Während sich die Arbeitswelt mit neuen Technologien, Werten und Arbeitsweisen immer schneller weiterentwickelt, hat sich das Schulsystem in den letzten 100 Jahren kaum verändert. Damit Deutschland im internationalen Vergleich mithalten kann, muss möglichst schnell Veränderung her. Gastautorin Lisa Steinhauser hat im Jahr 2020 Abitur gemacht und sammelt nun ihre ersten Erfahrungen mit der Arbeitswelt. In diesem Artikel schildert sie, wie groß die Unterschiede zwischen diesen beiden Welten sind. Und zeigt auf, wie sich das Schulsystem verändern muss, um SchülerInnen nicht weiterhin zu frustrieren, sondern für die Arbeitswelt 4.0 vorzubereiten.
Ist das deutsche Schulsystem wirklich so reformbedürftig?
Während meiner Schulzeit habe ich nie so richtig verstanden, wieso so viele Menschen der Meinung sind, das Schulsystem in Deutschland revolutionieren zu müssen. Ich bin insgesamt gut zurechtgekommen und habe im Juni 2020 erfolgreich meine allgemeine Hochschulreife erhalten. Das sollte schließlich das Ziel sein, um den weiteren akademischen Weg an einer Hochschule fortführen zu können.
Erst als ich mitbekam, wie viele meiner FreundInnen und Bekannten sich darüber beklagten, in dem jeweiligen Berufs- oder Studienfeld unglücklich zu sein und teilweise sogar ihr Studium oder die Ausbildung abgebrochen hatten, realisierte ich, dass da etwas schiefgelaufen sein muss.
Aufgrund meiner Erkenntnisse, die ich bei meinem Studienvorbereitungs- und orientierungsjahr “proTechnicale” sowie meinen ersten eigenen Berufserfahrungen im Hamburger HR Tech-Startup matched.io gesammelt habe, verstand ich schließlich auch, das Problem am deutschen Schulsystem liegt.
Test. Fail. Learn. Repeat.
Die einzige Einsicht in die Arbeitswelt bekommen die meisten SchülerInnen nur durch Ihre Eltern, die oftmals selbst noch in traditionellen Unternehmen tätig sind. Dort ist die sogenannte Arbeitswelt 4.0 allerdings meist ohne große Bedeutung.
Wie “Arbeiten” wirklich ist, konnte ich mir früher eh nur sehr schwer vorstellen. Ich kannte nur Unterricht und Lernen in einem hierarchischen Schulsystem. Dort herrscht vor allem Konformität. Der oder die Einzelne mit all den individuellen Interessen und Stärken zählt dabei nicht. Es kommt nur darauf an, in der nächsten Klassenarbeit eine gute Note zu erzielen und dabei so wenig mit fett-rot unterstrichene “FEHLER” wie möglich zu machen. Auch die Verbesserung der eigenen Leistungen und Freude am Lernen spielen eine untergeordnete Rolle.
Ein Praktikum zeigt, wie die Arbeitswelt heute funktioniert
Ganz anders erlebe ich es in meinem Praktikum bei matched.io. Hier geht es darum, den Menschen (insbesondere EntwicklerInnen) zu helfen, einen Job und Arbeitgeber zu finden, der sie glücklich macht.
Als Strategie, um das zu erreichen setzt das Unternehmen auf “Mindset-matching”, bei dem die individuelle Einstellung, sowie Werte und Ziele oberste Priorität haben. Das ist jedoch nicht nur das Produkt von matched.io; so wird es auch innerhalb des Startups gelebt. Schon bei meinen ersten Gesprächen mit Co-Founderin Manuela Sayin stellte ich fest, dass sie versucht herauszufinden, was meine Stärken, Interessen und Ideen sind. Sie möchte, dass mir die Arbeit Spaß macht und ich durch die Erfahrung hinsichtlich meiner persönlichen und beruflichen Ziele wachsen kann.
Dieser Führungsstil ist schon fast mit einer Art Coaching vergleichbar und führt zu mehr Motivation, Zufriedenheit und Freude. Sie erklärte mir, dass alle ein Teil des Teams sind. Und es keine Rolle spiele, dass ich “nur” Praktikantin bin.
Somit habe ich von Beginn an Vertrauen und Verantwortung erhalten. Außerdem verfolgen sie eine klare Vision, durch die der Fokus, sowie die Produktivität und ein Zusammenhalt unter den Mitarbeitern entsteht, den ich in dieser Art und Weise vorher noch nie erlebt habe.
Ein weiterer entscheidender Punkt, der mir besonders aufgefallen ist, ist der offene Umgang mit Fehlern. In der Schule war es das Schlimmste, einen Fehler zu machen, weshalb jeder vor allem Angst davor hatte. Das führte dazu, dass sich niemand traut, Fehler zuzugeben oder darüber zu reden. Bei meinem derzeitigen Arbeitgeber wird hingegen jeder dazu angehalten, offen konstruktive Kritik mit anderen zu teilen. Nur durch diese Art der Kommunikation kann daran gearbeitet werden.
Ganz nach dem Motto Try. Fail. Learn. Repeat.
Das Schulsystem braucht dringend Veränderung
Das Schulministerium kann meiner Meinung nach sehr viel aus der aktuellen Arbeitswelt in Unternehmen lernen. Damit SchülerInnen in Zukunft nicht mehr so verloren und frustriert sind, wenn sie die Schule verlassen.
Zum einen sollten SchülerInnen die Möglichkeit bekommen, ihre Stärken und Interessen zu entdecken und darin gefördert werden. Mathematik, Deutsch, Biologie und Musik reichen dazu nicht aus. In der zehnten Klasse machte ich ein Auslandssemester in den USA. Auch wenn deren Schulsystem “far from perfect” ist, gab es einen Punkt, der auch für SchülerInnen in Deutschland förderlich wäre: Es gab ein riesiges Angebot an Wahlfächern.
Ich belegte beispielsweise Kurse, wie “Kreatives Schreiben”, “Improvisationstheater” und “Visual Tech”, bei dem ich das Animieren mit der Software “Blender” lernte. All das, was ich daraus mitgenommen habe, begleitet mich auch heute noch maßgeblich. Nach jener Erfahrung frustrierte mich die Situation an meiner deutschen Schule, weshalb ich mich nach der zehnten Klasse dazu entschied, auf das Landesgymnasium für Hochbegabte zu wechseln.
Individuelle Förderung als Ausnahmeerscheinung
Dort läuft Vieles richtig gut. So gibt es auch hier sogenannte Addita, bei denen zusätzliche Interessen gefördert werden und Spitzenkurse für SchülerInnen, deren Potential im regulären Unterricht noch nicht ausgeschöpft werden kann. Alle SchülerInnen hatten außerdem MentorInnen. Also einen selbstgewählten Lehrer oder eine Lehrerin, die sich regelmäßig mit den Schützlingen zusammensetzt, um darüber zu sprechen, was eigentlich in dem Kind vorgeht. Beispielsweise wenn die Noten schlechter werden und was es braucht, um persönliche Ziele zu erreichen.
Die Erfahrung, die mich in der Schule wohl am weitesten in meiner Berufsorientierung gebracht hat, war der Seminarkurs business@school, in dem in Team- und Projektarbeit ein Businessplan für ein eigenes Startup erarbeitet wurde.
Projekte machen Spaß, wecken Interesse und ähneln der Arbeitsweise in modernen Unternehmen sehr stark. Außerdem kann man theoretisches Wissen vertiefen, lernt Herausforderungen fächerübergreifend anzugehen und stärkt zusätzlich noch Softskills, wie Team- und Organisationsfähigkeit und Zeitmanagement.
Mangels guter Vorbereitung durch das Schulsystem Orientierungsjahr
Da ich mich nach der Schule, in Bezug auf meine Berufs- und Studienorientierung, trotz dieser bereits recht guten Ansätze, noch nicht gut genug vorbereitet fühlte, entschied ich mich dazu am technischen Studienvorbereitungs und -orientierungsjahrs “proTechnicale” teilzunehmen. Die Hauptbestandteile dieses Programms sind neben theoretischen Inhalten, auch ein soziales Projekt, Praktika (Wie das, was ich momentan mache), sogenannte Kaminabende, bei denen Professionals beispielsweise von ihrem Arbeitsalltag berichten und Persönlichkeits-Coachings.
Bei Letzteren werden wir dabei unterstützt, herauszufinden, wer wir sind, was wir für Stärken haben und was uns im Kern motiviert und antreibt. Das ist ein Punkt, der in der Schulbildung bisher keine Rolle spielt.
Natürlich werden SchülerInnen unmotiviert, frustriert und verloren sein, wenn sie zwar Polynomdivision durchführen können, aber keine Ahnung davon haben, was sie auf lange Sicht vom Leben wollen. Erst durch das Definieren persönlicher Ziele wird sich die extrinsische Motivation von „gute Noten schreiben und bloß keine Fehler machen” zu einer intrinsischen Motivation verändern, was zu mehr Freude am Lernen führt.
Ohne eine Revolution des Schulsystems wird Deutschland abgehängt
Bis wir an dem Punkt sind, sagen zu können, ein „Schulsystem 4.0” zu haben, in dem Schüler individuell gefördert werden, auch etwas über sich selbst lernen, Spaß am Lernen haben und somit gut auf die Arbeitswelt von morgen vorbereitet werden, ist es noch ein weiter Weg.
Um die zuvor angesprochenen Punkte in das Schulsystem zu integrieren, braucht es vor allem Geld. Und natürlich Entscheidungsträger, die offen für Fortschritt sind. An beidem mangelt es. Im Endeffekt wird jedoch kein Weg daran vorbeiführen. Deutschland wird technisch und ökonomisch von anderen Ländern abgehängt und muss endlich daran denken, dass diejenigen, die heute noch die Schulbank drücken, in 10-20 Jahren die CEOs und Angestellten sind, die das Land genau in diesen Bereichen voranbringen werden.
Deshalb darf dieses Defizit nicht noch länger weitergeführt werden. Es muss vielmehr endlich durch eine grundlegende Revolution des Schulsystems behoben werden.