Unternehmen suchen händeringend neue Fachkräfte. Die Not scheint so groß, dass sich mittlerweile die Haltung ausbreitet „Hauptsache wir finden überhaupt irgendwen“. Aber ist es denn wirklich sinnvoll, die Anforderungen im Recruiting weit herunterzuschrauben? Joachim Diercks, Geschäftsführer von CYQUEST sieht das mehr als skeptisch.
Die Gewinnung von Personal wird immer schwieriger
Mittlerweile dürften es alle mitbekommen haben: Wir haben Arbeitskräftemangel. Der Arbeitsmarkt ist trotz der vielen Verwerfungen wie einer noch immer nicht überwundenen Corona-Pandemie, einem Krieg in Europa, einer handfesten Energiekrise, ausgetrockneter Flüsse und drohender Rezession nicht nur robust, sondern man kann mit Fug und Recht behaupten: Er brummt. Für die Personalgewinnung bedeutet dies.
Bewerbungszahlen gehen runter, die Qualität der Bewerbungen und das Commitment der Bewerbenden gehen zurück. Kurz: Die Gewinnung von Personal wird immer schwieriger.
Und im Gegensatz zu eher akademischen Debatten um die demografische Entwicklung, die es ja schon etliche Jahre gibt, drückt sich die Lage am Arbeitsmarkt für alle sichtbar und sehr handfest aus.
Fachkräftemangel ist längst Arbeitskräftemangel
Während wir diese Entwicklung in der Vergangenheit oft unter dem Begriff Fachkräftemangel diskutierten, meist begleitet von der Konnotation, dass es sich um einen Mangel an IT-Fachkräften oder Ingenieur:innen handelt, erleben wir mittlerweile einen allgemeinen Arbeitskräftemangel.
Es mangelt an Fachkräften ja, aber selbstverständlich nicht nur an IT-Fachkräften. Wer mal versucht hat einen Termin bei einem qualifizierten Elektriker zu bekommen, weiß, was ich meine. Und wir können diese Liste beliebig fortsetzen: Pflegekräfte, LKW-Fahrer, Sekretärinnen, Bestatter, Hausmeister, Diakone, Reinigungskräfte, Schwimmmeister, Flughafenpersonal usw. (jeweils betroffen alle Geschlechter).
Der vom Münchner ifo Institut regelmäßig berechnete Indikator zum Fachkräftemangel liegt nach einem kurzen Corona-Knick mittlerweile auf einen Höchststand, und das quer über Branchengrenzen hinweg.
Auch die Anzahl offener Stellen liegt lt. Lt. IAB- Stellenerhebung auf dem höchsten Stand aller Zeiten. Auch hier konnte den Corona den seit mehr als einem Jahrzehnt zu beobachtenden Anstieg nur kurz unterbrechen.
Was bedeutet das für Recruiting?
Die Macht verschiebt sich immer weiter in Richtung der Bewerberschaft. Und das heißt: Recruiting muss viel stärker im Sinne der Personalgewinnung gedacht werden, mit Betonung auf „Gewinnung“.
Manche leiten daraus ab, dass Recruiting mittlerweile eher wie Sales ticken sollte, wobei die Recruitingverantwortlichen ihre Stellen wie Vertriebler an den Mann (und natürlich die Frau) bringen müssen.
Recruiting: mehr anstrengen, nicht weniger genau hinsehen
Dass Recruiting „gewinnender“ werden muss, daran besteht für mich kein Zweifel. Selbstverständlich ist es an den Unternehmen, potenziellen neuen Mitarbeitenden gute Argumente zu liefern, warum ein Einstieg gerade bei diesem Unternehmen sich lohnt.
Aber mit der Sales-Metapher hadere ich sehr. Ich halte sie sogar für eine in Teilen nicht ganz ungefährliche Metapher, weil sie leicht falsch verstanden werden kann. Denn ob ein Vertriebsmensch in seinem Job gut ist, hängt im Wesentlichen davon ab, wie viel er verkauft.
Es gilt: Je mehr Verkäufe, desto besser. Ob die Kunden nachher lange bleiben und sich wohlfühlen, ist nicht so wirklich die Baustelle des Vertriebs. Dass aber Mitarbeitende einen guten Job machen, möglichst lange im Unternehmen verbleiben und sich dabei wohlfühlen, ist für die Personalgewinnung sehr wohl entscheidend. Ja es ist sogar zentral und elementar.
Kein Absenken der Anforderungen
Das heißt, trotz noch so deutlich zu spürendem Arbeitskräftemangel, darf es auf keinem Fall dazu kommen, dass das Recruiting beliebiger wird. Nach dem Motto:
Weil es ja weniger (gute) BewerberInnen gibt, senken wir eben die Anforderungen und nehmen (fast) alle.
Natürlich ist dieser Impuls verständlich und auch irgendwie menschlich. Er erscheint auf den ersten Blick sogar logisch. Wer nicht mehr so viel Auswahl hat, kann eben auch nicht mehr so wählerisch sein.
Und wenn die Geschäftsführung oder die Fachabteilung immer nachdrücklicher fragen, warum man denn die Stellen nicht oder nicht mehr so schnell besetzt bekommt, dann liegt es nahe, einfach weniger genau hinzuschauen und auch Kandidat:innen durchzuwinken, die es aber eigentlich nicht sind.
Aber genau das, ob er oder sie es tatsächlich ist, muss bei der Personalgewinnung das entscheidende Kriterium bleiben!
Die Passung bleibt oberstes Ziel
Wird der Kandidat oder wird die Kandidatin den Job mit hoher Wahrscheinlichkeit gut meistern oder nicht? Und wird er oder sie dann auch möglichst lange im Unternehmen verbleiben und dort die entsprechende Leistung abliefern?
Stellt man jemanden ein, bei dem das mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht der Fall sein wird, dann mag man vordergründig das Recruitingziel “Stelle besetzen” erreicht haben. In Wahrheit hat man das Problem allerdings nur woanders hin verlagert.
Und nicht nur das: Man hat es nicht nur woanders hingeschoben, sondern man es dorthin verlagert, wo es noch viel mehr schmerzt: Ins Business.
Fehleinstellungen können schnell teuer werden
Eine ungeeignete Person im Bewerbungsprozess mag im Recruiting stören. Aber eine ungeeignete Person in Festanstellung kostet richtig Geld.
Zudem: Mitarbeitende, bei denen es nicht passt, sind auch viel schneller wieder weg, so dass man schnell wieder nachrekrutieren muss. Bei der aktuellen Arbeitsmarktlage beginnt dann der Kampf von vorn. Ein echter Teufelskreis.
Eine Linderung im War for Talent liegt nämlich in Retention, also der sogenannten Mitarbeiterbindung. Wenn es Unternehmen gelingt, Mitarbeitende länger zu halten, müssen Arbeitgeber auch nicht so viel neues Personal gewinnen. Und Retention hängt mit Passung zusammen. Und darum sollte Passung auch vorher so gut wie möglich überprüft werden.
Fehler im Auswahlprozess rächen sich
Denn spätestens, wenn sich die Fälle häufen, dass neue Teammitglieder nicht performen oder schnell wieder weg sind, werden Fachabteilung und Geschäftsführung auch wieder beim Recruiting vorstellig. Sie fragen dann, was denn da los sei. Und in dem Fall wird sich das Recruiting dann auch nicht mehr mit dem Argument entschuldigen können, dass es eben weniger (gute) Bewerbende gibt, aus denen man auswählen kann. Denn in diesem Fall hätte das Recruiting selbst den Fehler gemacht!
Es gibt Untersuchungen, die genau dieses einmal überprüft haben. Hierbei zeigte sich, dass ein „laxer“ Recruitingprozess zwar zunächst schneller mehr Personen an Bord holen kann. Das ist nicht wirklich überraschend. Aber hätten Sie gedacht, dass diese neuen Mitarbeitenden
- im Schnitt schlechter performen und
- das Unternehmen auch schneller wieder verlassen?
Man nennt so etwas einen Pyrrhussieg, also einen vermeintlichen Triumph, der aber im Grunde eine Niederlage ist.
Der Arbeitskräftemangel ist kein Argument gegen hohe Anforderungen
Zu argumentieren, dass man „wegen Fachkräftemangel, Arbeitskräftemangel oder generell Bewerbungsmangel” eben nicht mehr so genau hinschauen dürfe, ist fatal. Dies wäre in etwa so wie zu argumentieren, dass man das Thermometer von der Wand nehmen müsse, weil es einem zu warm sei. Oder dass man lieber nicht mehr zum Arzt gehe, weil man Angst vor der Diagnose habe.
Das Gegenteil ist der Fall!
Je weniger qualifizierte Bewerbungen Unternehmen bekommen, desto genauer müssen sie bei denen hinschauen, die sich bewerben! Denn – und diese Logik ist bestechend einfach – Arbeitgeber können nicht einfach die nächstbeste Person nehmen, wenn die erste ein Fehlgriff war.
Der Einfluss der Selektionsdiagnostik auf die Auswahlentscheidung
Dieser Zusammenhang ist auch aus der Selektionsdiagnostik bekannt und lässt sich statistisch sehr einfach belegen. Das berühmte Taylor-Russell-Modell beschreibt dabei, dass die Trefferquote in der Auswahl von drei Stellschrauben abhängt:
- Je höher die Grundquote, also der Anteil passender Kandidat:innen unter allen Bewerber:innen, desto höher die Trefferquote.
- Je höher die Validität der zur Auswahl herangezogenen Auswahlinstrumente, desto höher die Trefferquote.
- Je niedriger die Selektionsquote, also der Anteil an letztlich ausgewählten Personen unter allen BewerberInnen, desto höher die Trefferquote.
Sinkende Bewerbungszahlen bei gleichbleibender oder steigender Anzahl zu besetzender Stellen führen zu einer steigenden Selektionsquote. Sie können nicht mehr so selektiv sein. Alles andere gleich lassend, sinkt dadurch die Trefferquote im Auswahlprozess.
Reagieren Sie darauf nun auch noch damit, bei der Beurteilung von Bewerber:innen weniger genau hinzusehen, was nichts anderes bedeutet, als die Validität des Auswahlverfahrens zu senken, verstärken Sie diesen Effekt noch zusätzlich. Und die Trefferquote sinkt noch weiter. Die vermeintliche „Medizin“ macht den Patienten also noch kranker. Um der sinkenden Trefferquote bedingt durch zurückgehende Bewerbungszahlen entgegenzuwirken, müssen Arbeitgeber also erst recht genauer hinschauen und nicht laxer agieren.
Dieser Zusammenhang findet sich übrigens in diesem schönen Beitrag mit einfachen Zahlenbeispielen erklärt.
Nur sinnvolle Auswahlprozesse beibehalten
Nicht falsch verstehen: Ich werbe nicht dafür, Bewerbungsprozesse zu einem möglichst unangenehmen Spießrutenlauf zu machen. Das Argument „nur wer sich da durchbeißt, will den Job auch wirklich” war schon immer Blödsinn. Und bleibt dies auch weiterhin. Nein, Bewerbungsprozesse sollten und müssen so angenehm und niedrigschwellig wie möglich sein, Stichwort “Candidate Experience“. Aber sie müssen vor allem weiterhin so gut wie möglich dem Ziel dienen, die bestgeeignete und bestpassende Person für den Job zu finden.
In Zeiten von War for Talent mehr denn je. In aller Kürze lässt sich das so auf den Punkt bringen:
Bewerbungsprozesse so ANGENEHM wie möglich, aber vor allem so AUSSAGEKRÄFTIG wie nötig!
Aktuelles Recruiting auf den Prüfstand stellen
Recruiting kann letztlich aber auch nicht einfach so bleiben wie bisher. Es gibt in der zu beobachtenden Praxis immer noch viele Dinge, die dringend auf den Prüfstand gehören.
Die Fixierung auf die qualifikatorische Passung, die Lebenslauf-, Abschluss- und Notenhörigkeit und die damit einhergehenden Limitierungen in der Auswahl gehören dringend überdacht.
Wenn Unternehmen nur nach Leuten Ausschau halten, die exakt die gesuchte Tätigkeit bereits 20 Jahre gemacht haben, was vermeintlich auf der zu besetzenden Stelle auch zu tun ist, werden Organisationen auch nie in die Situation kommen, viele nicht auf den ersten Blick aber letztlich eben doch passende Personen überhaupt auswählen zu können.
Stärkere Orientierung an Potenzial und Passung nötig
Hier gilt es zukünftig viel stärker auf Potenzial (was kann jemand können?) und Passung zu achten, statt auf Formalia. So kann auch der Kreis der Interessenten (und damit die Auswahlmöglichkeit) wieder gesteigert werden. Quereinsteiger und auch ältere Arbeitnehmer explizit als Recruiting-Chancen mitgemeint!
Aber auch um Potenzial und Passung erkennen zu können, gilt es bei der Auswahl gründlich hinzuschauen. Zu meinen, dass man schon genügend schmackhafte Fische im Netz hat, wenn man dieses nur groß genug macht und weit genug auswirft, ist eben auch ein Trugschluss. Unternehmen kommen nicht umhin zu prüfen.
Mein Appell zum Thema Auswahlentscheidung
Also liebe Unternehmen und HR-Menschen, ja es ist nicht mehr so einfach. Aber bitte senkt nicht deswegen die Bemühungen in der Personalgewinnung, sondern steigert sie! Investiert in die berufliche Orientierung, steigert die Klarheit der Erwartungen bezüglich der Aufgaben und Unternehmenskultur und nutzt aussagekräftige diagnostische Beurteilungsverfahren, um die (leider immer wenigeren) geeigneten Bewerber:innen auch identifizieren zu können!
Und wenn das alles nicht reicht und man wirklich mit weniger gut geeigneten und qualifizierten Neueinstellungen leben muss, dann wird die innerbetriebliche Qualifizierung und Weiterbildungen eben ausgeweitet werden müssen.
Aber auch um gezielt qualifizieren und weiterbilden zu können, muss ich wissen, wo denn Defizite liegen. Auch das findet nur heraus, wer im Recruiting gründlich ist.