Agiles Arbeiten - altes Konzept mit neuem Anstrich

Agiles Arbeiten im HR – altes Konzept mit neuem Anstrich?

Selbstorganisation, Freiwilligkeit, Kundenfokussierung, Vernetzung, New Work und Prototyping – die Diskussion um neues und agiles Arbeiten beschäftigen spätestens seit der Corona-Krise nahezu jede Organisation. Und während HR sich von Agile-Coaches und Scrum Mastern erklären lässt, wieso bestehendes Wissen über Organisationspsychologie, Lernprozesse und Changemanagement veraltet sei und man erstmal grundlegend das Mindset ändern müsse, stellt sich bei näherer Betrachtung von Konzepten und Methoden heraus: Worin liegt eigentlich der Kern des Neuen? Dies fragen sich Unternehmerin Christine Kirbach und René Demin, HR Director in der Geschäftsleitung der Jochen Schweizer mydays Group – und finden Antworten.

HR in Schockstarre vor den selbsternannten Agilitäts-Gurus

Seit Jahren befasst sich HR mit agilen Arbeitsweisen und Methoden und mit der Frage, wie die eigene Organisation transformiert werden kann und wie Digitalisierung im eigenen Hause Einzug halten muss und wird. Viele der neuen Methoden gehen zurück auf die agilen Prinzipien und das agile Manifest, das erstmals in größerem Umfang eine durchgängige Kundenfokussierung und iterative Herangehensweisen für Software-Entwicklungsprojekte postuliert. Crossdivisionales und professionsübergreifendes Arbeiten in Verbindung mit partizipativen Arbeitsformen und Verantwortungsverschiebung von Experten- oder Führungsebenen auf die Teamebene folgt als Organisationsform.

Agiles Arbeiten im HR – altes Konzept

Die Klarheit der Inhalte, die Trennschärfe, mit der komplexe Fragen beantwortet werden, und Prozesse, die daraus erwachsen sind – vor allem auch in Verbindung mit dem Arbeiten nach Scrum –, haben eine große Faszination entwickelt. Mit ungeheurer Geschwindigkeit hat sich parallel zu diesen Arbeitsmethoden ein Weiterbildungsmarkt entwickelt. Scrum Master und Agile Coaches versuchen nun, in Organisationen Teams zu entwickeln, ein neues Mindset zu etablieren und Menschen zu befähigen, kooperativ und eigenbestimmt Ziele zu erreichen. Speaker berichten bildhaft von großen Veränderungen, und ein Best-Practice Beispiel jagt das nächste. In der Praxis zeigt sich, dass viele HR-Verantwortliche vor agilen Methoden und Arbeitsformen großen Respekt haben. Das eigene Skillset erscheint plötzlich nicht mehr ausreichend. Herangehensweisen oder Fachausdrücke können nicht mehr vollumfänglich eingeordnet werden. Und nicht selten passiert es, dass ein Agilitäts-Guru den HR-Mitarbeitern erklärt, ihre Denkweisen seien überholt und man müsse sich mental erneuern und ein neues Mindset entwickeln, um für die Zukunft gerüstet zu sein. Am besten natürlich mithilfe eines Agile Coaches. Wie bei jedem neuen Trend: Erst einmal gibt es einen großen Hype und jeder will es lernen. Wenn ich die richtige Methode kenne, kann ich alles lösen. So war es bei NLP oder systemischen Ausbildungsansätzen, so ist es nun auch wieder bei „agile“.

Agiles Arbeiten ist neu – für die IT!

Hinzu kommt die Wucht, mit der die IT das Thema treibt. Und die hohe Attraktivität, die die agilen Konzepte ausstrahlen, weil sie einen Eindruck von Allumfassenheit suggerieren. Was aber für Informationstechnologie als sehr junge Wissenschaft neu ist, nämlich dass Ursache-Wirkungszusammenhänge deutlich komplexer sind als rein binär, ist für andere Wissenschaften längst hochmodern. Die Begeisterung der IT für etwas weniger wasserfallartige Denkweisen ist natürlich zu begrüßen. Und es beruhigt, dass die Informatiker in ihrem Erkenntnisgewinn nun zu anderen Disziplinen aufschließen. Das ist jedoch für HR-Verantwortliche kein Grund, zu meinen, da sei eine große tolle Methode an einem vorbeigezogen. Und so geschieht es nicht selten, dass HR an den eigenen Fähigkeiten und der Legitimation zweifelt, die Gegenwart mitzugestalten. Dabei ist HR doch eigentlich Experte für soziale und damit per se komplexe Systeme und somit prädestiniert für das Mitgestalten komplexer Veränderungsprozesse.

Agile Werte und Prinzipien – wie aus dem HR-Lehrbuch

Meine Mitautorin Christine Kirbach und ich möchten dazu einladen, das Thema Agilität mit etwas mehr Bodenhaftung und Realitätssinn zu betrachten. Dabei lohnt es sich, die vier agilen Werte und 12 Prinzipien des agilen Manifests noch einmal in Ruhe anzuschauen und dabei bewusst die HR-Brille aufzusetzen. So sehen Sie schnell: was für die junge IT-Wissenschaft neu ist, sind für Human Relations alte, bestens erforschte Bekannte. Es ist die Kernexpertise von HR-Verantwortlichen, zu wissen, dass es genau da, wo es menschelt, spannend und komplex wird. Und dass in sozialen Systemen und sich schnell verändernden Umfeldern starres Festhalten an einem Plan meist in den Wald führt. Zumindest aber weit weg vom eigentlichen Kundenbedarf.

Werte agilen Arbeitens

  • Individuen und Interaktionen mehr als Prozesse und Werkzeug (Wert 1)
  • Zusammenarbeit mit dem Kunden mehr als Vertragsverhandlungen (Wert 3)
  • Reagieren auf Veränderung mehr als das Befolgen eines Plans (Wert 4)
Der Wert 2 übrigens lautet: Funktionsfähige Produkte haben Vorrang vor umfassender Dokumentation. Lässt man diese Formulierung auf der Zunge zergehen, muss man sich schon fragen, mit welchem Kundenfokus IT vor der Erstellung und Verbreitung des Agilen Manifests unterwegs war.Der Mensch, Interaktion zwischen Individuen, Zusammenarbeit mit dem Kunden und die Akzeptanz, dass in einer komplexen Welt die Dinge morgen schon anders sein können als heute, all das sind Kernaufgaben von HR. Und es gilt, dafür gewappnet und handlungsfähig zu sein. Schauen wir uns die Produkt- und Service-Landschaft von HR an, erkennen wir sofort diese übergeordneten Themen. Genau wie in den Trainingsaktivitäten, die HR entwickelt und anbietet. Sind einige HR-Produkte heute mehr am Prozess als am Impact orientiert, bedeutet das nicht, dass wir als Profession hier nicht trotzdem eine immense Expertise besitzen. Wir müssen sie nur wieder kraftvoller auf die Straße bringen.

Die 12 Prinzipien des Agilen Manifests

Schauen wir uns die zwölf Prinzipien des Agilen Manifests ebenfalls mit einer HR-Brille an, so finden wir in der Hälfte davon genuine HR-Themen:
  • Heiße Anforderungsänderungen selbst spät in der Entwicklung willkommen. Agile Prozesse nutzen Veränderungen zum Wettbewerbsvorteil des Kunden. (Prinzip 2)
  • Fachexperten und Entwickler müssen während des Projektes täglich zusammenarbeiten. (Prinzip 4)
  • Errichte Projekte rund um motivierte Individuen. Gib ihnen das Umfeld und die Unterstützung, die sie benötigen, und vertraue darauf, dass sie die Aufgabe erledigen. (Prinzip 5)
  • Die effizienteste und effektivste Methode, Informationen an und innerhalb eines Entwicklungsteams zu übermitteln, ist das Gespräch von Angesicht zu Angesicht. (Prinzip 6)
  • Die besten Architekturen, Anforderungen und Entwürfe entstehen durch selbstorganisierte Teams. (Prinzip 11)
  • In regelmäßigen Abständen reflektiert das Team, wie es effektiver werden kann und passt sein Verhalten entsprechend an. (Prinzip 12)
Auch hier werden Themen wie (persönliche) Interaktion und Kommunikation, Selbstwirksamkeit und intrinsische Motivation, Veränderungsbereitschaft, Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und Kundenorientierung deutlich. Schauen wir uns Trainingskataloge der 1990er-Jahre an, sehen wir, hier verbirgt sich kein wirklich neues Thema. Sicher muss die Übersetzung heute anders erfolgen, es sind moderne Trainingsformen durch die Digitalisierung möglich geworden, die wir noch effektiver nutzen können. Aber die heute relevanten Themen sind dieselben. Auch im Bereich der Kommunikationswissenschaften sind Theorien und Konzepte beginnend ab Watzlawick noch immer gültig und nicht weniger relevant in einer digitalen Welt, in der Kommunikation über andere Kanäle erfolgen kann. Auch die Maslow’sche Bedürfnispyramide hat sich nicht verändert, da sich ja auch der Mensch im Hinblick auf seine Grundbedürfnisse nicht verändert hat. Wir versuchen lediglich, sie noch stärker in die Gestaltung von Arbeitsräumen zu integrieren.

Faktor Mensch als Stellschraube für Zukunftsfähigkeit

Wollen wir Unternehmen optimieren, haben wir grob drei Stellschrauben.
  • Prozesse und Kosten optimieren
  • Einnahmen sicherstellen durch intelligentes Sales & Marketing
  • Wachstum und Zukunft sicherstellen durch Innovation
Jedoch wird sofort deutlich, dass alle Stellschrauben in einem erheblichen Maße vom Faktor Mensch abhängen. Talent wird mehr und mehr zum Wettbewerbsvorteil und HR kommt damit eine essenzielle Rolle zu. Die Themen, die es voranzutreiben, sind folglich nicht neu. Die Ausformulierung kann das Potenzial, das die Digitalisierung mit sich bringt, nur noch besser nutzen. Nun heißt es, die Stellschraube 4, den „Faktor Mensch“ zu optimieren. Und das meinen wir deutlich weniger mechanistisch, als es hier klingt. Aber schauen wir auf die Komplexität des Menschen, wird deutlich, welch tiefgehende Expertise es für diesen Aspekt braucht. Umso mehr erstaunt es, dass diese grundlegenden HR-Themen, nachdem HR viele Jahre damit zugebracht hat, insbesondere im IT-Bereich Kommunikations- und Führungskompetenzen sowie Kundenorientierung zu optimieren, nun ausgerechnet unter dem Buzzword „Agilität“ über die IT ihren Weg zurück zu HR finden. Nur weil diese Themen und grundlegenden Prinzipien für andere neu sind, heißt es nicht, dass dies auch für HR gilt. Unser Ansinnen besteht nicht darin, die agilen Ideen und Ansätze zu diskreditieren oder deren Sinnhaftigkeit in Frage zu stellen. Im Gegenteil, wir sind große Fans. Uns geht es vielmehr darum, diese aus HR-Perspektive zu beleuchten und einen kritischen Blick insofern darauf zu werfen, dass HR sich mit den Konzepten auf Augenhöhe auseinandersetzt und die Dinge ganzheitlich – also auch die Schattenseiten – betrachtet.

Agile Prinzipien zur Lösung komplexer Probleme

Dazu lohnt es, noch einmal auf die Kernelemente der agilen Werte und Prinzipien zu schauen. Und wir möchten dem voranstellen, dass wir alle diese Prinzipien als essenziell ansehen, Lösungen für die komplexen Herausforderungen der VUCA-Welt zu finden und die Anpassungsfähigkeit von Unternehmen zu erhöhen. Es geht nicht darum, die Sinnhaftigkeit agiler Werte und Prinzipien und somit agiler Arbeit an sich infragezustellen. Uns ist wichtig, nicht zu vergessen, dass im Wirkungsfeld Human Relations viele dieser Prinzipien schon sehr lange verankert sind. Und nicht nur dort. Viele agile Prinzipien haben keinerlei Neuigkeitswert. Neu ist nur die konsequente Übertragung auf neue Disziplinen, wie eben zum Beispiel IT.

Agiles Arbeiten ist gekennzeichnet durch

  • eine starke Orientierung am Problem des Nutzers oder Kunden. Es wird viel Augenmerk darauf gerichtet, das Problem hinter dem Problem zu verstehen. Um nicht eine Lösung für das Symptom, sondern das echte Problem zu finden. Generell steht der Mensch im Mittelpunkt.
  • ein hypothesengetriebenes, iteratives Vorgehen, mit dem man in schnellen Feedbackschleifen in Co-Creation mit dem Nutzer oder Kunden Ergebnisse schafft und sofort nachjustieren kann.
  • eine Zusammenarbeit, die durch verschiedene Perspektiven unterschiedlicher Disziplinen und Hintergründe bereichert wird und ganzheitliche Lösungen schafft. Gerade hier wird der kommunikative Schwerpunkt hochrelevant. Gilt es doch, Diversität und Unterschiedlichkeit gut zu managen und auf ein gemeinsames Ziel auszurichten, sodass die durch Perspektivenvielfalt entstehende Reibung positiv kanalisiert wird und zu einer Verbesserung des Arbeitsergebnisses führt.
  • selbstorganisierte Teams, die Entscheidungen und end-to-end Verantwortung übernehmen. Vertrauen ist hier essenziell.
  • regelmäßige Reflexion und kontinuierliches Lernen So wird sichergestellt, dass lebenslanges Lernen und Entwicklung keine luftleeren Worthülsen bleiben und Veränderungen willkommen geheißen werden.

Fazit zur agilen Arbeit im HR

Die aufgezeigten Prinzipien sind nicht neu, sondern ähnlich, wie Kreativitätstechniken unter dem Oberbegriff Design Thinking zusammengefasst und in eine standardisierte prozessuale Abfolge gebracht wurden, gebündelt. Die eingesetzten Methoden und Vorgehensweisen sind ebenfalls nicht neu, wohl aber die Verknüpfung und konsequente Anwendung. Die Inhalte dieses Artikels entstammen übrigens unserem aktuellen gemeinsamen Buch „Zukunft (mit) Personal“.

Rene Demin und Christine Kirbach

Christine Kirbach als Autorin auf PERSOBLOGGER.DE

 

 

Christine Kirbach ist Serial Entrepreneur, Transformations- und Leadership-Expertin mit langjähriger Erfahrung als Führungskraft im Konzernumfeld. Mit red lab unterstützt sie Unternehmen dabei, die Digitalisierung als Chance zu nutzen und ist gern gesehene Rednerin auf Konferenzen. Sie ist Co-Autorin des Werks 33 Werkzeuge für die digitale Welt im Redline Verlag. 

 

 

 

 

René Demin als Autor auf PERSOBLOGGER.DE

 

 

René Demin lernte in verschiedenen HR-Rollen zahlreiche Branchen und Unternehmensgrößen kennen und begleitet derzeit als HR Director in der Geschäftsleitung der Jochen Schweizer mydays Group den kulturellen Merger dreier Firmen. Er befasst sich seit Jahren mit der Frage, wie HR bei Veränderungen eine aktive Managementrolle einnehmen kann -auch als systemischer Coach und Teamentwickler.

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