Jede „normale“ Marke – egal ob Softdrink, Auto oder Waschmittel weiß: Werte und Emotionen sind die Grundlage für eine starke, dauerhafte Kundenbeziehung und damit die Basis für den Erfolg. Man sollte meinen, dass das für Arbeitgebermarken ganz besonders gilt. Schließlich investiert man in einen Job nicht nur ein paar Euro fünfzig, sondern ein Drittel der Lebenszeit. Da müssten Markenwerte doch eine herausragende Rolle spielen. Die Zahlen erzählen eine andere Geschichte, sagt Gastautor Thomas Walter.
Die ernüchternde Wahrheit über Arbeitgebermarken und ihre Markenwerte
Um herauszufinden, welchen Einfluss Werte auf die Wahrnehmung von Arbeitgebermarken haben und wie die Werte das Verhalten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beeinflusst, wurden im Juli 2024 Befragungen durchgeführt. Befragt wurden n=1.000 Personen, die in den letzten 12 Monaten gekündigt haben bzw. n=1.000 Personen, die offen für einen neuen Job sind oder innerhalb der nächsten 12 Monate den Job wechseln möchten.
Das Ergebnis ist alarmierend:
- Fehlende Werte sind der wichtigste Kündigungsgrund: Wer seinen Job kündigt, kündigt nicht wegen des Gehalts oder wegen eines Umzugs, sondern weil man sich dort nicht wohlfühlt (43%)
- Menschen, die offen für einen neuen Job sind, würden im Durchschnitt auf fast 14% ihres Gehalts verzichten, wenn die Unternehmenskultur im angebotenen Job besser wäre. Umgerechnet auf ein durchschnittliches Bruttogehalt sind das 599,61 € im Monat. Bei einem Unternehmen mit 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern also fast 1,5 Millionen Euro im Jahr.
- Tatsächliche Unternehmenswerte rangieren irgendwo zwischen unbekannt (32%), ungenau (34%) und unwichtig: Nur 20% sagen, die Werte des eigenen Unternehmens wären ihnen wichtig.
Mit Standardwerten verliert man den Kampf um die Talente
Kein Wunder. Das Thema Werte im Unternehmen als Grundlage für eine starke Arbeitgebermarke wird in der Praxis mehr als stiefmütterlich behandelt. Wie sonst könnte es sein, dass Standards wie Vertrauen, Partnerschaft, Dynamik, Sicherheit und seit neuerem auch Wertschätzung in praktisch jedem Unternehmensleitbild oder Employer-Branding-Strategiepapier auftauchen? Allenfalls verziert mit ein bisschen Kreativität oder Vielfalt. Das ist, als ob alle Automobilhersteller versuchen würden, mit dem Thema „Fortbewegung“ Kunden anzulocken.
Die Folgen solcher „Grüner-Tisch-Werte“: Sie können keine Beziehung zwischen Arbeitgebermarke und Menschen begründen. Wer keine attraktiven und relevanten Markenwerte findet, ist hochgradig wechselanfällig und wird sich über kurz oder lang ein neues Umfeld suchen. Diejenigen, die bleiben, bilden sich ihr eigenes Wertesystem. So entsteht im Lauf der Zeit eine eigene informelle Unternehmenskultur, die auf dem gelebten Wertesystem aufbaut.
Die Schnittmenge zu den gewollten Werten ist dann eher zufällig. Gleichzeitig ist es sehr schwierig mit Standard-Werten neue Menschen für das Unternehmen zu begeistern. Das äußert sich in mangelnder Resonanz auf Recruiting-Maßnahmen und schlechten Konversionsraten im Einstellungsprozess.
Kultur kann man nicht befehlen. Aber lenken.
Die Lebenserfahrung sagt einem, dass man Kultur nicht einfach von oben verordnen kann. Tatsächlich baut jede Kultur – auch eine Unternehmenskultur – auf Wertevorstellungen und wertebasiertem Handeln auf und drückt sich in der dauerhaften Erzeugung von Werten aus. Sie ist wie ein Rad, das ab einem bestimmten Punkt aus sich selbst heraus rollt: Werte erzeugen Werte. Wegen dieses Eigenlebens kann auch der mächtigste CEO nicht einfach eingreifen und das Wertesystem nach seinen Vorstellungen umbauen. Selbst wenn die noch so richtig sind.
Die einzige Möglichkeit, um Unternehmenskultur zu verändern– wenn man nicht einen Großteil der Belegschaft entlassen will – besteht darin, bestehende Werte zu erkennen und in Maßen zu stärken, schwächen oder umzulenken. Die Herausforderung lautet also: Was genau sind die gelebten Werte in einem Unternehmen? Die Betonung liegt auf genau. Es gibt tausend Arten von Vertrauen, tausend Arten von partnerschaftlichem Umgang, tausend Arten von persönlicher Entfaltung. Allgemeinplätze helfen nicht weiter.
Gelebte Kultur kann man messen. Aber das ist schwieriger als man denkt
Allerdings kann man nicht einfach hingehen und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fragen: „Für welche Werte steht unser Unternehmen?“ Zum einen, weil bei solchen Umfragen viel zu viele sozial erwünschte Antworten gegeben oder die unerwünscht geglaubten verschwiegen werden. Zum anderen, weil man Unternehmenskultur nicht mit der momentanen Stimmung im Betrieb verwechseln darf. Das ist wie beim Klima und dem Wetter. Letzteres lässt sich leicht messen.
Im Zweifelsfall reicht ein Blick aus dem Fenster, bzw. in die Gesichter der Menschen um einen herum. Ersteres stellt die zugrundeliegenden Trends und Entwicklungen dar. An die kommt man nur mit Tricks. Beim Klima erhebt man dazu einen 30-Jahres-Durchschnitt. So viel Zeit hat man in Unternehmen normalerweise nicht. Stattdessen gibt es einen anderen Weg: Man muss die Messung abstrahieren.
Markenwerte messen wie ein Ingenieur
Ein guter, weil wissenschaftliche fundierter Weg ist es, sogenannte Typ-2-Emotionen abzufragen. Das sind emotional aufgeladene Begriffe wie z. B. Freundschaft, Offenheit, Abwechslung etc., die mit einer Marke in Verbindung gebracht werden können. In der Praxis sollte man bei einem möglichst großen Teil der Belegschaft eine ganze Batterie von ca. 50 dieser Begriffe abfragen („Beschreibt XYZ Ihr Bild von Ihrem Unternehmen?“). Solch eine Befragung ist schnell und einfach. Doch vor allem hat sie den Vorteil, dass die Menschen direkt aus dem Bauch heraus antworten, ohne lange darüber nachzudenken.
Die so gewonnenen Messdaten können mit modernen Algorithmen ausgewertet werden. Diese suchen im Datenpool nach Strukturen – Werten, die für den Algorithmus erkennbar nahe beieinander liegen. So entstehen Gruppen zusammengehöriger Begriffe. Jede dieser Gruppen bildet dann eine neue, über die einzelnen Begriffe hinausgehende Aussage. Einen tatsächlich gelebten Wert
So kann z. B. eine Kombination aus „Tradition, Heimat, Stolz und Hingabe“ als „Firmen-Patriotismus“ interpretiert werden. Oder eine Kombination aus „Ordnung und Fleiß in Verbindung mit einem Minimum an Rebellion“ ist – positiv gesehen – als „emsige Arbeit“ zu verstehen. Negativ gesehen beschreibt sie eine fast duckmäuserische Maloche.
Auf diese Weise erhält man die tatsächlich gelebten Werte, die die Arbeitgebermarke prägen. Besser und genauer als das in einer direkten Befragung jemals möglich wäre. Idealerweise fragt man gleichzeitig die Soll-Werte ab („Ist Ihnen XYZ in Bezug auf Ihre Arbeit wichtig“). Dann kann man aus dem Vergleich von Ist- und Soll-Zustand auf den ersten Blick Handlungsoptionen ableiten.
Datenbasiert gezielt die Unternehmenskultur beeinflussen
Das, was vorher eine Mischung aus Bauchgefühl, Wunschdenken und Brainstorming-Ergebnis war, wird so zur gemessenen Realität. Das mag nicht immer angenehm sein oder den eigenen Wünschen entsprechen. Aber es sind Zahlen, die die Wirklichkeit abbilden und auf die man sich verlassen kann. Sie stellen das Fundament für zielgerichtetes Handeln auf Basis der Markenwerte dar.
Jetzt kann in drei Schritten präzise und ergebnisorientiert an und mit den Unternehmenswerten gearbeitet werden.
- Strategische Ableitungen aus den gemessenen Daten treffen: Welche Werte entsprechen dem Zielbild? Welche müssen verstärkt oder abgeschwächt werden? Wo und bei wem bestehen Diskrepanzen zwischen Ist- und Sollwerten?
- Konzeptionelle Umsetzung der Werte-Strategie: Welche Maßnahmen sind geeignet, um die in Schritt 1 definierten Ziele im Unternehmen zu erreichen. Hier stellt sich meist heraus, dass klassische Maßnahmen wie zusätzliche Benefits weder nötig noch zielführend sind. Stattdessen ergeben sich oft völlig neue Ansätze. So zum Beispiel könnte ein „Challenge-the-Rules-Tag“ die oben erwähnte duckmäuserische Maloche gezielt aufbrechen.
- Operativer Einsatz z. B. im Recruiting und der Unternehmenskommunikation: Wer seine Werte so klar kennt, kann sie auch nach außen tragen und gezielt Menschen ansprechen, die diese Werte teilen.
Mehr Bindung. Mehr Attraktivität. Weniger Budget.
Auf diesem Weg lassen sich alle die oben genannten ernüchternden Zahlen ins Positive drehen:
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in einem Umfeld arbeiten, das ihren Wertevorstellungen entspricht, werden nicht so leicht kündigen. Eine solchermaßen wertebasierte Unternehmenskultur ist auch ökonomisch wertvoll: Ein Unternehmen kann nicht nur die Kosten für laufende Neueinstellungen reduzieren, sondern kann auch mit niedrigeren Gehältern eine höhere Attraktivität haben. Selbst wenn das Einsparpotenzial nicht 14%, sondern nur 5% sind. Der Aufwand für die Messung und die daraus abgeleiteten Maßnahmen amortisiert sich je nach Unternehmensgröße innerhalb weniger Monate.
Mit klar gemessenen und ebenso klar umgesetzten Werten erreicht man die erwünschte Identifikation. Dann werden nicht nur 20%, sondern eine Mehrheit des Teams sagen: „Ich kenne die Werte meines Unternehmens und sie sind mir wichtig.“