Assessment Center gehören zu den zuverlässigsten Verfahren der Potenzialdiagnostik. Sie prüfen nicht nur, was Menschen wissen, sondern vor allem, wie sie arbeiten: in Interviews, simulierten Gesprächen und Strategiepräsentationen. Wie künstliche Intelligenz (KI) hierbei Einzug halten kann, verraten Michael Paschen und Jacqueline Bachmann in diesem Gastbeitrag.
Keine Frage des ob, sondern des wie
Die Vorbereitung und Durchführung erfolgt dabei meist relativ spontan und unter Zeitdruck. Mit der Verbreitung generativer KI verändern sich Auswahl- und Entwicklungsdiagnostik rasant. Kandidat:innen nutzen Tools in der Vorbereitung für Struktur, Argumentationslinien und Visualisierung und Beobachtende müssen mit diesen veränderten Bedingungen umgehen. KI sitzt damit längst mit im Raum.
Die zentrale Frage lautet dabei nicht mehr ob, sondern wie sie so integriert wird, dass Validität, Fairness und Akzeptanz erhalten bleiben.
Vorbereitung vs. situatives Handeln: Der „Schieberegler“ als Leitlogik
Für die Praxis hilft ein einfaches Modell: Stellen Sie sich einen Schieberegler zwischen Vorbereitung und Situationsmanagement vor.
- Rollenspiele (z. B. Konfliktgespräche): Erfolg resultiert überwiegend aus situativem Verhalten, spontaner Flexibilität und sozialer Kompetenz. In der Tendenz gilt: ~20 % Vorbereitung / ~80 % Situationsmanagement. KI kann hier unterstützen (z. B. Erstellung von Gesprächsleitfäden), bestimmt aber den Gesamterfolg nur begrenzt.
- Fallstudien & Strategiepräsentationen: Hier dominiert die Vorbereitung (Analyse, Struktur, Storyline). Tendenz: ~80 % Vorbereitung / ~20 % Situation. Entsprechend kann KI inhaltlich stärker wirken. So wie in der tatsächlichen Arbeitswelt.
Diese Gewichtung spiegelt die Realität wider: Wer ein schwieriges Konfliktgespräch führt, profitiert in der Gesprächsvorbereitung zwar von KI, muss die Situation dann aber authentisch meistern und vor allem flexibel auf sein Gegenüber eingehen können.
Wer eine konzeptionelle Aufgabe löst, kann mit KI deutlich effizienter und strukturierter arbeiten und erzielt dabei insgesamt einen größeren Effizienz- und Qualitätsgewinn. Genau deshalb ist es fair und sinnvoll, im Assessment diese Logik abzubilden und KI dort zuzulassen, wo sie auch im Job genutzt wird.
Was in realen ACs passiert: KI verstärkt, aber nivelliert nicht
Beobachtungen aus jüngsten Verfahren mit ausdrücklich erlaubter KI-Vorbereitung zeigen ein konsistentes Muster:
Die Rangfolge bleibt stabil. KI hebt das Gesamtniveau etwas an, verändert aber selten die Reihenfolge der Leistung. „Starke“ Teilnehmende – mit hoher Kompetenz – setzen KI produktiv ein und heben ihr Level. „Schwächere“ erhalten Impulse (z. B. generische Gliederungen), ohne dadurch Spitzenleistung zu erzeugen. Wer kritisch hinterfragt, Hypothesen bildet, Annahmen testet und eine klare Story aufbaut, erzielt auch mit KI die besseren Ergebnisse.
Konkretes Beispiel: In einer Kohorte mit vier KI-gestützten Strategiepräsentationen lagen die Resultate nahezu deckungsgleich mit der Gesamteinschätzung der Personen: Der sehr starke Teilnehmende hob sein Niveau sichtbar; der trägere blieb trotz KI generisch. Richtig war vieles, aber ohne präzise Zuspitzung.
Kurz: KI vergrößert oft die Sichtbarkeit guter Denkprozesse, ersetzt sie aber nicht. Für Sie als Verantwortliche:n heißt das: Sie können weiter valide Beobachtungen machen – vorausgesetzt, Sie gestalten Aufgaben, Bewertung und Nachgespräch sorgfältig.
Chancen und Grenzen – ohne Hype
Werfen wir nun noch einen Blick auf die Chancen und Risiken eines Einsatzes von KI im Assessment Center.
Chancen:
- Höhere Ausgangsqualität in Konzeptaufgaben.
- Mehr Übersicht für Beobachtende durch strukturierte Notizen und Zusammenfassungen.
- Standardisierte Briefings unterstützen Fairness und Konsistenz.
- Sichtbar wird eine Schlüsselkompetenz der Gegenwart: reflexive KI-Kompetenz – Ergebnisse einordnen, Lücken erkennen, Annahmen offenlegen.
Risiken:
- Stark variierende Prompting-Fähigkeiten verbessern Outputs, ohne zwingend Jobkompetenz zu spiegeln.
- Scheingenauigkeit: brillant klingende, aber generische Texte.
- Steigende Anforderungen an die fachliche Urteilskraft, um Substanz von Rhetorik zu trennen.
Gegenmaßnahmen dort, wo KI zugelassen ist:
- Klare Zeitfenster.
- Pflicht zur Offenlegung von Quellen und Annahmen.
- Strukturiertes Nachgespräch, das KI-Anteile entflechtet und individuelle Leistung sichtbar macht.
Welche Kompetenzen zählen im KI-Zeitalter?
Anforderungen verschieben sich, ohne das Menschliche zu marginalisieren. Automatisierbar sind vor allem basales Faktenwissen und Standardanalysen. Relevanter werden Fähigkeiten, die über die Maschine hinausgehen: kritisches Denken, Hypothesenbildung, das Testen von Annahmen und das Übersetzen von Ergebnissen in sinnvolle Entscheidungen.
Unternehmerisches Handeln bleibt menschlich, wo es um Priorisierung unter Unsicherheit, Verantwortungsübernahme und das Abwägen von Nebenwirkungen geht.
In der Führung zeigt sich die Grenze der Automatisierung am deutlichsten: Vertrauen aufbauen, Konflikte lösen, Sinn vermitteln und Veränderung begleiten – das bleibt Kern menschlicher Wirksamkeit.
Als Querschnitt liegt darüber die reflexive KI-Kompetenz: zu verstehen, wofür ein System geeignet ist, was es systematisch über- oder unterschätzt und wie man es produktiv in die eigene Arbeit einbettet.
Rechtliche und ethische Leitplanken
Professionalität heißt auch: klare Rahmenbedingungen. Transparenz gegenüber Kandidat:innen ist Pflicht – wozu wird KI eingesetzt, welche Tools sind erlaubt, wie werden Daten geschützt? Der EU-AI-Act fordert menschliche Aufsicht und Verantwortungsübernahme; eine automatisierte Eignungsentscheidung ist kein gangbarer Weg.
Bias-Checks und dokumentierte Bewertungslogiken gehören ebenso dazu wie ein nachvollziehbarer Audit-Trail der Prüfungsschritte und Prompts.
Wer diese Standards etabliert, stärkt sowohl Compliance als auch Vertrauen.
Change Management: Vom Tooltest zur verankerten Praxis
Die Integration von KI in ACs ist kein technisches Add-on, sondern Organisationsentwicklung. Klassische AC-Logik verspricht hohe Kontrollierbarkeit und Vergleichbarkeit. Künftig bewerten wir häufiger eine Kombinationskompetenz: Wie gut erzeugen Menschen mit KI belastbare Ergebnisse? Das verlangt Überzeugungsarbeit bei HR, Fachbereichen und Führungskräften.
Ein bewährter Dreischritt:
- Zielbild & Leitplanken: Gemeinsame Verständigung von HR, Fachbereichen und – wo vorhanden – Betriebsrat. Was bleibt strikt menschlich? Wie dokumentieren wir Nutzung und Entscheidungen?
- Pilotierungen: Freiwillige Teilnehmende in ausgewählten Übungen; KI in der Vorbereitung erlaubt; klare Rahmenbedingungen; verbindliches Nachgespräch. Beobachtende erhalten ein Kurztraining: typische KI-Artefakte erkennen, generische Eloquenz von substanzieller Herleitung trennen, Bewertungsanker anwenden. Anschließend Kalibrierung: Woran erkennen wir Qualität? Wo droht Blendwirkung?
- Verankerung: Richtlinien, Checklisten, Beispiel-Prompts, Daten-Do/Don’ts, Schulungsformate. Begleitende Kennzahlen – Konsistenz der Bewertungen, Zeitgewinn, Candidate Experience, Trefferqualität nach Onboarding machen den Nutzen sichtbar und erhöhen Akzeptanz.
Wesentliche Botschaft: Unterschiede werden nicht nivelliert. Wer zwischenmenschlich schwach agiert, führt auch mit KI keinen überzeugenden Dialog. Wer konzeptionell stark ist, kann sein Niveau mit Technologie heben – aber nicht herbeizaubern.
Gelebte Erfahrung baut Skepsis schneller ab als Argumente.
Praktische Umsetzung ohne Checklisten-Monster
Für die unmittelbare Praxis genügen wenige, dafür saubere Entscheidungen:
- Übungsportfolio prüfen: Wo bleibt KI ausgeschlossen? Wo stiftet sie diagnostischen Mehrwert?
- Reflexionsgespräch verankern: Wie wurde KI eingesetzt? Welche Annahmen lagen zugrunde? Was wäre ohne KI anders?
- Bewertungsanker bereitstellen: Substanz der Argumente, Kontextbezug, Entscheidungslogik, Umgang mit Unsicherheit – und Beobachtende darin trainieren, KI-Rhetorik zu erkennen.
- Datenhygiene sichern: freigegebene Tools, Anonymisierung, klare Verantwortlichkeiten.
- Dokumentation sicherstellen: Entscheidungen nachvollziehbar machen.
So wird aus Experimenten eine belastbare Routine.
Fazit
KI verändert Assessment Center – nicht als Ersatz für menschliches Urteil, sondern als Verstärker guter Arbeit. Ein kluger Schieberegler zur Integration von KI erhält Validität, spiegelt die Realität moderner Rollen und macht eine neue Kernkompetenz sichtbar: den reflektierten, wirksamen Umgang mit KI.
Wer Integration als Change-Prozess begreift, Grenzen klar definiert und Beobachtende stärkt, gewinnt an Effizienz, diagnostischer Tiefe und Akzeptanz.
Die Zukunft des Assessments ist hybrid, weil sie so der Wirklichkeit am nächsten kommt.









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