Top qualifizierte Frauen 55+ suchen häufig überdurchschnittlich lange nach einer neuen Festanstellung. Das ist umso erstaunlicher, als die verbleibende Beschäftigungsphase bei bis zu 12 Jahren liegt. Denn es herrscht vielerorts Fachkräftemangel. Wo also liegt genau das Problem – und viel wichtiger, wie lässt es sich lösen. Gastautorin Heike Weber gibt persönliche Einblicke und Hinweise.
Trotz Fachkräftemangel (noch) keinen neuen Job gefunden
Ich bin Volljuristin mit 30 Jahren Berufserfahrung und aus Leidenschaft. Ich war immer in-house tätig als Syndikusrechtsanwältin und Legal Counsel in Unternehmen und NPOs. Mit 55 Jahren wollte ich mich noch einmal neu orientieren und herausfinden, was ich wirklich machen will, und was beruflich noch möglich ist.
Ich bin offen, flexibel, motiviert und gut vernetzt. Auf meiner Jobsuche habe ich mit vielen Menschen gesprochen und viel gelernt. Was ich dabei erlebt habe, hat mich oft inspiriert, aber teilweise auch ernüchtert. Meine Zwischenbilanz ist daher stark durchwachsen.
Bewerben 55+: ein Selbstversuch zwischen Erfahrung und Erwartung
In den letzten Monaten habe ich unzählige Bewerbungen geschrieben: auf konkrete Stellenausschreibungen, initiativ, über Jobportale, direkt auf Unternehmenswebsites, per Mail und per LinkedIn. Ich habe Personalberater kontaktiert, Suchagenten aktiviert, mein Profil optimiert. Ich habe Vorstellungsgespräche geführt, Feedback eingeholt, mich weitergebildet, reflektiert und neu positioniert.
Trotz all dieser Aktivitäten waren die Rückmeldungen oft dürftig: gar keine Antworten, Absagen ohne Begründung oder mit Floskeln wie: „Wir haben jemanden gefunden, der noch besser passt“, während die Anzeige weiterhin online war. Manches Mal wurde mir gesagt: „Mit Ihrem Profil sind Sie eigentlich überqualifiziert“.
Headhunter loben Lebenslauf. Arbeitgeber zögern.
Viele Gespräche waren freundlich und interessiert, doch die Angebote letztlich oft ernüchternd: befristete Verträge, keine Leitungsfunktion, deutlich geringeres Gehalt als in den letzten acht Jahren. Es gab auch Situationen, in denen mir klar wurde, dass man hoffte, einen „Senior Legal Counsel zum Schnäppchenpreis“ zu bekommen.
Damit bin ich nicht allein. Immer mehr top qualifizierte Frauen 55+ berichten mir von ähnlichen Erfahrungen. Einige bleiben in unbefriedigenden Jobs, andere haben sich selbstständig gemacht. Wieder andere ziehen sich enttäuscht aus dem Erwerbsleben zurück, verabschieden sich ins Ehrenamt bzw. Hobby, sofern sie es sich finanziell leisten können.
Ich persönlich möchte meinen Beruf nicht an den Nagel hängen, denn ich arbeite gerne!
55+ als unsichtbare Altersfalle auf dem Arbeitsmarkt
Viele Frauen 55+ sind engagiert, flexibel, lebenserfahren, krisenerprobt. Unsere Kinder sind flügge, die nächste Karrierestufe haben wir klar vor Augen.
Was also hält Unternehmen davon ab, uns einzustellen?
Mythen und Missverständnisse über Bewerberinnen 55+
- Mythos 1: Ältere sind weniger belastbar. Dabei sind die meisten von uns gesundheitlich fit, wir kennen unsere Grenzen und wissen, wie wir mit Druck umgehen.
- Mythos 2: Ältere sind nicht mehr lernfähig. Viele von uns bilden sich ständig weiter, beherrschen moderne Tools und KI-Anwendungen.
- Mythos 3: Ältere kosten viel. Ja, Erfahrung hat ihren Preis. Wir bieten Qualität, Verlässlichkeit, schnelle Einarbeitung und Weitblick.
Zahlen, die zu denken geben
Laut einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) werden Bewerberinnen ab 50 im Schnitt seltener zu Vorstellungsgesprächen eingeladen als jüngere, selbst bei gleicher Qualifikation. Gleichzeitig beklagen Unternehmen den Fachkräftemangel.
Laut Bundesagentur für Arbeit fehlen in vielen Branchen qualifizierte Fach- und Führungskräfte. Dazu zählen vor allem Handwerk, Bau- und Gastgewerbe, Gesundheitswesen wie Alten- und Krankenpflege, im sozialen Bereich wie Kinder-Betreuung und -Erziehung, IT und MINT.
Warum also diese Diskrepanz?
Die HR-Praxis: Wunschprofil trifft Wirklichkeit
Personalabteilungen suchen oft das Unmögliche: jung und dennoch erfahren, belastbar und dennoch billig. Bewerbungen werden heute in vielen Unternehmen digital vorsortiert. Algorithmen filtern Lebensläufe nach Keywords und nicht selten auch nach dem Geburtsjahr. Selbst wenn nicht bewusst diskriminiert wird, sorgen Mensch und KI für systematische Ausgrenzung.
Entscheider:innen tragen oft bewusste oder unbewusste Vorurteile mit sich: „Passt die noch ins Team?“ oder auch „Will die überhaupt noch Karriere machen?“
Dabei haben wir 55+ Bewerberinnen viel zu bieten:
Wir bringen Ruhe in hektische Zeiten, sind krisenerprobt, vernetzt, reflektiert und hochprofessionell. Wir wollen einfach gute Arbeit machen und eine Chance bekommen!
Praktische Tipps aus der Bewerbungspraxis 55+
Viele Coaches und erfahrene Mitstreiterinnen haben mir auf meinem Weg wertvolle Ratschläge gegeben, die ich gerne weitergebe:
- Profil schärfen: Was kann ich gut? Was will ich wirklich tun? Welche Tätigkeit bringt Sinn und Sicherheit?
- Personal Branding: Online-Präsenz aufbauen, LinkedIn-Profil aktuell und sichtbar halten, eigene Stärken klar benennen.
- Netzwerke nutzen: Kontakte reaktivieren, Empfehlungen einholen, Online- und Präsenz-Veranstaltungen besuchen.
- Gezielt bewerben: Auf passende Stellen, direkt bei Menschen, nicht nur über Portale. Gute Unterlagen, Authentizität und Persönlichkeit machen den Unterschied.
- Technikaffinität zeigen: KI-Tools wie ChatGPT und Canva nutzen.
- Flexibilität signalisieren was Gehalt, Örtlichkeit und Arbeitszeit und Position angeht
- Resilienz stärken: optimistisch dran bleiben und nicht aufgeben!
Die Wirtschaft vergeudet Kompetenz anstatt sie nutzen
Firmen, die bewusst oder unbewusst auf Erfahrung verzichten, zahlen drauf: hoher Onboarding-Aufwand, ständiger Knowhow-Verlust, Kundenfrust wegen Fluktuation, Personalmangel und Unerfahrenheit.
Wer stattdessen auf gemischte Teams setzt, gewinnt:
- Jüngere lernen von Älteren und umgekehrt.
- Erfahrung trifft frische Ideen.
- Kunden schätzen Stabilität und Kompetenz.
„Jung und dynamisch“ sieht auf dem Firmenportal gut aus. Aber oft ist es die erfahrene Mitarbeiterin, die die Probleme löst.
Initiativen, Netzwerke und gute Beispiele
Zum Glück gibt es sie: Arbeitgeber, die bewusst auf Altersdiversität setzen. Kampagnen wie „Fluxx: Ohne mich würdet ihr alt aussehen! – gegen Altersdiskriminierung von Frauen 47+ im Beruf“.
Lern-Programme wie #FrauenStärken powered by WOL® unterstützen gezielt Frauen, um die eigene Sichtbarkeit, Selbstwirksamkeit und Vernetzung zu erhöhen.
Auf PERSOBLOGGER.DE findet sich auch eine große Liste von Karrierenetzwerken für Frauen, die in Kürze überarbeitet und deutlich erweitert wird.
In dem neuen Buch „Unübersehbar“, einem Ratgeber für Frauen, Karriere und mehr Sichtbarkeit von Isabell Rathgeb durfte ich einen Gastbeitrag als Role Model beisteuern. Unsere Geschichten haben Relevanz, und sie sollen gehört werden.
Auch in dem Buch „Die große Potenzial-Verschwendung“ von Cawa Younosi (Charta der Vielfalt) werden „Altersdiskriminierung und Altersdiversität“ thematisiert. Der bekannte Autor gibt gute und konkrete Tipps, wie Unternehmen ein adäquates und gutes Arbeitsumfeld gestalten, so dass eine win-win-Situation entsteht für Unternehmen, jüngere und ältere Arbeitnehmer gleichermaßen.
Was jetzt wichtig ist: Mehr Mut, mehr Offenheit, mehr Vielfalt
Der demografische Wandel ist nicht mehr aufzuhalten. Bald wird es nicht mehr genügend junge Fachkräfte geben, um alle offenen Stellen zu besetzen. Es ist daher nicht nur fair, sondern notwendig, auch Bewerberinnen 55+ eine echte Chance zu geben.
- Weg mit Altersgrenzen im Kopf und in der KI!
- Mehr Mut bei der Personalauswahl!
- Mehr Empathie und Menschenverstand!
Fazit: Wir wollen nicht bevorzugt werden – aber auch nicht aussortiert. Denn wir können was und wir haben noch was vor.