Situatives Führen

Die Situative Führung ist tot! Lang lebe situatives Führen!

Die jahrzehntelange Suche nach besonderen Kompetenzen, Eigenschaften und Verhaltensweisen erfolgreicher Führungskräfte hat bislang erstaunlich triviale Ergebnisse produziert. Alles, was die Führungsaufgabe erleichtert, ist für Millionen andere Berufe auch von Vorteil. Nichts Führungsspezifisches weit und breit. Bietet ein situatives Führungsverständnis einen Ausweg aus dieser Sackgasse? Die Antwort hängt davon ab, ob wir bereit sind, die Perspektive auf das Phänomen Führung radikal zu verändern. Gedanken von Michael Alznauer.

Selten ist Situative Führung methodenkonform

In nahezu jeder Diskussion über wirksames Führen wird früher oder später jemand sagen: „Das hängt ganz von der Situation ab.“ Alle Beteiligten nicken dann zustimmend und überspielen souverän, dass diese Erkenntnis niemanden bereichert. Ohne ketzerisch sein zu wollen: Die Gesprächsrunde würde auch nicht inspirierender durch einen Vortrag über Situative Führungsansätze, obwohl diese zu den absoluten Seminarklassikern zählen.

Mit diesen Theorien hat es allerdings im wahren Leben nie etwas zu tun, wenn jemand von sich behauptet, situativ zu führen. In der Regel bedeutet es nur, dass sich diese Person über die Komplexität der Führungsaufgabe im Klaren ist, recht erfahrungsbezogen auf die aktuellen Gegebenheiten reagiert und über das eigene Verhalten nur bedingt Rechenschaft ablegen kann. Ein klares Führungsverständnis – geschweige denn ein prüf- und übertragbares Wissen – steckt nie dahinter.

Ist das bedauerlich? Ja.
Sollte man deshalb jemandem einen Vorwurf machen? Nein.

Erfahrene Führungskräfte orientieren sich selten an einem bestimmten Führungsstil, weil sie wissen, dass ihr Erfolg von sehr vielen situativen Faktoren abhängt.

Warum hat es dann aber der Führungsansatz, der den Blick genau auf diese Situation lenkt, nicht weit gebracht?

Der Tod der Situativen Führung

Der ursprüngliche situative Ansatz geht davon aus, dass es weder einen allgemein besten Führungsstil gibt noch spezifische Führungskompetenzen und Eigenschaften. Das war in den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts eine bahnbrechende Weichenstellung in der Führungsdiskussion, nachdem Heerscharen von Wissenschaftlern beeindruckende Summen von Forschungsgeldern für die Suche nach Persönlichkeitsmerkmalen verbrannt hatten.

Paul Hersey und Ken Blanchard empfahlen in ihrem situativen Führungsmodell, das eigene Verhalten der jeweiligen Reife- und Entwicklungsstufe der Mitarbeitenden anzupassen. Einige Menschen dürfe man nicht ohne klare Anweisungen und exakte Vorgaben lassen, anderen müsse man vor allem Freiraum zur Eigeninitiative und Eigenverantwortung geben.

Unabhängig davon, dass dieser Ansatz natürlich unterkomplex ist, lenkt er die Aufmerksamkeit auf die Unterschiede zwischen den Mitarbeitenden. Zwischenzeitlich ist es dagegen Mode geworden, Freiheiten und Selbständigkeit für alle im Team zu fordern. In die Logik des situativen Führungsmodells übersetzt: Es gibt nur noch Mitarbeitende mit extrem hoher aufgabenbezogener Reife. Das ist offensichtlich Unsinn, – und dennoch erleben wir derzeit eine starke Bewegung, die sich vom Situativen wieder entfernt und allgemeingültige Prinzipien vertritt.

Der Mythos der Führungspersönlichkeit

Heute werden geradezu missionarisch ideale Werte und Verhaltensweisen propagiert, die gute von schlechten Führungskräften unterscheiden. Die Forschung scheint dies zu bestätigen, da sie situative Faktoren bewusst ausklammert bzw. stabil hält.

Warum sie das tut?
Nun, im experimentell-wissenschaftlichen Kontext ist Variationsvielfalt störend.

Hartnäckig hält sich daher die Überzeugung, dass man in erster Linie auf die Kompetenzen, Eigenschaften und Haltungen einer Person schauen muss, um erfolgreiche Führung vorherzusagen. Und nach derselben Logik: Führung wird besser, wenn man immer mehr Fähigkeiten entwickelt und konsequent an der eigenen Persönlichkeit arbeitet. Ein Schelm, wer an dieser Stelle auf eine riesige Branche von Seminar-Anbietern hinweist.

Diesem Mainstream zum Trotz, unterscheiden sich erfolgreiche Führungskräfte im wahren Leben oft deutlich voneinander – und alle berücksichtigen in ihrem Vorgehen die situativen Gegebenheiten. Wenn man nun noch hinzunimmt, dass es für komplexe Aufgaben gar keine Muster-Lösungen geben kann, gerät die aktuelle Philosophie zum Thema Führung in Erklärungsnot.

Vermutlich bestreitet niemand, dass die Führungsaufgabe eine Herausforderung ist, die durch eine Vielzahl situativer Rahmenbedingungen bestimmt wird. Warum definieren wir sie dann nicht grundsätzlich als komplexe Aufgabe und beenden unsere Suche nach spezifischen Führungsfähigkeiten und Persönlichkeitsattributen? (Spoiler: Wir werden dabei stets nur das komplette Repertoire menschlicher Kompetenzen wiederfinden.)

Führung als Aufgabe

Wir Menschen erwarten gar keine kommunikativ geschulten Vorgesetzten, die stets wertschätzend und empathisch sind. Uns reicht es völlig, hier nichts mit auffallend unangenehmen, egoistischen Zeitgenossen zu tun zu haben. Wirklich wichtig ist uns etwas völlig anderes!

Das Team von Lead2gether hat statistisch untersucht, wann Menschen anderen freiwillig folgen. Woran liegt es, dass wir manchen Persönlichkeiten Führungslegitimation zugestehen – und anderen nicht?

Das Ergebnis: Wir sind hier offenbar sehr pragmatisch und folgen anderen, wenn es für uns Sinn macht (wir z.B. mit dieser Führung eher überleben, erfolgreicher die eigene Existenz erwirtschaften oder sicherer einen Berg besteigen). In der Führungsrolle wünschen wir uns jemanden, der aus einer erlebten Gesamtverantwortung heraus dafür Sorge trägt, dass es gemeinsam funktioniert. Ich spreche hierbei von der „Kernaufgabe der Führung“, die vermutlich sogar evolutionäre Wurzeln hat.

Sobald wir diesen Perspektivwechsel vornehmen und stärker die Aufgabe als die Person in den Fokus unserer Aufmerksamkeit stellen, taucht auch die Situation wieder auf. Genau hier liegt unseres Erachtens das bedeutsamste Erbe des alten situativen Führungsansatzes: Wenn wir die wesentlichen Aspekte der eigenen Situation analysieren könnten, ließe sich sehr viel professioneller führen.

Und an dieser Stelle fragen wir uns verblüfft, warum sich auf der Grundlage des Situativen Führungsmodells seit gut 50 Jahren keine ernsthafte Situationsdiagnostik entwickelt hat. Dieses Erstaunen wächst noch, wenn wir uns auf der anderen Seite die überbordende Welt der Persönlichkeits- und Potenzialdiagnostik anschauen.

Die eigene Führungssituation als Kompass

Viele Menschen möchten glauben, dass ein „Koffer voller Tools“ sowie die eigene werteorientierte und authentische Persönlichkeit ausreichen, um in der Führungsrolle akzeptiert zu werden. Dafür spricht in der Realität wenig. Unsere Studien weisen darauf hin, dass es zweitrangig ist, welches Werkzeug man hat. Wesentlich ist, wozu man es einsetzt.

Absolut entscheidend bleibt stets, sich flexibel darum zu kümmern, dass alle das gemeinsame Ziel erreichen. Führende müssen einen spezifischen und wesentlichen Mehrwert für diesen Erfolg liefern. Hier finden wir den Kern freiwilliger Gefolgschaft.

Damit sind die entscheidenden Grundpfeiler einer sinnvollen Situationsanalyse definiert:

  1. Ziel: Was gilt es gemeinsam zu erreichen?
  2. Kontext: Welche Faktoren sind erfolgsrelevant (Sachthema, Beteiligte, Organisation, Hürden…)?
  3. Führungsprioritäten: Wo kann die Führung den wesentlichsten Unterschied machen?

Die Statistiken unseres Digital Leadership Assistant zeigen, dass sich solche Prioritäten rasch ändern können. Wer im „Hamsterrad des Alltags“ stecken bleibt und nicht laufend die relevantesten Ansatzpunkte auf dem Bildschirm hat, gefährdet rasch seine Führungsakzeptanz.

Die Persönlichkeit, die Gewohnheiten, Kompetenzen und Verhaltensmuster kommen erst an diesem späten Punkt ins Spiel: Wie lässt sich das Notwendige mit den persönlichen Möglichkeiten verwirklichen – und wie sieht die eigene konkrete Agenda für diese spezielle Situation aus?

Lang lebe situatives Führen

Aus dieser Warte wird deutlich, warum Führungskräfte – durchaus ähnlich all den Trainern im Profifußball – nie von sich sagen können: „Jetzt weiß ich, wie man in der Führungsaufgabe erfolgreich ist.“ Alles kann morgen bereits anders sein. Heerscharen von „Managern des Jahres“ können davon ein Lied singen. Das ist die schlechte Nachricht.

Gibt es auch eine gute? Absolut!

Es geht in der Führungsrolle darum, gemeinsam etwas zu erreichen – und nicht darum, die stetig länger werdenden Anforderungslisten an Führungskräfte zu erfüllen. Führung ist kein Verhalten, sondern eine Aufgabe!

Und die können Sie auf Ihre ganz persönliche Art erfüllen. Was Sie dabei wirklich weiterbringt, ist die regelmäßige Analyse Ihrer aktuellen Führungssituation, das systematische Reflektieren Ihres Vorgehens und handfestes, alltagsbezogenes Lernen.

Michael Alznauer

Michael Alznauer

 

Dipl.-Psych. Michael Alznauer ist seit über 25 Jahren Führungsspezialist, Coach und – gemeinsam mit Florian Lesaar und Georg Richter – Gesellschafter der LEAD2gether Das Online-Führungssystem GmbH. Sein Führungsverständnis hat er zusammen mit der Wirtschaftspsychologin Valerie Lesaar im Springer Verlag veröffentlicht: Das evolutionäre Führungsmodell. Sieben Kernaufgaben für eine erfolgreiche und effiziente Führungskraft (2020)

>> LinkedIn-Profil von Michael Alznauer

>> Website LEAD2gether

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