Der Abschluss ist aus der Zeit gefallen, jetzt schlägt die Stunde der Skills. Warum es an der Zeit ist, unseren Blick auf Potenziale zu verändern – aus der Perspektive einer Arbeitswelt, die sich rasant wandelt. Einblicke von Ute Neher, Indeed.
Abschlüsse und Jobtitel nicht ausreichend
In meinem Job erlebe ich immer wieder, wie stark unser Blick auf Menschen noch von formalen Kriterien geprägt ist. Abschlüsse und Jobtitel erzählen aber nur einen Teil der Geschichte. Wer wissen will, was Menschen wirklich leisten können und wo sie hinwollen, muss auf das schauen, was zwischen den Zeilen steht: Informationen über ihre Fähigkeiten.
Genau deshalb brauchen wir einen Skills-first-Ansatz. Erst kommen die Fähigkeiten, dann die Qualifikationen.
Für ein besseres Recruiting.
Für mehr Fairness.
Und für die Zukunftsfähigkeit unserer Unternehmen.
Neue Arbeitswelt, neues Denken
Nicht weniger als das steht auf dem Spiel. Wir erleben derzeit eine fundamentale Verschiebung: Technologien, Demografie und der gesellschaftliche Wandel verändern die Spielregeln der Arbeitswelt – rasant und unumkehrbar. Wo früher noch Beständigkeit zählte, ist heute Anpassungsfähigkeit gefragt.
Doch viele Organisationen folgen noch einem Denken aus der Vergangenheit. Sie orientieren sich an starren Jobtiteln, formalen Abschlüssen und vordefinierten Berufsbildern – und übersehen dabei das eigentliche Potenzial hinter dem Lebenslauf: Die konkreten Fähigkeiten, die jemand mitbringt und weiterentwickeln kann.
Die neue Arbeitswelt verlangt von Unternehmen, dass sie nicht nur Talente gewinnen, sondern auch ihre Strukturen, Prozesse und Entscheidungslogiken hinterfragen. Es geht nicht nur um neue Tools – es geht um eine neue Haltung. Um dahin zu kommen, braucht die neue Arbeitswelt einen anderen Kompass.
Folglich stehen wir an einem Wendepunkt. „Skills-first“ ist kein Trend. Es ist die Antwort auf eine Arbeitswelt, in der sich Anforderungen schneller ändern als Berufsbilder. Und in der Erfolg nicht daran gemessen wird, was jemand abgeschlossen hat – sondern daran, wie schnell er oder sie sich weiterentwickeln kann.
Der Blick geht also nach vorne, nicht zurück.
Warum Skills der bessere Kompass sind
Skills sind dabei ein wesentlicher Erfolgsfaktor. Sie geben uns das, was die Arbeitswelt der Zukunft am dringendsten braucht: Flexibilität. Außerdem die Fähigkeit, mit neuen Technologien umzugehen, sich in unbekannten Rollen zurechtzufinden und in hybriden Teams zu arbeiten. Alles das braucht es, um ein Unternehmen zukunftsfähig zu machen. Wer Skills in den Mittelpunkt stellt, investiert also nicht nur in Menschen – sondern in die Zukunft des gesamten Unternehmens.
In der Arbeitswelt ist diese Erkenntnis allerdings bisher noch nicht sehr verbreitet. Noch immer richten viele Personalverantwortliche den Blick weiterhin zuerst auf formale Qualifikationen – und erst danach auf Erfahrungen. Oder eben: auf Skills.
Das hat viel mit unserem Bildungssystem zu tun. Die duale Berufsausbildung in Deutschland ist international anerkannt und hat mit ihren festgelegten Berufsbildern dazu beigetragen, dass unsere Unternehmen wettbewerbsfähig bleiben. Doch so wertvoll dieses System auch ist: es ist starr. Und Starrheit passt nicht zu einer Arbeitswelt, die sich ständig wandelt.
Berufsbilder verändern sich. Doch trotz der sich verändernden Anforderungen an eben jene Berufsbilder halten viele Unternehmen an klassischen Rekrutierungsmustern fest. Sie orientieren sich an tradierten Voraussetzungen, ohne dabei aktuelle Entwicklungen und Anforderungen an das jeweilige Jobprofil zu berücksichtigen.
Die Folge: Sie wählen zu oft die falschen Talente aus.
Arbeitgeber und Jobsuchende gleichermaßen betroffen
Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels können sich Arbeitgeber solche Fehlgriffe nicht mehr leisten. Aber der Arbeitsmarkt ist aktuell gespalten: In einigen Branchen herrscht akuter Fachkräftemangel, in anderen kommt es zu Stellenabbau und Umstrukturierungen. Doch hier wie da benötigen Unternehmen aufgrund des Wandels dringend neue Kompetenzen. Allerdings verfügen viele Menschen nicht über die formalen Abschlüsse, die traditionell für die entsprechenden Stellen vorausgesetzt werden. Das ist ein strukturelles Hindernis auf dem Weg Richtung Zukunft.
Skill-first Hiring
Eine wirksame Antwort darauf bietet Skills-first Hiring. Statt Stellen mit fixen Qualifikationsanforderungen auszuschreiben, rückt dieses Prinzip die Fähigkeiten der Bewerbenden ins Zentrum. In der Theorie ist das angekommen: Laut Mercer Global Talent Trends ist das Thema auf der Prioritätenliste der CEOs weltweit von Platz acht im Vorjahr auf Platz drei geklettert. Nach der Karriereentwicklung (73%) landet Talent Acquisition (70%) auf Rang zwei der wichtigsten Skill-basierten Anwendungsbereiche.
Doch Skills sind mehr als ein Auswahlkriterium im Recruiting. Sie sind die neue Maßeinheit für Entwicklung, Wandel und Zukunft. Wer Skills-first denkt, erkennt nicht nur, was jemand heute kann – sondern auch, was jemand morgen lernen und in der Lage sein wird zu leisten.
Doch es gibt noch einen weiteren Vorteil. Anders als starre Anforderungsprofile oder formale Abschlüsse lassen sich Skills modular denken – wie Bausteine, aus denen sich flexible Karrierepfade gestalten lassen. Ein einzelner Skill ist kleiner als ein Job, präziser als ein Titel – und genau deshalb so wertvoll.
Unternehmen, die Skills gezielt erfassen und weiterentwickeln, gewinnen eine neue Beweglichkeit: Sie können schneller auf Veränderungen reagieren, Talente intern neu verorten und gezielt weiterqualifizieren. Skills geben also nicht nur Auskunft darüber, was Menschen können. Sie sind der Gradmesser für Lernfähigkeit, Anpassungsbereitschaft und Resilienz – und damit ein strategischer Hebel für ein Recruiting mit Weitsicht.
Realität: Noch fehlt die Umsetzung
In der Praxis gestaltet sich das alles jedoch noch schwierig. Laut einer Studie von Indeed empfinden 33% der Jobsuchenden in Deutschland die Anforderungen in Stellenanzeigen als unrealistisch. Das sind mehr als in den meisten anderen europäischen Ländern. 42% haben Schwierigkeiten, eine passende Stelle zu finden. Auf Arbeitgeberseite sagen 58%, dass Recruiting heute schwieriger ist als vor drei Jahren. Das heißt im Endeffekt: Beide Seiten müssen umdenken.
Immerhin sind 70% der deutschen Unternehmen laut Indeed-Umfrage mit dem Prinzip des Skill-basierten Recruitings vertraut. Mehr als die Hälfte (53%) hat bereits eine kompetenzbasierte Strategie definiert. Doch in der Umsetzung scheitert es oft an zwei Dingen: an fehlender Messbarkeit des Skill-Investitionsertrags und an veralteten Organisationsstrukturen.
Was bedeutet das?
Viele Unternehmen wissen genau, was es kostet, eine Stelle unbesetzt zu lassen. Aber welchen Business-Impact gezielte Skill-Investitionen haben – durch Upskilling, durch Neueinstellungen oder durch die gezielte Förderung der Talentmobilität – bleibt oft unklar. Ohne belastbare Daten fehlt die Grundlage für Entscheidungen.
Der Einsatz zahlt sich doppelt aus
Wer die Daten hat, muss sich allerdings intelligent einsetzen. Auch hier hapert es in der Praxis. Denn es zeigt sich: Einzelne Fachbereiche rekrutieren bereits Skill-basiert. Doch was fehlt, ist eine übergeordnete Strategie. Eine, die alle mitnimmt: Personalabteilungen, Hiring Manager, Entscheidungsträger. Laut Indeed planen weitere 23% der Unternehmen, eine solche Strategie in den nächsten Jahren zu etablieren. Wichtig ist, dass sie sie nicht nur einplanen – sondern leben.
Dazu gehört: Stellenausschreibungen anzupassen, Skills unabhängig von Abschlüssen zu bewerten und HR-Teams entsprechend zu schulen.
Der Aufwand zahlt sich aus. Das belegen die Fakten: Unternehmen, die auf kompetenzbasiertes Recruiting setzen, können messbare Fortschritte erzielen. Laut Indeed verzeichnen sie einen um 23% höheren ROI bei ihren Recruitingkampagnen und finden 28% mehr passende Talente. Besonders relevant: 64% dieser Unternehmen beobachten positive Veränderungen bei der Vielfalt in ihren Teams.
Diese Ergebnisse zeigen: Es geht um mehr als nur um kurzfristige Effizienzgewinne. Viel mehr ist ein Skill-orientierter Ansatz ein struktureller Hebel – für passgenaue Besetzungen, stärkere Teamstrukturen und eine nachhaltige Weiterentwicklung in einer vielfältigen Arbeitswelt.
Mein Fazit: Skills sind der Anfang – der Wandel braucht mehr.
Skills-first ist mehr als nur eine neue Recruiting-Methode. Es ist ein Perspektivwechsel. Eine Einladung, Menschen ganzheitlich zu betrachten – nicht über ihre Abschlüsse, sondern über ihre Fähigkeiten, ihr Potenzial, ihre Entwicklungskraft.
Wer heute in Skills investiert, entscheidet sich für eine zukunftsfähige, gerechtere und beweglichere Arbeitswelt. Das gelingt nicht durch einzelne Pilotprojekte – sondern durch unternehmerischen Mut, strukturellen Wandel und echte Umsetzung. Die Arbeitswelt verändert sich.
Es ist an uns, ob wir sie nur beobachten – oder aktiv besser machen.