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Zweifel an der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung: Wer muss was beweisen?

In diesem Blogbeitrag beleuchtet Fachanwältin für Arbeitsrecht Livia Merla die Beweislastverteilung bei Zweifel an einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die Voraussetzungen zur Erschütterung des Beweiswertes sowie konkrete Fallgruppen, die Zweifel an der AU begründen können. Abschließend gibt sie Handlungsempfehlungen für Arbeitgeber und HR-Verantwortliche.

Bedeutung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung im deutschen Arbeitsrecht

Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU-Bescheinigung) hat im deutschen Arbeitsrecht eine zentrale Bedeutung. Sie dient als Nachweis für die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit eines Arbeitnehmers und ist Grundlage für den Anspruch auf Entgeltfortzahlung gemäß § 3 Abs. 1 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG).

In den letzten Jahren gab es eine deutliche Weiterentwicklung der Rechtsprechung zur Beweislastverteilung sowie zur Möglichkeit, den Beweiswert einer AU zu erschüttern.

Beweislastverteilung: Wer muss die Arbeitsunfähigkeit nachweisen?

Die Beweislast für die Arbeitsunfähigkeit liegt zunächst beim Arbeitnehmer. Dieser muss nachweisen, dass er aufgrund einer Erkrankung nicht arbeiten kann. Dieser Nachweis erfolgt durch eine ärztliche AU-Bescheinigung, die eine gesetzliche Vermutung (§ 5 Abs. 1 EFZG) für die tatsächliche Arbeitsunfähigkeit begründet. In der Praxis spricht man hier von einem Anscheinsbeweis.

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Erschütterung des Beweiswerts durch den Arbeitgeber

Trotz des hohen Beweiswerts kann der Arbeitgeber unter bestimmten Umständen Zweifel an der Richtigkeit oder Echtheit der AU-Bescheinigung haben. Um den Beweiswert zu erschüttern, muss der Arbeitgeber konkrete Tatsachen vortragen, die erhebliche Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit begründen können.

Dies ist nicht immer leicht, aber gerade in den letzten Jahren haben sich einige typische Fallkonstellationen entwickelt, in denen der Beweiswert erschüttert sein kann. Ich sage dabei bewusst „kann“, denn es obliegt natürlich dem Arbeitnehmer wiederum den Gegenbeweis zu erbringen und diese Zweifel zu widerlegen.

In diesem Fall müsste der Arbeitnehmer dann den vollen Beweis dafür erbringen, tatsächlich krank gewesen zu sein. Dazu bedarf es in der Regel die Hinzuziehung des entsprechenden Arztes, der zuvor von seiner Schweigepflicht entbunden wurde.

Mit Urteil vom 13.12.2023 (5 AZR 137/23) hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) die Darlegungslast des Arbeitnehmers weiter konkretisiert. Danach müssen Arbeitnehmer im Streitfall detaillierte Angaben zur Erkrankung machen.

Dazu gehören:

  • Art der Erkrankung
  • Gesundheitsbeeinträchtigungen
  • ärztlich verschriebene Medikamente
  • Verhaltensmaßregeln während der Krankschreibung

Diese sogenannte Darlegungspflicht erstreckt sich über den gesamten Zeitraum der AU-Bescheinigung und muss auch den Zusammenhang zwischen Erkrankung und dadurch verursachter Arbeitsunfähigkeit aufzeigen.

Fallgruppen, die Zweifel an der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung begründen

In den letzten Jahren hat sich die Rechtsprechung zunehmend mit der Frage beschäftigt, unter welchen Umständen ein Arbeitgeber Zweifel an einer Arbeitsunfähigkeit geltend machen kann. Besonders im Fokus stehen hierbei Fälle, in denen Auffälligkeiten im Krankheitsverlauf oder bei der Ausstellung der AU-Bescheinigung erkennbar sind.

Online-Atteste ohne Arztkontakt

Eine zunehmend umstrittene Praxis ist die Ausstellung von AU-Bescheinigungen über Onlineportale. In vielen Fällen erfolgt die Ausstellung ohne direkten Arztkontakt, was einen klaren Verstoß gegen die AU-Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses darstellt. Laut § 4 AU-Richtlinie ist eine vorherige Untersuchung zwingend erforderlich. Ein Attest ohne Arztkontakt kann daher von Arbeitgebern angezweifelt werden.

Das Arbeitsgericht Berlin entschied bereits am 01.04.2021 (42 Ca 16289/20), dass eine ohne Untersuchung erteilte AU keinen ausreichenden Beweiswert hat. Arbeitgeber können daher bei Online-AUs eine genaue Prüfung fordern.

Verstöße gegen AU-Richtlinien

Auch Verstöße gegen die formellen Vorgaben der AU-Richtlinie können den Beweiswert einer AU-Bescheinigung erschüttern.

Hierzu gehören:

  • Fehlende ärztliche Untersuchung vor Ausstellung der AU.
  • Rückdatierungen über mehr als drei Tage.
  • Bescheinigungen, die mehr als zwei Wochen im Voraus ausgestellt werden.

Das BAG bestätigte in seinem Urteil vom 28.06.2023 (5 AZR 335/22), dass Verstöße gegen diese Regelungen Zweifel am Beweiswert begründen können.

„Passgenaue“ Krankschreibung nach Kündigung

Besonders auffällig sind AU-Bescheinigungen, die exakt nach Erhalt einer Kündigung bis zum Ende der Kündigungsfrist ausgestellt werden. In seinem Urteil vom 08.09.2021 (5 AZR 149/21) entschied das BAG, dass solche Konstellationen den Beweiswert der AU erschüttern können. Arbeitgeber können in diesen Fällen eine Überprüfung veranlassen und sind gut beraten, die Entgeltfortzahlung vorerst einzustellen.

Arbeitnehmer, die sich unmittelbar nach einer Kündigung krankmelden, stehen somit unter erhöhter Beweislast. Die Gerichte haben in der Vergangenheit mehrfach entschieden, dass eine solche zeitliche Übereinstimmung zumindest ein starkes Indiz für einen möglichen Missbrauch sein kann.

Widersprüchliches Verhalten des Arbeitnehmers

Ein weiteres Indiz für eine fragwürdige AU ist auffälliges Verhalten des Arbeitnehmers. Beispiele dafür sind:

  • Krankmeldung nach abgelehnter Urlaubsanfrage
  • Wiederholte Krankmeldungen an Montagen und Freitagen
  • Nachgewiesene Freizeitaktivitäten, die der attestierten Krankheit widersprechen
  • Nebenbeschäftigungen während der attestierten Krankheit

Gerade im Zeitalter sozialer Medien kommt es nicht selten vor, dass Arbeitnehmer während ihrer Krankschreibung in Aktivitäten verwickelt sind, die nicht mit der attestierten Krankheit vereinbar erscheinen. Arbeitgeber können solche Fälle dokumentieren und als Beweismittel im Streitfall vorlegen.

Handlungsmöglichkeiten für Arbeitgeber

Hat der Arbeitgeber berechtigte Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit, kann er folgende Maßnahmen ergreifen:

Direktes Gespräch mit dem Mitarbeiter

Ein erstes Mittel ist das direkte Gespräch. Arbeitnehmer sind nicht verpflichtet, Details zu ihrer Erkrankung preiszugeben, jedoch kann die Reaktion des Mitarbeiters wertvolle Hinweise liefern.

Einschaltung des Medizinischen Dienstes

In begründeten Fällen kann der Arbeitgeber den Medizinischen Dienst der Krankenkassen einschalten. Der betroffene Arbeitnehmer muss sich dann einer Untersuchung unterziehen, um die Arbeitsunfähigkeit zu überprüfen.

Verweigerung der Entgeltfortzahlung

Wenn es stichhaltige Zweifel an der AU-Bescheinigung gibt, kann der Arbeitgeber die Entgeltfortzahlung verweigern. In diesem Fall muss der Arbeitnehmer seine Arbeitsunfähigkeit detailliert nachweisen.

Fazit: Balance zwischen Arbeitnehmerschutz und Missbrauchsvermeidung

Die AU-Bescheinigung bleibt ein wichtiges Schutzinstrument für Arbeitnehmer. Arbeitgeber sind jedoch nicht verpflichtet, jede AU ungeprüft zu akzeptieren. Die aktuelle Rechtsprechung zeigt, dass Arbeitgeber berechtigte Zweifel an einer AU haben dürfen, wenn objektive Indizien vorliegen. Arbeitnehmer sollten sich bewusst sein, dass unrechtmäßige Krankmeldungen zunehmend hinterfragt werden.

Das Thema bleibt weiterhin relevant und wird auch zukünftig arbeitsrechtlich bedeutsam sein.

Livia Merla

Livia Merla

Livia Merla ist Fachanwältin für Arbeitsrecht und geschäftsführende Partnerin der Kanzlei mgp in Berlin. Neben ihrer täglichen Beratungspraxis tritt sie regelmäßig als Expertin im Arbeitsrecht im SAT.1 Frühstücksfernsehen, der rbb Abendschau oder den Welt Nachrichten auf, wo sie Fragen zu aktuellen arbeitsrechtlichen Themen beantwortet.

2023 gründete sie zudem die mgp Arbeitsrechts-Akademie, um Führungskräften, Personal-verantwortlichen und Arbeitgebern praxisnahe Weiterbildungen im Arbeitsrecht anzubieten.

>> LinkedIn-Profil von Livia Merla

>> Website der Kanzlei mgp

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