Die demografische Kurve kippt, und mit ihr droht Unternehmen eine stille Erosion ihres wertvollsten Kapitals: Wissen. Genauer: Erfahrungswissen, also Informationen, die durch Erlebnisse und Erkenntnisse aus der Praxis angereichert sind.
Dieser Gastbeitrag von Sebastian Walker, omnora, wirft einen systemischen Blick auf die nächste Stufe der Wissensorganisation: den Aufbau einer lernfähigen, intelligenten Infrastruktur, die Erfahrungswissen zugänglich macht, kontextualisiert und für alle Ebenen der Organisation nutzbar gestaltet.
Die Demografiewelle hat uns erreicht
Bis 2036 werden in Deutschland über 20 Millionen Erwerbstätige aus dem Berufsleben ausscheiden, so eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) – das sind über 30% des heutigen Arbeitsmarkts. Die meisten von ihnen gehören der Babyboomer-Generation an.
Sie hinterlassen nicht nur offene Stellen, sondern auch eine Wissenslücke, die mit reinen Offboarding-Gesprächen oder Ablagesystemen kaum zu schließen ist. Klassische Wissensdatenbanken, Präsentationen oder Übergabe-Ordner sind selten anschlussfähig genug, um das Erfahrungswissen tatsächlich produktiv weiterzugeben.
Was es braucht, ist ein neues Verständnis von Wissensmanagement – weg vom statischen Speichern, hin zur dynamischen Nutzung.
Damit rückt nicht nur die Sicherung in den Fokus, sondern das Ziel, Wissen dauerhaft anschlussfähig zu machen – für Onboarding, Weiterbildung, Entscheidungsfindung und die strategische Zukunftsfähigkeit der gesamten Organisation.
Wissen braucht Anwendung, nicht Archiv
Im Arbeitsalltag bedeutet das: Erfahrungswissen muss dort abrufbar sein, wo es gebraucht wird. Der Transfer darf nicht auf punktuelle Offboarding-Maßnahmen beschränkt bleiben. Stattdessen brauchen Organisationen Prozesse, in denen Wissen im Tagesgeschäft mitläuft – über überlappende Einarbeitungsphasen, Mentoring oder Communities of Practice. Wenn Mitarbeitende ihr Wissen laufend in strukturierte, kollaborative Formate einbringen, entsteht ein nachhaltiger Wissenstransfer – nicht erst kurz vor Renteneintritt.
Viele Unternehmen sammeln Wissen, doch häufig verstaubt es im Intranet. Oft liegt das Problem nicht an der Menge, sondern an der mangelnden Anwendungsfähigkeit: Inhalte sind zu abstrakt, zu generisch oder nicht in den konkreten Arbeitskontext eingebettet. Mitarbeitende finden zwar Informationen, wissen aber nicht, ob sie aktuell, zuverlässig oder für ihre Aufgabe relevant sind.
Lebendige Nutzung braucht Pflege, Rückkopplung und Relevanz. Wissen ist keine Excel-Tabelle – es lebt durch Beispiele, Kontext und Verständlichkeit. Wer auf Dauer anschlussfähig bleiben will, muss Erfahrungswissen in Prozesse, Rollenprofile und tägliche Entscheidungen einweben.
Lernen aus der Praxis
Erfahrungswissen ist selten objektiv. Es ist geprägt durch Geschichten, implizite Regeln und situative Routinen. Genau deshalb ist es so wertvoll – aber auch so schwer zu sichern. Wer glaubt, man könne es einfach in Dokumente pressen, irrt.
Ein zukunftsfähiger Ansatz liegt in der digitalen Erschließung von Erfahrungswissen – direkt im Arbeitskontext. Statt klassischer Übergabeformate oder Beratergespräche kann Wissen etwa durch kurze Videoerklärungen, Fallbeispiele oder geführte Frageformate dokumentiert werden.
KI-Systeme unterstützen dabei, Inhalte automatisch zu transkribieren, zu verschlagworten und kontextbezogen bereitzustellen. So entsteht aus implizitem Wissen ein aktivierbarer Erfahrungspool – nutzbar für Onboarding, Prozesslernen und situative Hilfestellung im Arbeitsalltag.
Technologie integriert nutzen
Moderne Systeme bieten längst mehr als Speicherplätze: Sie können Sprache in strukturierte Inhalte verwandeln, Videos automatisch in Schritt-für-Schritt-Anleitungen überführen oder Wissenseinträge mit Metadaten anreichern. Besonders leistungsfähig sind KI-gestützte Systeme, die Zusammenhänge erkennen und Vorschläge machen – etwa in Form kontextbasierter Artikel, Empfehlungen im Workflow oder automatisch generierter Lernmodule.
Der Unterschied zur klassischen Ablage? Relevanz, Zeitpunkt und Anschlussfähigkeit. Statt ein Dokument zu suchen, das vielleicht existiert, bekommt die oder der Mitarbeitende genau dann Hilfe, wenn sie gebraucht wird – ob im Chatbot, im Intranet oder als visuelle Schrittfolge auf einem mobilen Gerät.
Aber: Ohne Strategie wird Technik zur Datenablage mit schönem Interface. Ein Wiki ohne Verantwortung veraltet schneller, als es befüllt wird. Eine KI ohne saubere Wissensbasis halluziniert statt hilft. Es braucht klare Zuständigkeiten, Qualitätsstandards und
Feedbackschleifen – sonst ist jede Technologie ein leeres Versprechen.
Doch Technologie allein genügt nicht. Führung ist der Schlüssel. Denn die beste Plattform scheitert, wenn Wissen als Machtmittel begriffen wird – oder wenn Mitarbeitende Sorge haben, sich angreifbar zu machen, sobald sie Fehler, Irrwege oder persönliche Erfahrungswerte teilen. Vertrauen entsteht nicht durch Ansage, sondern durch Haltung.
Eine Führungskraft, die eigene Entscheidungen reflektiert, sich als lernend zeigt und Wissen offen teilt, setzt einen Standard, an dem sich andere orientieren können. Umgekehrt reicht es nicht, gelegentlich Wissen auf LinkedIn zu posten – entscheidend ist, ob Wissen intern aktiv kultiviert wird: in Meetings, in Übergaben, in Fehleranalysen. Wissensarbeit beginnt mit dem Mut zur Transparenz.
Vom Erfahrungswissen zur Zukunftsressource
Wissen braucht Regeln – und Menschen, die sie mit Leben füllen. Governance bedeutet: klare Rollen, Prozesse und Standards. Wer prüft Inhalte? Wer aktualisiert? Wer sorgt dafür, dass Wissen auffindbar bleibt? Antworten auf diese Fragen sind kein Extra, sondern Voraussetzung.
Wissensmanagement ohne Governance ist wie ein Server ohne Backup: Es funktioniert – bis zum ersten Ernstfall. Erst wenn Verantwortung klar geregelt ist, entsteht eine belastbare Struktur. Und nur dann wird Wissensarbeit zur verlässlichen Ressource.
Erfahrungswissen ist nicht nur Rückblick, sondern Zukunftskapital. Was heute geteilt wird, kann morgen Grundlage für automatisierte Abläufe, datenbasierte Entscheidungen oder KI-gestützte Systeme sein. Damit das gelingt, muss Wissen aus Köpfen herausgelöst und in anschlussfähige Formate gebracht werden.
Zeitfaktor beim Wissensmanagement beachten
Organisationen, die frühzeitig beginnen, diese Wissensbasis aufzubauen, schaffen die Grundlage für Transformation – nicht als Projekt, sondern als Fähigkeit. Wissen, das heute dokumentiert wird, kann morgen Lernplattform, Entscheidungshilfe oder Trainingssystem sein. Es wird zum strukturellen Rohstoff für eine neue Generation lernfähiger, technologieunterstützter Organisationen.
Viele Organisationen behandeln Wissensmanagement noch als operativen Nebenschauplatz. Dabei ist es ein strategischer Hebel – für alles, was Veränderung erfordert: neue Technologien, neue Rollen, neue Mitarbeitende.
Wer heute Prozesse digitalisiert, aber auf veraltete Inhalte setzt, erzeugt mehr Frust als Fortschritt. Wer Wissenssilos toleriert, blockiert Innovation. Deshalb gehört Wissensnutzung ins Zentrum strategischer Programme. In Zielvereinbarungen, in Projektstrukturpläne, in die Unternehmens-DNA.
Denn Lernen ist kein Add-on – es ist Betriebssystem.
Was jetzt zu tun ist
Wissensnutzung strategisch zu verankern beginnt nicht mit einem Tool, sondern mit Haltung, Struktur und klarer Priorität. Drei erste Schritte können den Weg ebnen:
- Ziele definieren: Welche Art von Wissen ist für Ihre Organisation besonders kritisch? Wo drohen Lücken, wenn erfahrene Mitarbeitende ausscheiden? Welche Nutzungsszenarien sind realistisch – z. B. Onboarding, Prozesswissen oder situatives Nachschlagen im Arbeitsfluss?
- Systeme klug integrieren: Welche technologischen Komponenten unterstützen dabei, Wissen zu erfassen, intelligent aufzubereiten und verfügbar zu machen? Wie lassen sich bestehende Tools, Prozesse und Plattformen miteinander verzahnen, damit Wissen automatisch dort auftaucht, wo es gebraucht wird?
- Kreisläufe gestalten: Welche Formate und Schnittstellen sorgen dafür, dass Wissen kontinuierlich aufgenommen, validiert und wiederverwendet wird? Ziel ist kein einmaliger Wissensinput – sondern ein dynamischer Kreislauf, in dem Inhalte aktualisiert, in verschiedene Output-Formate überführt und in Arbeitsprozesse rückintegriert werden können.
Nur wer Wissen als Infrastruktur denkt, wird langfristig anschlussfähig bleiben. In der Kombination aus Haltung, Prozessen und Technologie liegt die Chance, Erfahrungswissen nicht nur zu erhalten – sondern zum Motor für Entwicklung, Kollaboration und zukunftsfähige KI-Anwendungen zu machen.