Der Fachkräftemangel ist keine Prognose mehr, sondern Realität. In vielen Branchen bleibt die Suche nach qualifizierten Arbeitskräften erfolglos, während offene Stellen unbesetzt bleiben und der Wettbewerbsdruck steigt. Besonders betroffen sind Handwerk, Industrie, IT, Pflege, Einzelhandel und das Gastgewerbe.
Während Unternehmen hohe Summen in Recruiting-Maßnahmen investieren oder versuchen, Fachkräfte aus dem Ausland zu gewinnen, wird eine entscheidende Lösung oft vernachlässigt: eine moderne und strategisch durchdachte Ausbildung. Doch warum wird Ausbildung als Mittel zur Fachkräftesicherung noch immer unterschätzt? Und wie kann sie so gestaltet werden, dass junge Menschen sich für diesen Weg entscheiden und langfristig im Unternehmen bleiben? Antworten von Florian Daumüller.
Warum traditionelle Ausbildungsmodelle nicht mehr funktionieren
Das duale Ausbildungssystem hat sich über Jahrzehnte bewährt, doch die Rahmenbedingungen haben sich erheblich verändert. Laut Statista blieben im Jahr 2023 mehr als 73.000 Ausbildungsplätze unbesetzt. Gleichzeitig steigt die Abbruchquote: Fast 30% der Ausbildungsverträge werden vorzeitig aufgelöst.
Die Gründe dafür sind vielfältig:
- Akademisierung der Gesellschaft
Immer mehr Schulabgänger entscheiden sich für ein Studium, weil sie sich davon bessere Karriereaussichten versprechen. Eine Ausbildung wird in vielen Bereichen nach wie vor als zweite Wahl angesehen. - Fehlende Attraktivität vieler Ausbildungsberufe
Besonders das Handwerk leidet unter Nachwuchsmangel. Laut Statista ist die Zahl der Menschen in der handwerklichen Ausbildung seit 1990 um 34% gesunken. Viele Berufe kämpfen mit Imageproblemen und werden als wenig lukrativ oder nicht zukunftssicher wahrgenommen. - Veraltete Rekrutierungsstrategien
Unternehmen setzen oft noch auf klassische Stellenausschreibungen, die nicht mehr zur heutigen Lebensrealität passen. Junge Menschen informieren sich eher über Social Media oder spezielle Karriereplattformen als über konventionelle Jobportale. - Starre Strukturen und fehlende Perspektiven
Fehlende Entwicklungsmöglichkeiten führen dazu, dass viele nach der Ausbildung das Unternehmen verlassen. Ohne klare Karrierewege bleibt die Attraktivität einer Ausbildung begrenzt. - Hohe Abbruchquoten durch unzureichende Ausbildungsqualität
Unstrukturierte Programme, mangelnde Betreuung und fehlende Anerkennung sind häufige Gründe für Ausbildungsabbrüche.
Diese Entwicklungen zeigen: Die klassische Ausbildung reicht nicht mehr aus, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Ein modernes und strategisch ausgerichtetes Ausbildungsmodell ist notwendig.
Strategische Ausbildung als Schlüssel zur Fachkräftesicherung
Unternehmen, die langfristig erfolgreich sein wollen, müssen Ausbildung als festen Bestandteil ihrer Personalstrategie begreifen. Eine moderne und zukunftsorientierte Ausbildung geht über das bloße Bereitstellen von Ausbildungsplätzen hinaus. Erfolgreiche Betriebe setzen gezielt auf Maßnahmen zur Nachwuchsgewinnung, eine hohe Ausbildungsqualität und attraktive Entwicklungsperspektiven.
1. Ausbildung als Teil des Employer Brandings
Ein positives Ausbildungsimage ist ein entscheidender Faktor für die Gewinnung von Nachwuchskräften. Unternehmen, die sich als attraktive Ausbildungsbetriebe positionieren, profitieren von mehr Bewerbungen und einer stärkeren Bindung der Auszubildenden.
Dazu gehören:
- Gezielte Präsenz in sozialen Netzwerken, um authentische Einblicke in den Ausbildungsalltag zu geben.
- Erfahrungsberichte und Erfolgsgeschichten, die zeigen, welche Karrierewege innerhalb des Unternehmens möglich sind.
- Direkte Ansprache auf Ausbildungsmessen oder an Schulen, um persönlich mit potenziellen Bewerbenden ins Gespräch zu kommen.
- Azubi-Projekte oder Lern-Events die gezielt auf die Auszubildenden im Betrieb zugeschnitten sind.
2. Rekrutierungsprozesse modernisieren
Lange und komplizierte Bewerbungsverfahren schrecken viele ab. Wer Nachwuchskräfte gewinnen will, muss den Einstieg erleichtern. Unternehmen, die moderne Recruiting-Strategien nutzen, haben einen klaren Vorteil.
Erfolgreiche Unternehmen setzen auf:
- Bewerbungen per WhatsApp oder Online-Formular statt aufwendiger Bewerbungsunterlagen.
- Schnuppertage oder digitale Infoveranstaltungen, um Interessierte frühzeitig kennenzulernen.
- Praxisorientierte Auswahlverfahren, die Teamfähigkeit und Motivation berücksichtigen.
Ein Beispiel ist der Automobilzulieferer ZF, der in seinem Recruiting-Prozess mittlerweile komplett auf klassische Bewerbungsschreiben verzichtet und stattdessen auf kurze Online-Tests und ein persönliches Kennenlernen setzt.
3. Ausbildung modernisieren und anpassen
Die Erwartungen der Generation Z und der kommenden Generation Alpha an eine Ausbildung unterscheiden sich deutlich von früheren Generationen. Junge Talente wollen mehr Mitspracherecht, Flexibilität und digitale Lernmethoden.
Moderne Ausbildungsprogramme beinhalten daher:
- Hybride Lernformate (digitale und praxisnahe Elemente kombiniert).
- Individuelle Spezialisierungsoptionen innerhalb der Ausbildung.
- Azubi-Projekte, bei denen Nachwuchskräfte Verantwortung übernehmen dürfen.
Ein gelungenes Beispiel für flexible Ausbildung bietet Fr. Meyer’s Sohn (GmbH & Co. KG), ein mittelständisches Speditionsunternehmen. Auszubildende durchlaufen verschiedene Geschäftsbereiche wie See-, Luft- und Landfracht sowie Lagerlogistik, um vielseitige Einblicke in die Logistikprozesse zu erhalten. Durch Abteilungswechsel und praxisnahes Lernen werden Fachkenntnisse gefördert und die Ausbildungsqualität gesteigert.
4. Karriereperspektiven frühzeitig aufzeigen
Viele Unternehmen haben das Problem, dass sie ihre Azubis nach Abschluss der Ausbildung verlieren, weil ihnen keine klare Perspektive geboten wird. Wer erst kurz vor Ausbildungsende über eine Übernahme spricht, ist zu spät dran.
Erfolgreiche Unternehmen setzen auf:
- Frühzeitige Entwicklungsgespräche, die Karriereoptionen im Unternehmen aufzeigen.
- Zusatzqualifikationen und Weiterbildungsangebote während der Ausbildung.
- Mentoring-Programme, bei denen erfahrene Fachkräfte Azubis begleiten.
Ein Vorbild ist hier das IT-Unternehmen SAP, das seinen Azubis schon früh Möglichkeiten für Weiterbildungen und internationale Einsätze bietet.
5. Unternehmenskultur anpassen: Wertschätzung als Schlüssel zur Bindung
Ein weiterer oft unterschätzter Faktor ist die Unternehmenskultur. Junge Menschen wollen sich wertgeschätzt fühlen und sehen, dass sie eine bedeutende Rolle im Unternehmen spielen. Unternehmen, die eine positive Lern- und Feedbackkultur schaffen, können ihre Azubis langfristig binden.
Dazu gehören:
- Trainings zu pädagogischen Methoden und Lernbegleitung, damit Ausbildende junge Menschen individuell fördern können.
- Kommunikations- und Konfliktmanagement-Schulungen, um die Zusammenarbeit im Ausbildungsalltag zu verbessern.
- Rollencoaching, um die eigene Funktion als Ausbildungsverantwortliche bewusster wahrzunehmen und gezielt Nachwuchskräfte zu entwickeln.
Ein gelungenes Beispiel ist die Stumbaum GmbH, ein mittelständischer Betrieb aus Bayern, der gleich fünf Gewerke vereint (Elektrotechnik, Sanitär, Heizung, Klima und Fotovoltaik). Um die Qualität der Ausbildung zu sichern, setzt das Unternehmen auf gezielte Weiterbildung der Ausbildenden und bietet langfristige Karriereperspektiven für Nachwuchskräfte.
Viele der ehemaligen Auszubildenden haben inzwischen ihre Meisterprüfung abgelegt und arbeiten weiterhin im Unternehmen.
Fazit: Unternehmen müssen Ausbildung als Investition verstehen
Der Fachkräftemangel wird sich in den kommenden Jahren weiter verschärfen. Unternehmen, die weiterhin auf kurzfristige Recruiting-Lösungen setzen, werden langfristig Probleme haben, Talente zu gewinnen und zu halten.
Eine strategische Ausbildung ist daher kein „Nice-to-have“, sondern ein entscheidender Faktor für den langfristigen Unternehmenserfolg.
Es reicht nicht aus, Ausbildungsplätze bereitzustellen – sie müssen aktiv gestaltet, modernisiert und mit klaren Karriereperspektiven verbunden werden. Wer heute in eine starke Ausbildungsmarke investiert, innovative Lernformate anbietet und frühzeitig Entwicklungsmöglichkeiten aufzeigt, wird nicht nur mehr Nachwuchskräfte gewinnen, sondern auch langfristig Fachkräfte binden.
Denn eines ist klar: Wer Ausbildung als Zukunftsinvestition versteht, wird auch in einem leergefegten Arbeitsmarkt bestehen.