Der Fachkräftemangel forciert den Wettbewerb um Talente – nur um die „Talente in Rente“ bemühen sich Unternehmen kaum. Warum eigentlich? Das fragt sich Frank Leyhausen, AgeForce1, und liefert einige Ansätze und Gedankenanstöße.
Neues Bild vom Altern notwendig
Alter ist und war in unserer Gesellschaft meist mit Verlust von Fähig- und Fertigkeiten assoziiert. Vielen Unternehmen scheinen Mitarbeitende schon vor dem Übergang in den Ruhestand „zu alt“ zu sein. Zu alt für betriebliche Fortbildung, persönliche Entwicklung und Projektarbeit.
Im englischen Sprachraum etabliert sich der Begriff der „grauen Seitenline“. Diese „graue Seitenlinie“ ist eine imaginäre Seitenlinie. Sie hindert Menschen aber sehr real daran, Teil des Teams zu sein und ihren Beitrag zum Erfolg zu leisten. Die Position am Rande oder außerhalb des Spielfelds hat sehr greifbare Konsequenzen für die Person, die an den Rand gedrängt wird. Aber das gilt auch für das Unternehmen. Denn die Position am Seitenrand ermutigt natürlich nicht eine Beschäftigung nach dem Ruhestand im Unternehmen in Erwägung zu ziehen.
Unternehmen müssen die Babyboomer zurück ins Spiel holen
Das Potential, was aktuell in Deutschland verrentet wird, ist riesig. Jedes Jahr gehen ca. eine Millionen Menschen in den Ruhestand. Aktuell sind fast 13% dieser Menschen erwerbstätig laut Pressemeldung DESTATIS vom 29.09.22
Das heißt, jedes Jahr kommen über 100.000 „Talente in Rente“ hinzu, die arbeiten wollen. Die meisten davon haben laut IAB Kurzbericht 8/22 „Spaß an der Arbeit“ oder das Bedürfnis nach einer sinnvollen Aufgabe und sozialen Kontakten.
Berücksichtigt man, dass laut IAB im Durchschnitt 14,5 Wochenstunden geleistet werden, stehen knapp 1,5 Millionen Wochenarbeitsstunden von motivierten und qualifizierten Kräften zur Verfügung.
Damit diese Ressource vom eigenen Unternehmen genutzt werden kann, gibt es zwei Optionen:
Die Rekrutierung von Menschen im Ruhestand
Hierfür mangelt es aktuell an speziellen Formaten. Der noch junge Markt will erschlossen werden, Erfahrungswerte fehlen. Zum Beispiel, wie und wo diese Zielgruppe am besten angesprochen werden kann.
Eigene Mitarbeitende länger verpflichten
Wesentlich näher stehen da die eigene Mitarbeitende, die demnächst ins Rentenalter kommen oder altershalber bereits ausgeschieden sind.
Für Unternehmen bietet der Übergang in den Ruhestand und die Frühphase des Ruhestandes den idealen Zeitraum für die Rekrutierung von Arbeitskräften.
Unternehmensbeispiel TRIGEMA
Mit gutem Beispiel geht die Firma TRIGEMA voran. Seit über 30 Jahren gilt das Angebot von Unternehmer Wolfgang Grupp: „Bei mir kann jeder arbeiten, solange er will“. Grupp betonte jüngst in einem Interview: „Wertschätzung von Leistung und Person sind die Basis für Mitarbeiterbindung“. Und diese Wertschätzung endet nicht mit dem letzten Arbeitstag: „Bei der Abschiedsfeier sagen wir, wie sehr wir ihre Arbeit schätzen und dass sie, wenn es ihnen langweilig wird, herzlich willkommen sind, wieder bei uns zu arbeiten.“
Im Hause TRIGEMA wird so das Fundament für eine Beziehung die lange über das Arbeitsverhältnis hält gelegt, denn „Wenn ein Mitarbeiter nach 30 oder 40 Jahren Betriebszugehörigkeit sagt, er fühlt sich fit und möchte noch ein Jahr oder länger weitermachen, dann ist das ein Geschenk des Himmels.“
Wissentlich unvorbereitet in den Ruhestand
Die mit dem Übergang in den Ruhestand verbundenen Veränderungen sind umfangreich, sie reichen vom Einkommen über den Verlust von Aufgaben bis hinein in die Familie. Die Studie „Ruhestand 2040 – So blicken die Rentnerinnen und Rentner der Zukunft auf das Alter“ stellt fest, dass nur ein Fünftel der Befragten ihren Ruhestand aktiv planen.
Der Großteil geht unvorbereitet in den Ruhestand, wissend, dass er mehr tun müsste. Dass nur ein Fünftel die Ruhestandsplanung angehen, wundert nicht, denn der facettenreiche Planungshorizont umfasst Jahre, wenn nicht Jahrzehnte. Diese Komplexität überfordert viele. Und die allzu menschliche Neigung zur Trägheit unterstützt eine aktive Beschäftigung mit dem Thema auch nicht.
Entscheidungsfähigkeit stärken
Wie bei der Gesundheits-Prävention ist fundiertes Wissen notwendig, um vorrauschend zu planen. Die Herausforderung bei der Ruhestandplanung besteht darin, die Komplexität zu reduzieren und Anstöße zu entwerfen, die den Prozess des Vorwärtsblickens und Planens fördert.
Hierbei können Bildungsangebote unterstützen, die komplexe Themenfelder in kompakte Bausteine aufteilen. Idealerweise ergänzt um Übungen, die sich sehr konkret mit der Gestaltung der Zukunft auseinandersetzen und so ein klares Bild des Ruhestandes schaffen, auf das hingearbeitet werden kann.
Durch diese frühzeitige Beschäftigung mit der eigenen Zukunft entgehen viele Menschen auch dem „Pensionsloch“, das acht bis zehn Monate nach dem letzten Arbeitstag droht. An Ende der Renten-Flitterwochen wird vielen Menschen deutlich, dass Struktur und Aufgaben fehlen und das soziale Umfeld ausgedünnt ist.
Frei nach Max Raabe stellen sie dann fest: „Kein Schwein ruft mich an, keine Sau interessiert sich für mich.“ Mit dieser Erkenntnis beginnt dann die Suche nach sinnstiftenden Beschäftigungen. Die Optionen sind zahlreich, sei es Hobby, Ehrenamt oder eine Erwerbstätigkeit.
Arbeitgeber sollten den Prozess anstoßen
Spezielle Angebote alleine reichen jedoch nicht immer aus, um Handeln für die Zukunft anzuregen. Viele Menschen scheuen den Prozess der Ruhestandsplanung, weil es ihnen schwerfällt, sich ein „zukünftiges Selbst“ vorzustellen. Hier können Programme im Rahmen der betrieblichen Bildung angeboten werden, die den Planungsprozess in einem etablierten Rahmen anstoßen. Arbeitgeber unterstützen so aktiv und wertschätzend im Rahmen des offboarding und können die Option einer Beschäftigung im Ruhestand anbieten.
Markenbotschafter aus dem Ruhestand
Wenn Menschen dann im Ruhestand wieder arbeiten, sind sie nicht nur geschätzte Fachkräfte und Kollegen, sie können auch als corporate granfluencer agieren und so auf das Employer Branding einzahlen.
Niemand eignet sich besser als Vorbild als jemand, der im Ruhestand mit Freude das tut, was er mag. Wenn das dann noch im eigenen Unternehmen stattfindet, hat man den perfekten Botschafter, um mehr „Talente in Rente“ zu gewinnen.
Nicht jeder kann und will Botschafter werden, aber Unternehmen sind gut beraten, Menschen bei Interesse gezielt als Markenbotschafter einzusetzen und diese als Rolemodels und Mentoren für ihre ausscheidenden Fach- und Führungskräfte zu nutzen. Auch für die externe Darstellung von Beschäftigungsmodellen für Rentner:innen eignen sie sich hervorragend
„Talente in Rente“ können also den Fachkräftemangel mildern, wenn man sie lässt.