Die Balance zwischen Karriereambitionen und dem Wunsch nach einer Familie ist eine komplexe Angelegenheit, die unterschiedliche Perspektiven und Meinungen hervorbringt. Mit diesem Artikel möchte Gastautorin Gina Renner, Co-Founderin unfoldnow, die Auswirkungen der Transparenz bezüglich des Kinderwunsches auf die berufliche Entwicklung beleuchten.
Kinderwunsch und Arbeitswelt: Ein persönlicher Einblick
Ich selbst habe den Weg Kinderwunsch über knapp fünf Jahre beschritten, wovon ich zweieinhalb Jahre in einer Kinderwunschbehandlung verbracht habe. Diese Zeit war von einer Achterbahn der Gefühle geprägt, von Freude und Hoffnung bis hin zu Verzweiflung und Unsicherheit.
Der Kinderwunsch hat nicht nur meine Emotionen, sondern auch mein Denken und Handeln bei wichtigen Entscheidungen stark beeinflusst. Die Frage eines Jobwechsels, beispielsweise, wurde zu einem wahren Dilemma. Die Ängste waren vielfältig.
- Konnte ich es mir erlauben, während dieser Phase meinen Job zu wechseln?
- Was, wenn ich genau dann schwanger werde oder schon schwanger bin, wenn ich den neuen Job antrete?
- Aber was ist, wenn der Kinderwunsch noch eine längere Zeit in Anspruch nimmt?
- Verpasse ich dann Chancen, weil ich abwarte?
- Würde ich auf die berufliche „Ersatzbank“ geschoben werden, wenn es um Beförderungen geht? Schließlich würde ich eine gewisse Zeit vor und nach der Geburt ausfallen.
Überlegungen zum Kinderwunsch betreffen vorwiegend Frauen
Die Sorgen waren real und belastend und die Doppelmoral wurde immer offensichtlicher: Die meisten Männer haben diese Überlegungen während des Kinderwunsches nämlich nicht. Sie blieben frei in ihren beruflichen Entscheidungen und ihren Auswirkungen.
Es war frustrierend zu erleben, wie sehr der Prozess der Kinderwunschbehandlung das eigene Leben dominierte. Die täglichen Hormonspritzen, die unerwarteten Arzttermine, die Umwälzungen im Alltag – all das führte zu einer Überforderung, die von außen oft nicht verstanden wurde. Dieses riesige Paket konnte ich natürlich morgens vor der Arbeit nicht einfach ablegen. Es hat mich täglich begleitet und in meinem Sein stark beeinflusst.
Daher finde ich es persönlich so wichtig, dieses Tabuthema zu brechen und darüber zu sprechen.
Kinderwunsch im Kontext der Berufsentwicklung
Die Vereinbarkeit von Beruf und persönlichen Lebensaspekten, wie dem Kinderwunsch, sollte als integraler Bestandteil einer ganzheitlichen Betrachtung von Mitarbeiter:innen angesehen werden. Der Kinderwunsch kann erheblichen Einfluss auf das individuelle Wohlbefinden haben und somit auch auf die Arbeitsleistung.
Insbesondere während einer Kinderwunschbehandlung stehen Betroffene vor einer emotionalen Herausforderung. Die Unvorhersehbarkeit von Terminen beim Arzt bzw. einer Ärztin, die Einnahme von Medikamenten und möglicherweise sogar operative Eingriffe können die berufliche Produktivität beeinträchtigen.
Die emotionale Verfassung einer Person spiegelt sich oft direkt in ihrer Arbeitsleistung wider. Die Hormonbehandlung und die physische Beeinträchtigung durch medizinische Eingriffe können die Arbeitsfähigkeit einschränken, ob wir wollen oder nicht. Dies verdeutlicht, wie eng persönliche Umstände und berufliche Leistung miteinander verknüpft sind.
Relevante Studienergebnisse zum Kinderwunsch im Überblick
Eine Studie von Zavamed hat gezeigt, dass zwischen dem 20. und 50. Lebensjahr etwa jede zehnte Person in Deutschland ungewollt kinderlos bleibt. Laut dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) ist beruflicher Stress ein signifikanter Faktor für ungewollte Kinderlosigkeit – 39 % der Frauen und 34 % der Männer führen dies darauf zurück.
Der aufgeschobene Kinderwunsch beeinflusst maßgeblich die Wahrscheinlichkeit, überhaupt noch Kinder zu bekommen.
Interessanterweise können sich etwa 25 % der deutschen Frauen eine künstliche Befruchtung vorstellen. Zudem steigt mit einem höheren Einkommen das Interesse an modernen medizinischen Methoden zur Unterstützung der Familienplanung.
Diese Ergebnisse verdeutlichen, dass ungewollte Kinderlosigkeit und beruflicher Stress in einem engen Zusammenhang stehen.
Hier können HR- und People & Culture-Units eine bedeutende Rolle spielen. Die Förderung familienfreundlicher Arbeitsbedingungen, wie flexible Arbeitszeiten und Unterstützung bei der Kinderbetreuung, sowie die Möglichkeit zur offenen Diskussion über Familienplanung, können den Druck auf Mitarbeiter:innen reduzieren.
Der Wunsch nach künstlicher Befruchtung unterstreicht den starken Willen zur Elternschaft trotz biologischer Hindernisse. Ein höheres Einkommen korreliert positiv mit einer aufgeschlossenen Haltung gegenüber modernen Arbeitsmodellen LINK, was Unternehmen dazu anregen sollte, flexiblere Arbeitsmodelle zu fördern, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu erleichtern.
Implikationen für HR-Strategien
In der dynamischen Arbeitswelt von heute sind Familienplanung und berufliche Entwicklung stark miteinander verwoben. Unternehmen sind zunehmend gefordert, eine Kultur der Unterstützung zu schaffen, die nicht nur die Zeit während der Elternzeit, sondern auch die Phase davor, den Kinderwunsch und die gesamte Employee Journey umfasst.
Ein umfassender und ganzheitlicher Ansatz in HR-Strategien ist unverzichtbar, um die Bedürfnisse der Mitarbeiter:innen zu erfüllen und das Engagement sowie die Produktivität zu steigern.
Fünf Empfehlungen zum Umgang mit Kinderlosigkeit für HR
1. Offene Unternehmenskultur
Die Geschäftsführung und das Leadership-Team sollten vorleben, wie offene Kommunikation zu sensiblen Themen gefördert wird, ohne Druck auf die Mitarbeiter:innen auszuüben. Sie sollten Erfahrungen teilen (natürlich nur die, mit denen sie sich wohl fühlen) und dadurch Vertrauen aufbauen und Tabuthemen durchbrechen.
2. Bewusstsein für die Employee Journey
Unternehmen sollten sich bewusst sein, an welchem Punkt sich ihre Mitarbeiter:innen in Bezug auf ihre persönlichen Pläne und den Kinderwunsch befinden. Neben dem Kinderwunsch kann es natürlich weitere relevante Themen geben, die Beachtung benötigen. Es ist immer wichtig, die individuellen Themen herauszufinden und nicht nach “one fits it all” zu handeln.
3. Sensible Kommunikation
Klischeefragen sollten Sie besser vermeiden. Also bitte keine Fragen wie “Na, wann ist es bei euch endlich so weit?” Man weiß nie, was die einzelnen Personen schon durchgemacht haben. Fehlgeburt. Frau kann keine Kinder bekommen. Das Paar möchte keine Kinder bekommen und es ist leid, sich zu rechtfertigen.
Stattdessen können anonyme Umfragen durchgeführt werden, um den Bedarf an Austausch zu diesem Thema (oder auch Themen darüber hinaus) zu ermitteln und Unterstützungsmöglichkeiten zu identifizieren oder überhaupt diesem Thema endlich eine Bühne zu geben, wenn auch anonym.
4. Individuelle Unterstützung
Falls bekannt ist, dass Mitarbeitende sich in der Familienplanung befinden, einfach nachfragen, wie sie sich den Umgang damit wünschen. Möchte die Person weiterhin dazu in den Austausch gehen? Gibt es einen aktuellen Bedarf? Sollten Unterstützungsmaßnahmen gestellt werden? Sollten Meeting-Formate angepasst oder einfach nur Uhrzeiten geändert werden?
5. Leadership-Training
Schulung der Führungskräfte in Kommunikation und Sensibilität, um ein Umfeld zu schaffen, in dem sich Mitarbeiter:innen öffnen können. Dazu gehören für mich auch regelmäßige Check-Ins mit den Mitarbeitenden, bei denen man sich genügend Zeit nimmt, um in den Austausch zu gehen und zu verstehen, wie es dem Gegenüber geht. Unternehmen sollten dahingehend natürlich auch die Zeit einplanen, damit das umgesetzt werden kann.
Mein Fazit zum Thema Kinderwunsch und Karriere
Das Thema Kinderwunsch in Organisationen ist und bleibt ein sehr komplexes, persönliches und individuelles Thema. Die Offenheit bezüglich des Kinderwunsches kann einen erheblichen Einfluss auf die berufliche Entwicklung haben.
Unternehmen sollten sensibel auf die Bedürfnisse ihrer Mitarbeiter:innen eingehen, um eine harmonische Balance zwischen Karriere und persönlichen Lebenszielen zu schaffen. Die Implementierung familienfreundlicher Arbeitsbedingungen und eine offene Kommunikationskultur sind Schritte in die richtige Richtung, um Mitarbeiter:innen zu unterstützen und zu ermutigen, ihre individuellen Lebenspläne zu verfolgen.
Es sind allerdings erste Schritte. Die Anwendung und das tagtägliche Umsetzen ist der Faktor, an dem viele Organisationen scheitern. Eine neue Arbeitswelt kann jedoch nur durch Mut und neue Denkanstöße entstehen. Also, los geht´s!