Was der Masterweg im Recruiting ist, kann Alexandra Hagemann als Trainerin und Entwicklerin von Führungskräften und Teams zwar nicht sagen. Es gibt schlicht zu viele Möglichkeiten. Aber ihre folgenden Beispiele aus verschiedensten Branchen zeigen eindrucksvoll, wie wichtig es ist, beim Recruiting und Employer Branding in alle, auch ungewöhnliche Richtungen zu denken.
Spitzenverdienst oder regionale Zugehörigkeit?
Vor dieser Frage stehen beispielsweise diverse Einrichtungen des Öffentlichen Dienstes. In strukturstarken Regionen konkurrieren die Ämter und Co. mit finanzstarken Industrie- und Handwerksunternehmen, mit denen sie monetär nicht mithalten können. Gleichzeitig sind sie jedoch die Säulen unseres gesellschaftlichen Lebens, von Kinderbetreuungseinrichtungen über Finanzämter hin zu Gemeindeverwaltungen.
Doch wie gelingt es, geeignetes Personal zu finden bzw. die Menschen zu begeistern und dann motiviert zu halten?
Heimatverbundenheit im Employer Branding und Recruiting
Aus dieser Frage hat beispielsweise ein Schwarzwälder Landratsamt die Strategie entwickelt, die Heimatverbundenheit in den Fokus ihrer Kampagnen zu stellen. Wer aus der Region kommt, gestaltet diese meist auch gerne mit. Darüber hinaus sind strukturelle Probleme und Herausforderungen live aus der Praxis bekannt, Fahrtwege sind kurz und die Identifikation schnell hergestellt.
Und wo findet man nun diese Menschen, die bereit sind, sich einzubringen und gleichzeitig nicht auf ein Spitzengehalt abzielen?
Die Antwort war zunächst nicht einfach, lag im Nachhinein jedoch näher als gedacht. Im Ehrenamt! Da gibt es Wahlhelfer, Jugendgruppen, Seniorentreffs, Tierschutz und diverse Vereine, in denen sich Menschen engagieren. Menschen, die sich Zeit nehmen und sich gerne für andere einbringen. Und ja, da konnten einige Menschen durch gezielte Ansprache sowohl dafür begeistert werden, wieder aktiv ins Berufsleben einzusteigen, als auch das Unternehmen zu wechseln. Denn durch gezielte „Mitarbeiter werben Mitarbeiter“-Aktionen wurde die Attraktivität des öffentlichen Dienstes sowie die Notwendigkeiten und Chancen der Mitgestaltung deutlicher.
Referenz Kosmetik und Babywindeln
Ja, das folgende Beispiel arbeitet mit Stereotypen, dennoch brachten genau diese den Erfolg, und daher berichte ich davon. Denn eine Kosmetikfirma suchte dringend neue Vertriebler im B2C-Bereich. Doch wo sind Menschen zu finden, die nicht fest angestellt werden wollen, sondern freiberuflich unterwegs sind? Wo gibt es engagierte Personen, die nicht auf ein festes Gehalt angewiesen sind, den Job aber auch nicht nur abends nebenher machen wollen?
Interessen bündeln, sich neu entdecken
Letzten Endes hat sich das Unternehmen ein Beispiel an einer amerikanischen Kunststoff-Schüssel-Firma genommen, die bereits seit über 60 Jahren auf B2C setzt, und warb gezielt in Baby-Centern, Krabbelgruppen und Co. Also überall da, wo Frauen und Männer ihre Zeit verbringen, während sie selbst in Elternzeit sind. Vor allem Frauen, die nach der Geburt der Sprösslinge viel zu wenig Zeit für sich selbst hatten, haben es genossen, sich fachlich weiterzubilden, kosmetische Produkte auszuprobieren und diese dann auf kleinen „Partys“, zu denen sie auch die eigenen Kinder mitbringen konnten, zu vertreiben. Als Lohn gab es neben der klassischen Provision auch Incentives für die ganze Familie.
Im Gespräch mit einigen dieser Frauen wurde deutlich, dass darüber nicht nur die Familienkasse geschont wurde, sondern viele der Mütter regelrecht wieder aufgeblüht sind. Sie konnten in ihren Stärken arbeiten, sich neu entdecken, kamen raus, konnten bis auf ein Regelmeeting einmal die Woche vormittags wunderbar die Zeit selbst einteilen, die Kids integrieren und verschiedene Interessen bündeln. Und die ein oder andere war so begeistern, dass sie sich nach der offiziellen Elternzeit ein eigenes Business dazu aufgebaut hat.
„Der aufregendste Studijob der Schweiz“
Das Beispiel ist zu flach und naheliegend? Nun, manchmal ist es doch einfacher als gedacht. Manches Mal braucht es jedoch auch richtig neue Wege, die beispielsweise ein Verkehrsbetrieb einer Schweizer Großstadt eingeschlagen hat. Das Problem war, dass neben der allgemein dünnen Personaldecke sowohl in den Sommerferien als auch um Weihnachten herum zahlreiche Tram-Pilotinnen und Piloten gerne Urlaub hätten.
Gleichzeitig ist die Stadt zu diesem Zeitpunkt voll mit Touristen, die überwiegend öffentliche Verkehrsmittel nutzen. Genau aus diesem Grund sollte sich die Kampagne an Menschen richten, die in diesen Monaten Zeit haben, aber eben den Rest des Jahres anderweitig beschäftig sind.
Na? Wer könnte das sein?
Lücken überbrücken
Studierende sollten es richten. Sie sind es, die sowohl im Sommer als auch im Winter vorlesungsfreie Zeit haben, und die offensichtlich für geeignet befunden wurden, schnell zu lernen. Nach 26 Tagen Ausbildung (statt 42 Tagen) sollten sie spezielle Tram-Linien steuern dürfen. Die Recruiting-Kampagne war so erfolgreich, dass sie bereits nach einigen Tagen wieder abgeschaltet wurde.
Realisiert wurde das Projekt 2022 dann jedoch nicht. Sowohl Mitarbeitende als auch Gewerkschaftler hatten von dieser Kampagne erst durch die Medien erfahren und massiven Widerstand geleistet. Ein Fakt nahezu zum Weinen: Im Oktober 2022 wurde wegen Personalmangels die erste Tramlinie in dieser Stadt stillgelegt und auf anderen Linien wurde der Takt von 7,5 Minuten auf 15 Minuten erhöht. Dabei wäre es in diesem Fall nicht an arbeitswilligen Menschen gescheitert.
Und wer weiß, was das für die Verkehrswende bedeutet hätte? Und wer spricht nicht heute noch von seinen Studi-Jobs?
„Nerds haben kein Studium mit 1,0“
Mit der Aussage „Nerds haben kein Studium mit 1,0“ traf Prof. Dr. Tobias Scholz (Professor für Academic Esports. University of Agder, Norwegen) meinen Schmerzpunkt. Denn ich bin als Dozentin inhaltlich anspruchsvoll und stelle mich im Sommersemester der Aufgabe, eSports-Managementstudierenden das „Kommunizieren und Präsentieren“ beizubringen. Doch leider habe ich immer wieder das Gefühl, dass diese Zielgruppe Sinn und Zweck nur bedingt versteht, was sich in der „schriftlichen Präsentationsunterlage“ widerspiegelt. Mit KI lässt sich eine Präsentation schnell erstellen und dann rattert man sie halt runter.
Hinter diesen Studierenden, die auch während der Vorlesung am liebsten nebenher „zocken“, verbergen sich extrem spannende Menschen. Sie leiten Clans (Teams, die in Wettkämpfen gegeneinander antreten), duellieren sich in Meisterschaften (es gibt schätzungsweise 40.000 bis 150.000 Clans) und trainieren gemeinsam. „Profis spielen und trainieren bis zu 10 Stunden täglich, um ihre Reaktionsgeschwindigkeit, Reflexe und Genauigkeit auf Vordermann zu bringen“, erklärt Prof. Scholz.
Es leuchtet ein, dass Menschen, die so viel Zeit in etwas investieren, offensichtlich mit Herzblut für eine Sache zu begeistern sind. Gleichzeitig bedeutet das Spielen in Clans das tägliche Agieren im Team. Da gibt es unterschiedlichste Interessen, Strategien werden besprochen, Coaches nehmen Auszeiten, um dem Clanleader seine Rolle zu verdeutlichen, es gibt Hierarchien, aber auch Egos. Dennoch lernen die Spieler:innen, eigene Interessen im Sinne der Gemeinschaft unterzuordnen. Übrigens, mit den Konfliktphasen im Team konnte ich dann auch meine Studis begeistern.
Durch das Raster gefallen
Für den Arbeitsmarkt sind sie jedoch meist vorverurteilt. Das Hobby ist nicht salonfähig und dafür scheint aktuell auch kein Studium zu sorgen. Prof. Scholz wiederum kann nur empfehlen, sich beim Recruiting gezielt eSportler anzuschauen, denn sie bringen zahlreiche versteckte Skills mit, die Unternehmen gut gebrauchen können. Auch wenn sie aufgrund der schlechteren Abschlussnote durch viele Raster fallen.
Fazit zum Umdenken im Recruiting
Womit wir wieder beim Ausgangspunkt wären: Wir müssen wissen, was genau für uns hilfreich ist und wo wir das finden, wer unsere Zielgruppe ist, welche Stärken die Menschen mitbringen sollten, welche Skills, aber auch, welche Werte hilfreich sind. In vielen Bereichen steuern wir jedoch auf standardisierte Prozesse zu, auf Schemata und Raster.
Dabei müssen wir in Zukunft individueller denken – einerseits, um dem einzelnen Menschen gerechter zu werden. Andererseits, um nicht unglaublich wertvolles Potenzial zu übersehen und zu verschenken.