Ist agiles Lernen nur eine Modeerscheinung? Um es vorwegzunehmen: Auch wenn es inflationär und als PR-Zwecken genutzt wird, hat agiles Lernen einen seriösen und wichtigen Hintergrund und löst keinesfalls nur Buzzword-Alarm aus. Wie kann agiles Lernen konkret eingesetzt werden? Und welche Handlungsempfehlungen können wir geben?
Begriffsdefinitionen relevanter Lernbegriffe
Wir sollten allerdings zuerst eine grundlegende Begriffsdefinition vornehmen. Denn wie schon Konfuzius mit seinem Rat beabsichtigte, werden die meisten Konflikte durch gemeinsame Sprache vermieden. Also was sind die hier relevanten Lernbegriffe?
Prof. Dr. Nele Graf und Prof. Dr. Anja Schmitz haben dazu schon 2019 die ersten deutschsprachigen Definitionen entwickelt.
Definition: Lernen 4.0
Lernen 4.0 basiert analog zur Industrie 4.0 auf der digitalen und technologischen Vernetzung und dem Grundgedanken der Effizienzsteigerung. Im Fokus steht die zeitnahe Befähigung zur anforderungsgerechten individuellen Leistung. Der Lernende wird durch ein smartes Lernumfeld (Sensoren, Bots, Avatare etc.) unterstützt. Die Kollaboration von Mensch und Maschine, Augmented reality und KI-gestützte Assistenzsysteme sowie Individualisierung (Losgröße 1) prägen das Lernen 4.0.
Definition: Agiles Lernen
Agiles Lernen leitet sich vom agilen Arbeiten ab und zielt auf die lebenslange Anpassungs- und Innovationsfähigkeit von Mensch und Organisation. Agile Lernprozesse zeichnen sich durch kurze, klar strukturierte Abläufe bei gleichzeitiger Flexibilisierung und Individualisierung der Inhalte (zum Beispiel WOL oder Barcamp) aus. Zielorientierung, Kollaboration, Selbststeuerung und Dynamik prägen diesen Ansatz. Im weiteren Sinne bedarf agiles Lernen eines passenden Mindsets (Selbstwirksamkeit und Entwicklungsfähigkeit), Skills (zum Beispiel Lernkompetenzen) und einer passenden Fehler- und Lernkultur.
Definition: New Learning
New Learning basiert auf Frithjof Bergmanns New-Work-Konzept und hat die Selbst- und Potenzialentfaltung des Individuums zum Ziel. New Learning bezeichnet Lernen, das vom Lernenden als sinnhaft erlebt wird und Teilhabe an der Gemeinschaft ermöglicht. Die Lernprozesse sind geprägt von Selbstbestimmung, Autonomie und dem Streben nach Wirksamkeit. Dabei gilt, dass die Lerner ein hohes Maß an Selbstverantwortung und die Zugehörigkeit zur (Lern-)Gemeinschaft erleben.
Vergleich der Definitionen
Der Vergleich der Definitionen zeigt bereits deutliche Unterschiede, die sich auch in den Diskussionen zum Lernen und den Vorgehensweisen in den Unternehmen widerspiegeln.
Lernen 4.0 fokussiert – mit dem Ziel der Effizienz – die digitale Unterstützung des Lerners bzw. dessen Einbindung in eine cyberphysische Lernumgebung. In gewisser Weise werden hier die Entwicklungen des Wissensmanagement des 80er-Jahre, eLearning, Webinaren usw. weiterentwickelt. Technisch erscheinen uns aktuell die Entwicklungen von künstlicher Intelligenz, Augmented Reality und Virtual Reality besonders interessant, da viele Lerninhalte hiermit effizienter gesteuert werden können.
Die genannte Definition des New Learning zielt dagegen sehr stark auf die sozialen Aspekte des Lernens und die Selbstverwirklichung des einzelnen Lerners in seinem (sozialen) Kontext.
Definition „agil“
Auch der Begriff „agil“ muss hier kurz definiert werden, da mindestens zwei Bedeutungen kursieren.
Agil nach dem Duden
Agil im Sinne des Duden (duden.de) bedeutet: „von großer Beweglichkeit zeugend; regsam und wendig“. Es handelt sich um ein Adjektiv und beschreibt somit die Fähigkeit eines Menschen oder einer Organisation.
Im Sinne unserer Diskussion handelt es sich um eine Folge (kompetentes Handeln), nicht die Ursache (Gestaltung eines Systems, in dem das Verhalten gezeigt wird)!
Agil im Sinne von Arbeitsorganisation
Agil im Sinne von Arbeitsorganisation beschreibt die Fähigkeit eines Arbeitssystems, Kopfarbeit transparent und prognostizierbar zu machen und sich ändernden Umwelten (z.B. Kundenanforderungen) schnell anpassen zu können. So können auch komplexe Sachverhalte effizient bearbeitet werden. Lernen ist ein wesentliches Element von Agiler Arbeitsorganisation und darin unter anderem durch Reviews und Retrospektiven fest verankert.
Elementare Kompetenzen
Das Personaler-Netzwerk Initiative Weg zur Selbst-GmbH e.V. hat dazu eine Meta-Literaturanalyse und ein Expertendelphi mit 46 Experten durchgeführt und 22 Kompetenzen identifiziert, die Mitarbeiter benötigen, um in Zukunft gesund und wertschöpfend arbeiten zu können.
Besonders relevant sind die elementaren Kompetenzen in weiß wie Resilienz, Selbstorganisation, Kommunikationskompetenz und Lernkompetenz, die von allen Experten als in der Zukunft besonders wichtig identifiziert wurden.
Hinzu kommen noch die notwendigen Kompetenzen wie Netzwerkkompetenz, kritisches Denken etc., die alle für das Bestehen in der zukünftigen Arbeitswelt notwendig sind.
Bei den blauen Kompetenzen wie Verantwortungsbereitschaft sind sich die Experten nicht einig, was bedeuten kann, dass diese nur in spezifischen Kontexten eine Rolle spielen.
Digitale Grundkompetenzen, Selbstreflexion, Resilienz, Selbstorganisation und Kommunikationskompetenz
Allgemein erleben die fünf Kompetenzen, Digitale Grundkompetenzen, Selbstreflexion, Resilienz, Selbstorganisation und Kommunikationskompetenz einen starken Bedeutungszuwachs. Interessanterweise nimmt dagegen die Bedeutung von Kompetenzen, wie Empathie, Kundenorientierung und Konfliktkompetenz relativ ab.
Begründen kann man dies damit, dass insbesondere die individuellen Gestaltungsgrade und die damit verbundene Verantwortung steigen – bei abnehmenden Kontrollmechanismen und direkter Führung.
Dieser Überblick bietet einen guten Rahmen, um Weiterbildung im Unternehmen zu gestalten. Er passt auch hervorragend in den Kontext agilen Lernens. Nicht nur weil Lernkompetenzen (siehe unten) elementar für die Selbststeuerung der Lerner sind. Auch Digitale Grundkompetenzen für virtuelle Communities und eLearnings, Resilienz in Bezug auf Vereinbarkeit von Arbeits- und Lernanforderungen, Selbstorganisation von Arbeit und Lernen, Kommunikationskompetenz bei sozialem Lernen…
Alle oben identifizierten Kompetenzen werden auch für die Zukunft des Lernens benötigt. Unternehmen tun also gut daran, diese bereits jetzt schon zu fördern. Und zwar egal welche Arbeitsorganisation das Unternehmen hat.
Denn diese fördern die Veränderungsfähigkeit von Individuum und Organisation.
Was Lernverantwortliche in Unternehmen tun können
Dass Agiles Lernen für die Zukunft steht und viele (nicht alle!) Elemente der gewohnten Qualifizierungskonzepte und -maßnahmen ersetzt werden müssen, ist offensichtlich. Damit Agiles Lernen in der Praxis eingeführt werden kann, sind allerdings passende Grundvoraussetzungen zu schaffen:
- Die Förderung der Eigenverantwortung und Selbstorganisation des Lernens durch jeden einzelnen Mitarbeiter und jedes Team.
- Die Analyse und Weiterentwicklung der aktuelle Lernkultur ist für Mitarbeiter, Führungslogik und vor allem die Organisation entscheidend.
- Die Definition organisatorischer Rahmenbedingungen für wirksames und effizientes Lernen. Sind unsere Prozesse tauglich oder basieren sie bspw. noch auf Jahresgesprächen und klassischen Karrieremodellen mit individuellen Boni?
- Die kritische Reflexion der Haltung der Personalentwicklung. Sind wir zertifikatshörige Curriculumverwalter oder Lerncoaches und -sparringspartner, an die sich alle Stakeholder wenden können, um erfolgreich zu lernen?
Agiles Lernen erfordert eine hohe Selbststeuerung des Lernens durch Mitarbeiter
Die agile Welt erfordert lernkompetente Mitarbeiter, die mit hoch selbstgesteuerten agilen Lernformaten (z.B. Barcamps, WOL, LeanCoffee, Mentoring) umgehen können. Diese erfordert, wie bereits erwähnt, eine hohe Lernkompetenz der Mitarbeiter sowie Lerncoaching-Kompetenzen der Führungskräfte und Personalentwickler.
Lernorganisationen können auch dadurch etabliert werden, dass Erfolgsfaktoren agiler Arbeitsorganisationen für Lernprozesse adaptiert werden.
Konkret bedeutet dies:
Eigenverantwortung fördern
Bisher haben Personalentwickler Führungskräfte und Mitarbeiter eher zur Unselbständigkeit erzogen. Der Trainingskatalog stand fest und eine Dienstleistungsmentalität nach dem Motto „Wir machen das schon für Sie“ war normal. Sehen Sie sich eher als Sparringspartner, stellen Sie im Gespräch mit der Führungskraft und/oder dem Mitarbeiter in Frage, ob ein Training den Lernbedarf wirklich am besten stillt. Geben Sie die Verantwortung für das Lernen den Lernern zurück und verstehen Sie sich als Ermöglicher, Begleiter und Unterstützer von Lernprozessen.
Lernen lernen
Agile Lernformate und informelles Lernen sind hoch selbstgesteuert und funktionieren nur wenn jeder Lerner Verantwortung für sein Lernen übernimmt. Selbstgesteuertes Lernen erfordert eine hohe Lernkompetenz der Mitarbeiter. Sie müssen ihren Lernbedarf erkennen, sich motivieren und das Lernen selbst gestalten.
Fördern Sie das „Lernen lernen“ zum Beispiel durch agile, halb selbstgesteuerte Lernformate und Lerncoachingangebote von Führungskräften und Personalentwicklern oder Trainern.
Eine passende Lern- und Fehlerkultur
Wie wird Lernen in Ihrem Unternehmen verstanden? Ist es etwas, das ab und zu mal passieren muss oder ist es eine kontinuierliche Weiterentwicklung im Rahmen der Arbeit? Wie wird mit Fehlern umgegangen? Finger-Pointing oder echte Reflexion und Weiterentwicklung?
Fördern Sie Wissenstransfer und schaffen Sie die Rahmenbedingungen, dass Sie sich immer weiter zu einer lernenden Organisation entwickeln.
Werte als Basis
Dazu gehören auch Werte wie Wertschätzung, Hierarchiefreiheit im Lernen, Geben und Nehmen und Anerkennung von Expertise.
Erste praktische Schritte: Einladung zum Experimentieren
Erste praktische Schritte sollten sich dann an der Grundlogik Agilen Arbeitens orientieren, das heißt ausgehend vom Nutzen für die Lerner mit ersten Experimenten zu starten. Im einfachsten Fall werden mehrere der neuen Lernformate ausprobiert. Anschließend können die erfolgreichen Ansätze iterativ weiterentwickelt werden.
Verleiten Sie also Ihre Mitarbeiter zum Experimentieren und unterstützen Sie am Anfang. Entscheidend ist aus unserer Sicht, stets das Gesamtbild vor Augen zu haben und trotzdem einfach anzufangen und zu machen. Die Zeit langer Konzeption und ausgefeilter Systeme ist vorbei.
Empfehlungen für Führungskräfte und Personalentwickler
Was kann man den Führungskräften und Personalentwicklern, die sich auf den Weg in das Agile Lernen machen wollen, zusammenfassend empfehlen? Auf Basis der bisherigen Erfahrung sind uns drei Punkte besonders wichtig, die für beide Gruppen gleichermaßen gelten:
- So schnell und intensiv wie möglich mit den Logiken des agilen Arbeitens und Lernens vertraut machen.
- Sie sind Lernexperte, der Mitarbeiter und Teams bei ihrer Weiterentwicklung unterstützen kann. Lösen Sie sich von der Mentalität der Seminarkataloge und eLearning-Kursplattformen. Werden Sie Berater, Sparringspartner, Lerncoach, Begleiter auf Augenhöhe.
- Einfach machen! Raus aus dem eigenen Kämmerlein und in „CoCreation“ mit den Fachbereichen und Mitarbeitern neue Lernformate testen und entwickeln. Falls der Mut dazu fehlt, einfach entsprechend spezialisierte Berater oder erfahrene Kollegen aus benachbarten Unternehmen oder Abteilungen fragen.
Dann: Machen!