Zum Bloggen brauche ich Muße und die richtige Inspiration. Ist sie nicht da, lasse ich gerne mal einige Zeit vergehen, bevor ich wieder zu tippen beginne. In entspannter Atmosphäre auf einem Hügel über Gran Canaria las ich gestern das erste Mal vom Phänomen der sogenannten Arbeitsillusion.
Kennen Sie nicht? Das ändert sich nach der Lektüre dieses Beitrags, wenn ich Ihnen aufgezeigt habe, was das Ganze mit der Zufriedenheit von Bewerbern und dem Recruitingprozess zu tun hat.
Was bedeutet Arbeitsillusion?
Stellen Sie sich vor, Ihr Herd fällt aus, gerade als Sie sich Ihr Lieblingsgericht zubereiten wollen. Der Elektriker kommt erfreulicherweise kurzfristig vorbei, weil er gerade beim Nachbarn ist. Er richtet Ihnen innerhalb kurzer Zeit den Herd und berechnet dafür eine Pauschale von über hundert Euro. Sie können Ihr Lieblingsessen mit nur 45 Minuten Verspätung genießen.
Trotzdem sind Sie unzufrieden und denken sich „So viel Geld für so wenig Aufwand?“. Hinsichtlich der Bezahlung des Handwerkers hätten Sie sich besser gefühlt, wenn er dafür zwei Stunden herumgewerkelt hätte – selbst wenn Sie dadurch Ihr Essen hätten länger verschieben müssen.
Arbeitsillusion: sehen wie gearbeitet wird
Die Wissenschaftler Michael Norton und Ryan Buell von der Harvard Business School haben zu diesem Aspekt das Verhalten von Verbrauchern auf Internetseiten erforscht. Auf den Punkt gebracht: Menschen fühlen sich besser, wenn sie sehen wie ausgiebig gearbeitet wird – selbst wenn sich dadurch der gewünschte Erfolg verzögert. Das Phänomen nannten die Forscher Arbeitsillusion.
Die Psychologie dahinter
Mittlerweile wird dieser Effekt massiv kommerziell verwertet. Sie kennen sicherlich auch das sehr bekannte Flüge-Portal, das Ihnen in aller Ruhe die angeblich gerade gescannten Airlines anzeigt und durchtickert. „Wir suchen nach dem besten Flug?“. Wobei ich mich schon immer bei der Werbung gefragt habe, für wen dieser Flug das Beste ist – für mich oder für die Gewinne des Portalbetreibers.
Nach aktuellen Untersuchungen kommt ein solches Verlangsamen bei Verbrauchern sehr gut an, weil es Gründlichkeit suggeriert. Selbstredend ist diese Verzögerung technisch komplett unnötig.
Arbeitsillusion und Präsenzkultur
Ein wenig erinnert mich das an die in vielen Unternehmen gelebte extreme Präsenzkultur. Wer lange im Büro ist und massig Überstunden anhäuft, dem unterstellen viele Personalverantwortlichen und Führungskräfte noch immer mehr Leistung als einem Mitarbeiter, der im Homeoffice nur 80% der Zeit braucht für die gleichen Ergebnisse.
Verrückt, oder? Wie wir doch im tiefsten Inneren an diesen alten Glaubenssätzen festhalten. Im anbrechenden Zeitalter von Arbeit 4.0 ist diese Einstellung fast schon konterrevolutionär.
Arbeitsillusion und Recruitingprozess
Kommen wir also zur Frage, warum ich auf meinem Blog, der sich im Schwerpunkt mit Employer Branding, Personalmarketing und Recruiting befasst, ein solches Thema aufgreife?
Ganz einfach: Ersetzen Sie „Verbraucher“ durch Bewerber und Flüge-Portal durch Recruiter.
Transparenz für eine bessere Candidate Experience
Wenn das Phänomen der Arbeitsillusion angeblich so erfolgreich ist, warum nutzen Personaler das nicht gezielt im Recruiting? Warum schaffen Recruiter nicht mehr Transparenz über den aktuellen Status der Bewerbung? Zum Beispiel mit online Statusupdates oder SMS a la „Ihre Bewerbung wird gerade von Recruiter Karl-Egon Mustermann gelesen.“. Dazu ein Statusbalken, ähnlich wie bei einem Windowsupdate.
„Liest immer noch“. – Wahrscheinlich würden jetzt beim Bewerber schon die Freudentränen in den Augen stehen, weil er das lange Lesen für ein positives Zeichen und seine Bewerbung für besonders erfolgsträchtig hält.
Die Wahrheit über Arbeitsillusion im Recruiting
Was aber, wenn sich der Status (zu) lange nicht verändert. Oder mehrfach wechselt, z.B. „an Fachbereich präsentiert“, „Fachbereich liest“ und sich der Prozess immer mehr in die Länge zieht? Würde der Bewerber auch dies positiv quittieren? Vielleicht bis zu einem gewissen Grad.
Aber es gäbe auch den gegensätzlichen Effekt: Oft haben Recruitern aufgrund des hohen Bewerbungseingangs nur 3-5 min. für die (erste) Entscheidung. Dann wäre bei vielen Bewerbern danach die Hoffnung auf eine Stelle bereits gestorben.
Transparenz versus Wertschätzung
Wenn man bedenkt, dass sich Bewerber manchmal tagelang Mühe geben, eine optimale Bewerbung zu formulieren, mit Anschreiben, vorteilhaftem Bewerbungsbild, gut lesbaren Zeugniskopien, eine saubere PDF-Datei mit geringer Dateigröße erstellen, dazu gar extra Software aus dem Internet laden und sich gefühlte Ewigkeiten mit ungeliebten Onlineformularen herumquälen. Dann mag sich die vom Recruiter für die Bearbeitung investierte Arbeitszeit eher mickrig dagegen anfühlen.
Eine Quasi Sofort-Absage nach einer Minute zu erhalten, würde wie ein Schlag ins Gesicht wirken. Bähm! Abgelehnt. Zack! Aus der Traum.
Die meisten Unternehmen versenden daher Absagen erst nach einer sogenannten Schamfrist, zum Beispiel 3-7 Tage.
Fazit zu Arbeitsillusion im Recruiting
Viele Bewerber hören häufig nach dem Absenden ihrer Bewerbungsunterlagen absolut nichts vom Unternehmen, bei dem sie gerne arbeiten würden. Eine der vielen Erkenntnisse aus dem Jahre der Candidate Experience 2015.
Einerseits ist daher ein Minimum an Information, wie der Versand einer Eingangsbestätigung, eines Zwischenbescheids bei Verzögerungen in der Bearbeitung sowie einer sauberen Absage absolut angeraten. Das vermittelt den Bewerbern das Gefühl der Wertschätzung und zahlt auf positiv auf die Arbeitgebermarke ein.
Andererseits sollten die Befürworter kompletter Transparenz gegenüber den Bewerbern überlegen, ob das noch der Arbeitsillusion positiv dient. Denn bei manchen Bewerbungen ist schon nach wenigen Sekunden „der Ofen aus“.
Denken Sie mal darüber nach.