Führung in Krisenzeiten - autoritär oder kooperativ

Führen in der Krise – autoritär oder kooperativ? Antwort aus Norwegen: Tight Loose Tight

Kommt nach der agilen Welle wieder die autoritäre Führung? Der Ruf nach klaren Vorgaben und deutlicher Führung wird immer lauter. Zu Recht? Das Wort “agil” scheint verbraucht, fast schon abgenutzt zu sein. Viele wollen davon nichts mehr hören. Ein spannender Ansatz kommt aus Norwegen und nennt sich „Tight Loose Tight“, sagt Susanne Ringen.

Doch was sind die Alternativen?

Blicken wir gen Norden – genauer gesagt nach Norwegen – stoßen wir auf einen Führungsansatz, der auch in Deutschland immer mehr an Bedeutung gewinnt: Die Rede ist von „Tight Loose Tight“, entwickelt von dem agilen Innovator Rune Ulvnes.

Mit „Tight Loose Tight“ scheint der Balanceakt zwischen klarem Rahmen und individuellem Spielraum zu gelingen. Gleichzeitig steigt die intrinsische Kooperations- und Leistungsbereitschaft der Mitarbeitenden, an der viele Führungskräfte zweifeln, wenn sie über nachrückende Generationen sprechen.

Autoritäre Führung führt zu Frust und innerer Kündigung

Traditionelle, autoritäre Führung ist häufig durch strikte Kontrolle und detaillierte Vorgaben geprägt. Mitarbeitende können selten ihr Potenzial entfalte und ihre Kreativität einbringen. Stattdessen passen sie sich den vorgegebenen Normen an, um Konflikte zu vermeiden und ihre Position zu sichern. Dies führt zu Frustration, geringer Leistung oder innerer Kündigung.

Mitarbeitende sind zwar physisch noch im Unternehmen, ihre Motivation und ihr Engagement sinken jedoch auf einen Tiefpunkt. Sie erledigen nur noch das Nötigste und ziehen sich mental immer weiter zurück. Quiet quitting ist der Begriff dafür. Diese innere Haltung kann mitunter die gesamte Unternehmenskultur sowie den Unternehmenserfolg negativ beeinflussen.

Menschen sind von Natur aus kooperativ und leistungswillig

Tight Loose Tight“ geht davon aus, dass Menschen von Natur aus kooperativ und leistungsbereit sind und dass diese Eigenschaften tief in unserer biologischen und kulturellen Evolution verwurzelt sind. Zahlreiche Studien belegen diesen Ansatz.  Kaefer und Chiviacowsky (2022) zeigen, dass kooperatives Lernen nicht nur die intrinsische Motivation steigert, sondern auch die Lern- und Leistungsergebnisse verbessert.

Eine Studie von Slocombe und Seed (2019) betont, dass Kooperation ein grundlegendes Merkmal des Menschseins und in allen Kulturen zu finden ist, von der gemeinschaftlichen Kindererziehung bis hin zu internationalen Institutionen. Die Untersuchung von Alvard und Nolin (2024) hebt hervor, dass menschliche Gesellschaften durch kooperative Strukturen und kulturelle Gruppenbildung Vorteile erzielen, die sonst nicht erreichbar wären.

Diese kooperativen Mechanismen werden durch soziale Bindungen und kulturelle Normen gefördert, die Gruppen helfen, effektiver zu handeln und im Wettbewerb mit weniger kooperativen Gruppen erfolgreicher zu sein.

Warum monetäre Anreize die Motivation senken können

Individuelle, incentivierte Leistungsziele sind häufige Managementpraktiken in Unternehmen mit eher autoritärem Führungsstil. Nur so sei der Mensch zu motivieren, sich auf konkrete Ziele zu fokussieren. Zahlreiche Studien zeigen jedoch, dass Geld als Motivator nur kurzfristig wirkt und langfristig sogar kontraproduktiv sein und die intrinsische Motivation – die Freude an der Arbeit selbst – untergraben kann. Wenn der Fokus auf finanziellen Belohnungen liegt, rückt der eigentliche Wert der Arbeit in den Hintergrund. Mitarbeitende arbeiten nur noch für die Prämie, nicht mehr aus Überzeugung.

Eine Studie von Winkler-Schor und Brauer (2024) hebt hervor, dass finanzielle Anreize, obwohl sie kurzfristig zu gewünschten Verhaltensänderungen führen, nach Beendigung der Zahlungen meist keine langfristigen Effekte haben. Dies liegt daran, dass die Teilnehmenden häufig in ihre ursprünglichen Verhaltensmuster zurückfallen, sobald die Anreize wegfallen.

Deci und Ryan argumentieren in ihrer Selbstbestimmungstheorie (Self-Determination Theory, SDT), dass finanzielle Anreize die intrinsische Motivation untergraben können, insbesondere wenn sie als kontrollierend wahrgenommen werden. Die Autonomie des Individuums wird eingeschränkt und die Aktivität auf eine externe Belohnung anstatt auf das eigene Interesse verlagert.

Tight Loose Tight: Aufbau und Funktionsweise des Konzepts

Wollen wir die natürliche Kooperation und Leistungsbereitschaft von Menschen fördern, braucht es daher einen anderen Führungsansatz sowie andere Entlohnungskonzepte.

Tight Loose Tight“ bietet einen strukturierten Ansatz für effektive Führung, speziell bei der Bearbeitung komplexer und bisher ungelöster Probleme – dort, wo Freiraum und Kreativität vonnöten ist. Es gliedert sich in drei aufeinanderfolgende Phasen, die gemeinsam dazu beitragen, das volle Potenzial Ihres Teams auszuschöpfen und innovative Lösungen zu entwickeln.

Tight (Enges Festlegen)

In der ersten Phase von „Tight Loose Tight“ wird das zu lösende Problem klar beschrieben und analysiert, um es vollständig zu verstehen, alle relevanten Faktoren zu identifizieren und den Rahmen festzustecken. Das Team entwickelt gemeinsam mit der Führungskraft Hypothesen, Denkansätze, die möglicherweise zum Ziel führen. Hier braucht es viele Ideen. Für einen guten Übergang in die erste Loose-Phase einigen sie sich auf die wahrscheinlichsten oder schnell zu überprüfenden Hypothesen. Diese Struktur stellt sicher, dass die kreative Arbeit des Teams in der nachfolgenden Loose-Phase gezielt und produktiv bleibt.

Loose (Freiraum für kreative Problemlösung)

In der Loose-Phase erhalten die Mitarbeitenden Autonomie, um die entwickelten Hypothesen zu testen und kreativ an Lösungen zu arbeiten. Sie haben die Freiheit, neue Ansätze zu verfolgen, Experimente durchzuführen und unkonventionelle Methoden zu erproben. Diese Phase fördert Eigenverantwortung und Flexibilität, da das Team selbst entscheiden kann, wie es vorgeht, und auf neue Erkenntnisse schnell reagieren kann. Fehler werden als Lernchancen betrachtet, was die Innovationskraft des Teams erheblich steigert.

Tight (Reflexion und strategische Anpassung)

Die zweite Tight-Phase dient der Reflexion über die bisherigen Erkenntnisse. Gemeinsam mit der Führungskraft überprüft das Team, welche Hypothesen sich bewährt haben und welche angepasst werden müssen. Diese Phase der Reflexion und Anpassung stellt sicher, dass die Lösungsansätze kontinuierlich verbessert werden und das Team auf dem richtigen Kurs bleibt.

Die Länge der Loose-Phase sowie die Anzahl der Tight Loose Tight-Loops ist individuell sehr unterschiedlich. Je nach Problemstellung kann es sich hier um einen Tag, eine oder mehrere Wochen oder sogar Monate handeln.

Das Prinzip „Gemeinsam jagen und gemeinsam teilen“ im Unternehmen

Tight Loose Tight stärkt das Gefühl der Selbstwirksamkeit der Mitarbeitenden: Sie wissen, auf welche Ziele sie hinarbeiten und sehen direkt den Effekt ihres Handelns.

Die Beteiligung am Unternehmenserfolg kann eine zusätzlich motivierende Komponente sein. Anders als Einzelbelohnungen geht es hierbei um den Gesamterfolg: „Gemeinsam jagen und gemeinsam die Beute teilen“. Diese Metapher stammt aus einer Zeit, als der Erfolg einer Gemeinschaft vom gemeinsamen Handeln abhing. Übertragen auf die moderne Arbeitswelt heißt das: Teams, die auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten und am Erfolg gleichberechtigt beteiligt sind, entwickeln eine starke Bindung und ein tiefes Verantwortungsbewusstsein füreinander.

Unternehmen können Zufriedenheit und Leistung fördern, indem sie beispielsweise Gewinne anteilig an alle Mitarbeitenden ausschütten – ohne Abhängigkeit von individuellen Zielen. Praktiziert wird dieses Prinzip bereits im Profi-Fußball. Die gesamte Mannschaft erhält eine Prämie in Abhängigkeit davon, wie weit sie bei einer Meisterschaft kommt.

Stellen Sie sich mal das Verhalten einzelner Spieler oder Spielerinnen vor, wenn diese eine individuelle Dribbel-, Freistoß- oder Torprämie bekämen. Glauben Sie, dass Sie dann immer noch den gleichen Mannschaftssport sehen würden?

Erfolgsbeispiel: Der niederländische Pflegedienst Buurtzorg

Ein Beispiel für Selbstorganisation ist der niederländische Pflegedienst Buurtzorg. Dieses Unternehmen hat sich ohne hierarchische Strukturen, aber stattdessen mit einem hohen Maß an Selbstorganisation zu einem der begehrtesten Arbeitgeber der Branche entwickelt.

Bei Buurtzorg übernehmen kleine, selbstorganisierte Teams die Verantwortung für ihre Arbeit und ihre Patient:innen. Diese Teams treffen relevante Entscheidungen eigenständig, von der Einsatzplanung bis zur Budgetverwaltung. Sie sind mit den lokalen Ärzt:innen und Apotheken persönlich vernetzt und bauen so gemeinsam mit Angehörigen ein Netzwerk auf. Die zentrale Verwaltung nimmt eine untergeordnete Rolle ein, die Freiheit der Mitarbeitenden bzw. die Bedürfnisse der Patient:innen stehen im Vordergrund: Es gibt keine Minutentaktung der Arbeitsschritte wie in der herkömmlichen Pflege, die Patient:innen bekommen, was sie brauchen – inklusive menschlicher Zuwendung.

Mittlerweile wird das Buurtzorg-Konzept auch in anderen Ländern wie Deutschland und Österreich eingeführt, mit steigendem Erfolg, geringen Krankenständen und hohen Bewerbungszahlen.

Fazit: Tight Loose Tight als effektives Führungsmodell

Auch wenn Buurtzorg nicht mit „Tight Loose Tight“ arbeitet, gibt es eine klare Parallele: Wer auf Vertrauen und Freiraum setzt, bekommt Leistung zurück.

Tight Loose Tight legt mit dem vertrauensbasierten Führungsansatz die Basis für eine Arbeitskultur, in der Menschen nicht nur als Ressource, sondern als wertvolle Partner:innen für eine Organisation angesehen werden. Autoritäre Führung, die auf Kontrolle und monetären Anreizen basiert, hat in der modernen Arbeitswelt ausgedient. Stattdessen sollten Unternehmen auf kooperative Führung setzen, die die natürliche Motivation und Kollaboration der Menschen anerkennt und fördert.

Susanne Ringen

Susanne Ringen ist Beraterin für Agile Führung und Organisationsdesign. Die ehemalige IT-Projektmanagerin und Personalleiterin hat das norwegische Führungsprinzip „Tight Loose Tight“ erstmalig im deutschsprachigen Raum eingeführt. Die Gründerin der ICH & WIR Academy bildet Führungskräfte nach norwegischem Vorbild aus. Sie lebt und arbeitet in Deutschland und Norwegen.

>> LinkedIn-Profil von Susanne Ringen

>> Website von Susanne Ringen

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