen und rekrutiert werden …
Ein intensives und langwieriges Auswahlverfahren
Spolsky nutzt stets ausführliche Telefoninterviews bevor es zu einer Einladung von Bewerbern kommt. Dabei stellt er bereits grundlegende programmiertechnische Fragen. Diese seien anfangs sehr einfach, so dass die Antworten wie aus der Pistole geschossen kommen müssen. Tut sich der Bewerber bereits hier schwer oder fällt es ihm schwer sich verständlich auszudrücken, ist er aus dem Bewerbungsprozess ausgeschieden. Telefoninterviews ermöglichen es außerdem, sich voll und ganz auf Gesprächsinhalte zu konzentrieren ohne vom Gegenüber optisch beeinflusst zu werden.
Nach den Telefoninterviews werden die weiterhin interessanten Kandidaten eingeladen und von jetzt ab wie „Könige behandelt“, z.B. mit Übernachtung in einem teuren Hotel und Limousinen-Transfer zu den Bewerbungsgesprächen. Für Spolsky, der zu diesem Zeitpunkt bereits sicher ist, dass die Kandidaten grundsätzlich alle etwas auf dem Kasten haben, geht es nun vor allem um die perfekte Candidate Experience.
Denn egal wie die folgenden sechs bis neun Auswahlgespräche pro Kandidat ausgehen, der vom Unternehmen dabei vermittelte Eindruck zählt und bleibt.
Ja, Sie haben richtig gelesen: Es folgen sechs bis neun (!) weitere persönliche Gespräche. Dabei werden neben der einstellenden Führungskraft auch mindestens fünf sogenannte Peers, also Personen, mit denen der Bewerber später zusammenarbeiten würde, ebenfalls zum Interviewer.
Manager stellen oft die falschen Softwareentwickler ein
Der Hintergrund dieser Idee leuchtet ein: Manager entscheiden auf einer völlig anderen Ebene als Menschen, die an der Basis tagtäglich mit neuen Mitarbeitern in Unternehmen operativ zusammenarbeiten. Das Mitspracherecht ist nicht nur eine Wertschätzung an die Mitarbeiter, sondern auch deswegen sinnvoll, weil diese die eigentlichen Knowhow-Träger sind. Laut Spolsky stellen Unternehmen, die lediglich Einstellungsinterviews durch Manager vornehmen, tendenziell schlechter qualifizierte Entwickler ein.
Bei allen Auswahlgesprächen gilt: Entscheidet sich einer der Gesprächspartner gegen den Bewerber, wird er nicht eingestellt. Gleiches gilt, wenn keine klare Entscheidung für einen Kandidaten gefällt wird. Entweder sind alle tatsächlich überzeugt, oder es gibt keine Einstellung.
Softwareentwicklung sei ein derart komplexes Unterfangen geworden, dass die Softwarespezialisten der Zukunft flexibel einsetzbar sein und sich gegebenenfalls kurzfristig in neue Technologien, Projekte und andere technische Themen einarbeiten müssen. Daher kann und darf es keine „Einstellen ja, aber nicht bei mir“-Entscheidungen geben.
Einen wichtigen Tipp gibt Spolsky noch: Vor dem Interview nicht mit anderen Interviewern über den Kandidaten sprechen, um Voreingenommenheit (gilt in positiver wie negativer Richtung gleichermaßen) zu vermeiden. Hier spricht Spolsky eindeutig als Visionär der New Work.
Im Auswahlverfahren vor allem die Passung zum Unternehmen prüfen
Ein solches Vorgehen könnte auch bei deutschen Auswahlverfahren durchaus sinnvoll sein. Allerdings stelle ich mir das kulturell sehr schwierig vor, da oft schon drei Auswahlgespräche als zu anspruchsvoll und aufwändig von den Bewerbern empfunden werden.
Jedoch sind die beiden Vorgehensweisen nicht so leicht miteinander vergleichbar, wie mich Stack Overflow Mitarbeiter Paul Frey aufklärt: Diese vielen Auswahlgespräche finden oft in einem sehr informellen Rahmen, zum Beispiel in einem freizeitlichen Ambiente oder beim Essen statt. Es geht vor allem darum, die Passung zum Unternehmen und zum Team zu prüfen. Immerhin arbeitet man bestenfalls für die nächsten Jahre sehr eng zusammen. Daher werden diese Gespräche auch nicht als zusätzliche Belastung oder Schikane empfunden. Vor allem nicht dann, wenn sie so wertschätzend in ein Employer Branding Gesamterlebnis eingebettet werden.
Für alle, die weitere Einblicke in die spannende Welt des Rekrutierens von Softwareentwicklern erhalten möchten, denen lege ich das Buch von Joel Spolsky ans Herz. Und wer noch mehr wissen will, der sollte bei Bloggerkollegin Eva Zils das Interview mit Joel Spolsky von Stack Overflow lesen.