Hoch strukturierte Interviews sind bei der Bewerberauswahl unverzichtbar. Aber wer zu starr an der Struktur festhält, senkt seine Attraktivität als Arbeitgeber. Wie also die Problematik lösen im Spannungsfeld zwischen Struktur und Flexibilität? Inspirierende Gedanken von Dr. Stella Katharina Wanzel und Roxana Junczyk.
Hoch strukturiert … aber steif
Haben Sie sich in einem Bewerbungsgespräch auch schon einmal wie in der Schule gefühlt? Mir ging es so, als ich vor einiger Zeit selbst Kandidatin in einem hoch strukturierten Auswahlprozess war. Die Interviewerinnen hatten einen Interviewleitfaden vorliegen, aus dem sie jede der Fragen wortwörtlich vorlasen.
Raum für individuelle Rückfragen gab es nicht. Meine Fragen durfte ich erst am Ende des Interviews stellen. Ein Feedback blieb aus.
Schon zu Beginn hatten sie sich dafür entschuldigt, dass dieses Vorgehen auf mich als Bewerberin recht steif wirken könnte. Und sie hatten Recht. Das Gespräch war kein Austausch auf Augenhöhe, sondern lässt sich hinsichtlich der Atmosphäre eher mit einer mündlichen Prüfung vergleichen.
Negative Candidate Experience
Meine Erfahrungen und Wahrnehmungen im Bewerbungsprozess, die sogenannte Candidate Experience, waren in diesem Fall also eher negativ. Gerade in einer Zeit, in der sich der Arbeitsmarkt immer mehr zu einem Arbeitnehmermarkt wandelt, ist es für Organisationen aber von zentraler Bedeutung, von Bewerberinnen und Bewerbern als attraktiv wahrgenommen zu werden.
Eine wichtige Rolle dabei spielt, wie der Auswahlprozess auf die Bewerbenden wirkt. So konnten verschiedene Studien zeigen, dass die wahrgenommene Unternehmensattraktivität damit zusammenhängt, ob der Auswahlprozess als positiv empfunden wird.
Wann wird eine Personalauswahlprozess positiv wahrgenommen?
Was ist nötig, damit eine Auswahlsituation positiv wahrgenommen wird? Schon in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts beschäftigten sich der Psychologie-Professor Heinz Schuler und Willi Stehle mit den Faktoren, die die eignungsdiagnostische Situation für Bewerbende zu einer akzeptablen sozialen Situation und damit sozial valide machen.
Dem Modell von Schuler zufolge entsteht soziale Validität durch hinreichende Information zu den Tätigkeitsanforderungen, Organisationsmerkmalen und dem Auswahlprozess, Partizipation der Bewerbenden an der Entwicklung und Durchführung des Auswahlprozesses, Transparenz (z. B. welchen Bezug haben die Fragen zum späteren Arbeitsalltag) sowie Feedback.
Einblicke in Joballtag wichtig
In einem hoch strukturierten Interview, wie es eingangs beschrieben wurde, mangelt es häufig insbesondere an Einblicken in den Job-Alltag, Partizipation sowie sachlichem konkreten Feedback, das den Bewerberinnen und Bewerbern hilft, ihre Leistung einzuschätzen und aus Fehlern zu lernen.
Gerade wenn man merkt, dass der Bewerbende bei der Fragenbeantwortung “falsch abbiegt”, kann es sinnvoll sein, die Antwort nicht direkt als ungeeignet zu bewerten, sondern dem- oder derjenigen einen entsprechenden Hinweis zu geben, nachzufragen, nochmal die Zielsetzung der Frage transparent zu machen und gegebenenfalls die Möglichkeit zu geben, die Antwort nochmal neu zu formulieren.
Dies nutzt sowohl Bewerberinnen und Bewerbern, da sie das Gefühl einer zweiten Chance bekommen, als auch der Organisation, die die Reflexions- und Lernfähigkeit ihrer Kandidatinnen und Kandidaten prüfen kann.
Interview-Struktur dennoch von Relevanz
Gleichzeitig ist die Relevanz von Strukturierung im Interview nicht von der Hand zu weisen. Es ist hinlänglich bekannt, dass strukturierte Interviews im Vergleich zu unstrukturierten Interviews zu treffsichereren Prognosen führen.
Die eignungsdiagnostische Forschung weist aber auch darauf hin, dass ein höherer Strukturierungsgrad tatsächlich nur bis zu einem gewissen Maß mit höherer Validität einhergeht. Über diesen Grad hinaus gibt es keinen signifikanten Zuwachs an Validität.
Man spricht hier von einem Deckeneffekt. Durch die zunehmende Wichtigkeit einer positiven Candidate Experience und sozialer Validität sowie in Anbetracht der Deckeneffekte von strukturierten Interviews stellt sich daher die Frage:
Wie viel Struktur im Interview ist nötig und wie viel Flexibilität ist möglich?
Richtiges Maß an Struktur und Flexibilität
Ein gewisses Maß an Strukturierung ist sicherlich unerlässlich. So sollten ein Interviewleitfaden mit festgelegten Fragen oder mindestens ein Fragenpool sowie je Anforderung Bewertungsskalen vorliegen. Gleichzeitig ist es aus unserer Sicht wünschenswert, dass die Interviewenden den Kandidatinnen und Kandidaten durch Feedback die Möglichkeit geben, ihre Antworten anzupassen. Sie sollten aber auch für unerwartete Antworten offen sein.
Wenn Bewerbende mit unerwarteten Antworten zum Ergebnis kommen, sollten Interviewerinnen und Interviewer sich nicht rein durch die Verhaltensanker limitieren, die sie sich im Vorfeld vorstellen konnten.
Oft nicht alle Verhaltensanker erfasst
Zum einen kann es auch mit der besten Anforderungsanalyse passieren, dass nicht alle relevanten Verhaltensanker erfasst werden. Verhaltensanker sind beobachtbare Verhaltensweisen (z.B. “spricht klar und deutlich”), aus denen sich Rückschlüsse auf ein nicht beobachtbares Anforderungskriterium (z.B. Kommunikationsstärke) ziehen lassen.
Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass den Strukturierungs- und Verhaltensmerkmalen auch unsere eigene kulturelle Prägung zugrunde liegt. Die kulturelle Prägung unseres Gegenübers kennen wir als Interviewerinnen und Interviewer indes nicht.
So kann es sein, dass eine Person aus einem anderen Kulturraum zu einem bestimmten Eignungsmerkmal ganz andere Verhaltensweisen zeigt, als wir es uns vorher vorstellen konnten, wenngleich diese nicht weniger richtig sein müssen. Zum Beispiel wird für Kommunikationsstärke häufig “lässt sein Gegenüber ausreden” als Verhaltensanker genutzt. Einander ausreden lassen hat allerdings eine ausgeprägte kulturelle Komponente und ist nicht zwingend ein hinreichendes Kriterium für berufliche Eignung.
Vorab festgelegte Eignungskriterien limitieren
Die Operationalisierung von Eignungskriterien via Verhaltensankern führt dazu, dass wir uns in unserem Auswahlprozess auf das beschränken, was wir uns bereits im Voraus an Eignungsmerkmalen und repräsentativen Verhaltensweisen vorgestellt haben.
Bewerberinnen und Bewerber, die im Auswahlprozess Verhaltensweisen oder Ansätze zeigen, die nicht unseren vorab festgelegten Erwartungen entsprechen, werden in diesem Verfahren nicht bewertet oder nicht positiv bewertet. Untypisches Verhalten ist aber nicht gleich ungeeignetes Verhalten. Wir machen positive Erfahrungen damit, Anforderungsprofile anhand von User Stories, einer Methodik aus der agilen Softwarenentwicklung, zu beschreiben.
User Stories zeichnen sich dadurch aus, dass sie das Ziel, die Funktion, den Nutzen oder das Ergebnis der Position in den Vordergrund stellen und nach dem folgenden Schema definiert werden: „Als [Rolle] benötige ich [Ziel], um [Nutzen zu erreichen].“
Festlegung von Erwartungshaltungen
Statt also festzustellen, dass eine Vertriebsleitung bestimmte Fach- und Methodenkenntnisse sowie spezifische Führungs-, Verhandlungs-, Konfliktmanagement- und strategische Kompetenzen benötigt, konzentrieren wir uns darauf, wofür verschiedene Stakeholder diese Person benötigen.
Die Geschäftsleitung erwartet einen bestimmten Umsatz und Profitabilität bei einem bestimmten Marktanteil. Das eigenständige, konfliktreiche oder neu formierte Team benötigt von der Vertriebsleitung Unterstützung, Konfliktlösung oder Orientierung. Das Produktmanagement erwartet zuverlässiges Feedback aus dem Markt sowie ein tiefes Verständnis des Wettbewerbs und der Kundensegmente. Die Kunden wünschen sich Außendienstmitarbeiter, die ihre Bedürfnisse verstehen und passende Lösungen zu attraktiven Konditionen anbieten.
Die Verwendung von User Stories zur Operationalisierung von Leistungskriterien ermöglicht uns einen ergebnisorientierten anstatt verhaltensorientierten Ansatz und somit eine kulturunabhängige Bewertung der Eignung der Bewerbenden.
Kein Ausspielen hoch strukturiert versus unstrukturiert
Dies soll kein Plädoyer für unstrukturierte Interviews sein. Wir schlagen vor, auf eine reine Dichotomisierung in Richtung “strukturiert versus unstrukturiert” zu verzichten. Stattdessen sollte angesichts der Deckeneffekte von Strukturierung sowie der Notwendigkeit, sich den Erfordernissen einer von Veränderungen geprägten Arbeitswelt anzupassen, eine Balance zwischen Strukturierung einerseits und einer gewissen Flexibilität seitens der Interviewerinnen und Interviewer andererseits angestrebt werden.
Wir haben noch nicht die perfekte Antwort darauf, wie dies am besten gelingen kann, denken aber, dass in Anbetracht des umkämpften Arbeitnehmermarkts ein Umdenken notwendig ist.