Warum wir den Begriff Systemrelevanz ganzheitlicher betrachten müssen

Systemrelevanz – Warum wir den Begriff ganzheitlicher betrachten müssen

Der Begriff Systemrelevanz gehört wohl den am häufigsten verwendeten Worten, wenn es um den aktuellen Arbeitsmarkt geht. Die Sichtweise auf den Fachkräftemangel innerhalb gewisser Engpassberufsgruppen hat sich damit deutlich verengt. Wo vormals insbesondere die IT-Branche glaubte, der Nabel der Welt zu sein (Stichwort Digitalisierung), entdeckt die Gesellschaft auf einmal vermeintlich systemrelevantere Berufsgruppen.

Und droht damit einem gefährlichen Fehlverständnis aufzusitzen.

Systemrelevanz – ein gefährlicher Begriff

Berufsgruppen werden in der aktuellen Corona-Krise stark schwarzweiß betrachtet. Das hängt vor allem mit den sehr einschneidenden Kontaktbeschränkungen zusammen. Rein juristisch gesehen braucht es selbstverständlich Klarheit. So muss definiert werden, wer aktuell noch was genau darf und wer nicht mehr. Gleichzeitig führt diese Vereinfachung im Sinne eines „Du bist wichtig und Du nicht“ zu einem gefährlichen Missverständnis.

Systeme sind stets kontextbezogen

Heute werden Mediziner, Krankenhauspersonal, Lebensmittelversorger und viele weitere als systemrelevant eingestuft. Dabei meint System in diesem Zusammenhang „staatliche Ordnung“ aber auch „Gesundheitssystem“. Trennscharf oder gar einheitlich definiert ist dieses „System“ aber nirgendwo.

Was in der Argumentation mit Blick auf die Corona-Krise absolut stimmig erscheint, ist in Wahrheit stark kontextbezogen. Insbesondere das Beispiel der derzeit in den Medien allgegenwärtigen Virologen zeigt ganz deutlich die Bedürftigkeit einer Zuordnung zu einem entsprechenden System. Derzeit kann man fast den Eindruck erhalten, wir würden von Virologen regiert. Aber hätten wir analog 2008 eine „reine“ Bankenkrise, würde vermutlich niemand einen Virologen als systemrelevant bezeichnen.

Die Komplexität unserer Systeme wird unterschätzt

Mit einem weiteren Beispiel möchte ich aufzeigen, dass das in der Corona-Krise zu stabilisierende System deutlich komplexer ist, als auf den ersten Blick ersichtlich wird.

Aktuell erleben dies die Papierhersteller am eigenen Leib. Aufgrund der vermeintlichen Nicht-Systemrelevanz der Altpapier-Entsorger (denn Altpapier könnte in Krisenzeiten genauso gut über den klassischen Hausmüll entsorgt werden), fehlt es deutschen Papierherstellern an Altpapier. Dieser ist aber in recycelter Form einer der wichtigsten Rohstoffquellen für Papier und Kartonagen.

Und nein, mir geht es in diesem Fall nicht um die Produktion von Toilettenpapier, dem neuen Gold der Deutschen in der Corona-Krise! Vielmehr hat sich gezeigt, dass es zu Engpässen bei der Produktion von Kartonagen für Verpackungen kommen kann. Aber ohne Verpackungskartons können weder Medikamente noch Maschinen, Schutzbekleidung oder auch viele andere systemrelevante Güter transportiert werden.

Sind also die genannten Berufsgruppen nunmehr doch als systemrelevant einzustufen?

Systemrelevanz ist alles andere als offensichtlich

Ich möchte aber noch einen Schritt weiter gehen: Während sich die aktuelle Diskussion stark um die im Vordergrund sichtbaren Helferinnen und Helfer dreht, läuft im Hintergrund stets eine ganze Maschinerie an weiteren Unterstützern auf Hochtouren.

Oft glauben auch Manager in einem Unternehmen, dass einzig die in der Wertschöpfung des Business tätigen Personen systemrelevant seien. Nehmen wir zum Beispiel mal ein IT-Unternehmen. Selbstverständlich gäbe es ohne Softwareentwickler keine zu verkaufenden Produkte. Trotzdem arbeiten diese in Räumlichkeiten, die ein Facilitymanagement zur Verfügung stellt, nutzen Arbeitsmittel, die ein Einkauf besorgt hat. Und alle verlassen sich darauf, dass eine Personalabteilung im Hintergrund Rahmenbedingungen schafft, um das Arbeiten für alle besser zu machen. Ja, die Löhne und Gehälter pünktlich auszahlt, Weiterbildungen organisiert und vieles mehr.

Jetzt frage ich Sie ganz provokant:

Wer ist in einem solchen Unternehmen, das nur als Beispiel für Tausende andere Unternehmen stehen soll, systemrelevant und wer nicht?

Systemrelevanz hat auch immer eine Zeitkomponente

Kehren wir nochmal zur aktuellen Krise zurück. So lange wir über eine Krise reden, deren Hauptbrennpunkt ein medizinischer ist, stehen alle Kräfte im Fokus, die an dieser Stelle brauchbare Unterstützung bieten. Im Zeitverlauf werden wir aber im Übergang zu einer nicht minder bedrohlichen wirtschaftlichen Krise eine Veränderung in der Wahrnehmung von Systemrelevanz feststellen.

Denn längerfristige Kontaktbeschränkungen oder gar Ausgangssperren, Quarantäne und Isolation führen zu einer weiteren Bedrohung. Die der mentalen Gesundheit und psychischen Stabilität der Menschen. Wir werden also erleben, dass die Systemrelevanz von Unterhaltungsmedien, Streamingdiensten, Gamingplattformen oder auch virtuell übertragener Konzerte und Theateraufführungen im Zeitverlauf der Krise zunehmen wird.

Die Diskussionen rund um den Purpose

Trotzdem hilft uns die Diskussion rund um die Systemrelevanz. Wenn sie richtig geerdet ist und ganzheitlich betrachtet wird. Denn in Zeiten des globalen Turbokapitalismus haben wir als Gesellschaft durchaus an der einen oder anderen Stelle die Orientierung verloren.

So darf man -nicht nur mit Blick auf das Thema Klimawandel- durchaus fragen, ob es tatsächlich irgendeinen systemrelevanten Bedarf für 8K-TV, stets das neuste iPhone mit noch besserer Kamera oder ähnliche „höher-schneller-weiter“-Eskapaden gibt? Nur um einen Konsum am Laufen zu halten und Menschen fortlaufend dazu zu bringen, weiter Geld im Wirtschaftskreislauf am Zirkulieren zu halten ist Wirtschaftslehre 1.0.

Kein Wunder also, dass seit einiger Zeit die Frage nach dem Purpose des unternehmerischen Wirtschaftens begonnen hat. Zum Thema Purose habe ich ja bereits ausführlich geschrieben.

Was mir an dieser Stelle aber noch wichtig ist:

Systemrelevanz kann einen sehr starken Purpose darstellen. Aber Systemrelevanz alleine macht die Frage nach dem Purpose aus meiner Sicht keineswegs obsolet! So sind beispielsweise klimaschonende Einschnitte mit Blick auf einen Weltrettungsanspruch als Purpose gut geeignet. Sie müssen aber im Moment ihrer Anwendung nicht zwangsläufig gleichermaßen systemrelevant sein. – zumindest wenn man Systemrelevanz wie oben dargestellt ganzheitlich versteht.

Die Auseinandersetzung mit der eigenen vermeintlichen Nicht-Systemrelevanz

Es ist durchaus hilfreich in der aktuellen Krisensituation einmal inne zu halten. Nachzudenken, in wie weit das eigene berufliche Handeln Systemrelevanz besitzt. Zu fragen, welches System diese Relevanz überhaupt benötigt und warum. Welche Beziehungen dieses System zu anderen Systemen aufweist. Ob und welche Entwicklungen dabei zu erkennen sind.

Das hilft und erdet uns – abseits von scheinbar unbegrenztem Wachstum und unstillbarer Konsumgier.

Mein Fazit und Appell

Wir sollten bei der aktuellen Diskussion um die Systemrelevanz von Berufen stets das große Ganze im Auge behalten. Dabei dürfen wir nicht vorschnell mit „wichtig“ und „nicht wichtig“ aburteilen. Denn hinter allen beruflichen Tätigkeiten stecken Menschen, die tagtäglich Ihr Bestes geben. Diesen vorschnell eine Systemrelevanz abzusprechen ist aus meiner Sicht gefährlich und tut einer Vielzahl unrecht.

Allerdings sollten wir auch zur Kenntnis nehmen, dass die aktuell als systemrelevant bezeichneten und doch weit unterdurchschnittlich bezahlten Berufe wie Krankenschwestern, Altenpfleger oder ähnlich, weit mehr als nur unsere Anerkennung benötigen. Ein kollektives Beklatschen mag hier ein Anfang sein. Wenngleich durch die fortlaufende „Instagramisierung“ dabei häufig auch die eigene Person im Dunstkreis dieser „neuen Alltags-Helden“ gleichsam mitinszeniert werden soll.

Aber das genügt nicht! Es ist dringend angebracht, neben warmen Worten auch finanzielle Taten sprechen zu lassen. Konkret heißt meine Forderung: Menschen in Berufen, über deren aktuell hohe Systemrelevanz Einigkeit herrscht, müssen diese Relevanz dringend auch auf dem Bankkonto spüren. Ohne Wenn und Aber.

Ansonsten bleibt jegliche Debatte um Systemrelevanz reine Makulatur…


Entwicklung der Ausbildung in Pflegeberufen in Deutschland

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Stefan Scheller

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