Flexible Pay ist ein Begriff, der gerade erst in Deutschland ankommt. Gemeint ist der Vorab-Zugriff auf das eigene Gehalt. Im angloamerikanischen Raum ist flexible pay auch bekannt als sogenannte Earned Wage Access Lösung. Was es damit auf sich hat und warum dies für Arbeitnehmer und Arbeitgeber interessant sein kann, verrät Happy-Gründer Jan Riem.
Flexibilität auch im Bereich Entgelt
Flexibilität zählt neben fairer Entlohnung und einer sinnstiftenden Tätigkeit heute zu den Top-Bedürfnissen von Arbeitnehmenden. Laut einer New Work-Umfrage des Bitkom ist Flexibilität für mehr als 90% der Befragten wichtig, zum Beispiel in Form mobiler Arbeit oder flexibler Arbeitszeiten. Tradierte Vorstellungen davon, wie der Arbeitsalltag und das Zusammenspiel von Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden aussehen sollen, werden gerade reihenweise in Frage gestellt. Zu Recht.
Allein ein Aspekt blieb hierzulande bislang unangetastet: die Auszahlung des Gehalts.
Provokant gefragt: Ist es fair, dass Arbeitnehmende wochenlang arbeiten, in Vorleistung gehen und quasi erst rückwirkend entlohnt werden? Geben sie damit ihrem Unternehmen nicht einen zinslosen, nicht hinterfragten Kredit?
Flexible Pay-Lösungen brechen den Status quo auf.
Was bieten Flexible Pay-Lösungen?
International etablieren sich Flexible Pay-Lösungen bereits seit Jahren. Sogenannte Earned Wage Access-Lösungen werden vor allem in den USA und Großbritannien als Lösungsansatz der dort schon lange schwelenden „Cost of Living Crisis“ gesehen. Solche Lösungen basieren auf dem Prinzip, Arbeitnehmenden schon vor dem traditionellen Zahltag Zugriff auf einen Teil ihres bereits verdienten Gehalts zu ermöglichen.
EWA-Modelle sind ursprünglich im Umfeld der Gig Economy entstanden, in der Stundenlöhne gezahlt werden. Das bekannteste Beispiel dafür ist Uber, das ab 2016 seinen Fahrer:innen die Möglichkeit einräumte, nach jeder Fahrt gegen eine kleine Gebühr direkt auf das verdiente Geld zuzugreifen. Mit der steigenden Nachfrage nach Mikro-Krediten und Gehaltsvorschüssen wurde jedoch bald deutlich, dass Flexible Pay-Modelle auch für Arbeitnehmende in Arbeitsverhältnissen mit Monatsgehalt eine valide Lösung darstellen, um Kredite zu vermeiden.
Flexible Pay vermeidet Kredite und erweitert finanzielle Spielräume
Inzwischen haben Studien genau das bestätigt: Der frühzeitige Zugriff auf das bereits verdiente Gehalt versetzt Arbeitnehmende in die Lage, finanzielle Engpässe zu vermeiden. Dass die Häufigkeit solcher Engpässe zunimmt und längst nicht nur Arbeitnehmende im Niedriglohn-Segment betrifft, war bereits lange vor der akuten Inflationssituation abzusehen.
Schon 2017 kam eine Studie von Eurostat zu dem Ergebnis, dass 42% aller EU-Haushalte regelmäßig vor Monatsende in finanzielle Engpässe geraten. 2019 zeigte eine Umfrage der ING, dass etwa ein Drittel der deutschen Bevölkerung über keinerlei Ersparnisse verfügt. Jüngste Umfragen bestätigen diese Konstellation (ING, 2022). Im vergangenen Herbst legte das Statistische Bundesamt zudem offen, dass ein Drittel der deutschen Arbeitnehmenden unerwartete größere Ausgaben nicht decken kann. In solchen Situationen kann der frühzeitige Zugriff auf das eigene Gehaltskonto eine Alternative beispielsweise zu Mikrokrediten bieten.
Klar ist: Flexible Pay schafft nicht mehr Gehalt. Es ermöglicht aber ein besseres finanzielles Timing. Arbeitnehmende bleiben liquide zu Zeitpunkten, an denen sie es andernfalls nicht mehr wären. Das ist auch eine Frage der Fairness.
Finanziellen Stress reduzieren – auch für Arbeitgeber interessant
Dass finanzielle Engpässe, eine enorme Belastung sein können, die auch zu weiteren Beeinträchtigungen führt, ist nachvollziehbar. Eine YouGov-Befragung hat kürzlich auf die Auswirkungen von finanziellem Stress auf Psyche und körperliche Gesundheit der Betroffenen hingewiesen. Offenbar spiegelt sich das nicht zuletzt in der Leistungsfähigkeit der Arbeitnehmenden.
Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young schätzte 2020 die entsprechenden Umsatzverluste in UK und den USA auf eine Höhe von ca. 300 Milliarden US-Dollar. Die Studie zeigt weiter, dass ein flexibler Gehaltszugang in der Tat zu einer Reduzierung von Fehlzeiten unter Arbeitnehmenden von 34% führte und die Leistungsfähigkeit um 86% steigt.
Arbeitgebende befinden sich längst in harter Konkurrenz um qualifizierte Fachkräfte und werden auch an der Erfüllung ihrer unternehmerischen Verantwortung (Stichwort ESG) gemessen. Ein Flexible Pay-Benefit könnte Unternehmen von der Konkurrenz abheben. So bestätigten in der EY-Studie schon 2020 knapp 60% der Befragten, dass sie ein solches Benefit bei der Wahl der Arbeitgebenden positiv beeinflussen würde.
Verbreitung von Flexible Pay
Die meisten Erfahrungswerte zu den Potenzialen und Effekten von Flexible Pay-Lösungen stammen wie angedeutet aus dem Ausland. Das hat einen Grund: In Deutschland starten die ersten Anbieter von Flexible Pay-Lösungen gerade erst auf dem Markt. Das hat den Vorteil, dass diese Lösungen von den Schwierigkeiten und Kritikpunkten lernen konnten, die anfangs bei EWA-Modellen auftauchten.
In den USA und UK waren die Flexible Pay-Anbieter der ersten Generation Fintech-Start-ups und Neobanken. Später versuchten auch Arbeitgebende selbst, Lösungen in ihr Payroll-System zu integrieren. Doch in all diesen Fällen entstanden Kosten und Aufwand, die über Gebühren wieder Arbeitnehmende belasteten. Auf ein Jahr hochgerechnet können diese Gebühren rasch höhere Zinssätze erreichen.
Ein Beispiel: Fällt bei einer frühzeitigen Auszahlung von 100 Euro eine Gebühr von 3 Euro an, beträgt der Jahreszins bei einem Zahlungsziel von 10 Tagen 111%. Das Aufkommen von EWA-Transaktionen ist beispielsweise in den USA in den vergangenen Jahren dennoch rasant gestiegen: Laut einem Report des Financial Health Networks lag es 2018 bei 18,6 Millionen Transaktionen. 2020 lag die Zahl bereits bei 55,8 Millionen – mit einem Transaktionsvolumen von knapp 10 Mrd. US-Dollar.
Start in Deutschland mit Voucher-Lösung
Auch hierzulande könnte das Konzept im Zuge der New Work-Bewegung und vor dem Hintergrund rasch steigender Lebenshaltungskosten schnell Fuß fassen, z.B. mittels eines Gutschein-Systems zum Zugriff auf das verdiente Gehalt.
Der HR-Benefit kann so Zusatzkosten oder Integrationsaufwand für Arbeitgeber und Arbeitnehmer komplett vermeiden. Durch ein umfassendes Partnernetzwerk können Arbeitnehmende dennoch Ausgaben aus allen Bereichen des täglichen Bedarfs decken. Und eröffnen sich so finanziellen Spielraum.
Diese Art der Gehaltsnutzung löst keine finanziellen Probleme per se, doch sie eröffnet finanzielle Spielräume. Außerdem, so ein Teil der Idee, behalten Arbeitnehmende ihr individuelles Ausgabenverhalten besser im Blick, da sie stets Einblick in ihr tagesaktuelles Gehaltskonto haben.
Verantwortung übernehmen gilt für Arbeitgebende wie Arbeitnehmende
In der Diskussion um Flexible Pay-Lösungen taucht eine Frage immer wieder auf: Was können solche Lösungen leisten – und was nicht? Letztendlich sagt es der Name: Sie räumen den Gehaltsempfangenden ein Stück mehr Flexibilität ein, wann und wie sie ihr Gehalt nutzen. Dies bedeutet auch ein Stück mehr Verantwortung.
Aber diese Verantwortung sollte genau bei denjenigen liegen, die das Gehalt erarbeiten. EWA oder andere Gehalt-on-Demand-Lösungen vermehren nicht das Gehalt, tilgen keine Schulden oder ersparen Arbeitnehmende alle finanziellen Nöte. Aber sie legen ihnen das in die Hand, was sie zum gegebenen Zeitpunkt erarbeitet und zur Verfügung haben.
Dass Arbeitnehmende in der Verantwortung stehen, vernünftig damit umzugehen, ist Teil dieser neuen Freiheit und Flexibilität.
Dabei gerät noch eine andere Entwicklung in den Blick: Auch Arbeitgebende stehen zunehmend in der Verantwortung, wenn es um das mentale und finanzielle Wohlergehen ihrer Mitarbeitenden geht. Sind Unternehmen beim Thema Gehalt bereit, sich flexibler zu zeigen, hat das Signalwirkung.
Es bleibt spannend, welche Ansätze und Lösungen in dieser Hinsicht noch entstehen und welchen Beitrag sie zu einer Arbeitswelt von morgen leisten werden.