Hochsensibilität - Fluch oder Segen im Job?

Hochsensibilität: Fluch oder Segen in Job & Arbeitsleben?

Hochsensibilität als Begriff wird von der Gesellschaft oftmals eher negativ konnotiert. Woher das Wort stammt, was es bedeutet hochsensibel zu sein und wie sog. „highly sensitive person (HSP)“ im Job und Arbeitsleben agieren und reagieren, damit befasst sich Doktorandin Katharina Meyer im Teil 1 ihrer Ausführungen.

Was bedeutet Hochsensibilität (Highly Sensitive Person – kurz: HSP)?

Hoch und Sensibilität. Eine etymologische Herleitung, die im Anklang auf den ersten Blick meiner Meinung nach im gesellschaftlichen Kontext keine sonderlich positive Konnotation hervorruft.

Wortbestandteil Hoch

Betrachtet man die Wortbedeutungen und deren Assoziationen, so sticht zunächst einmal der Wortbestandteil „hoch“ ins Auge. Hoch steht im Kontrast auf einer Dichotomie gefächert für das gegenteilige Wort „niedrig“. Und das ist, sagen wir mal – „extrem“. Folglich entsteht der Eindruck von „zu viel von etwas“, also den Normalbereich verlassend. Dieser Umstand ist zumeist erst einmal weniger attraktiv, da es aufzeigt, dass es eine Exklusion aus der Mehrheit beziehungsweise Masse darstellt. Und das wiederum bedeutet für das Gehirn indes erst einmal: existenzielle Gefahr.

Wortbestandteil Sensibilität

Der zweite Wortbestandteil ist „Sensibilität“. Hier muss ich etwas weiter ausholen, denn dazu gibt es je nach Fachdisziplin und perspektivischer Betrachtung unterschiedliche Bedeutungen. Wirft man dazu einen Blick in den Online-Duden, so lässt es sich bildungssprachlich mit „Empfindlichkeit“ übersetzen oder mit „Gespür für Verletzendes“ deklarieren.

Des Weiteren steht im medizinischen Gebrauch die Bedeutung der Reiz-, Schmerzempfindlichkeit (des Organismus und bestimmter Teile des Nervensystems) im Fokus. In der Fotografie hingegen die Lichtempfindlichkeit von Filmmaterial, die indes genannte Synonyme Empfindlichkeit, Empfindsamkeit, Feinfühligkeit, Fingerspitzengefühl einschließen, was je nach Entnahme der entsprechenden Bedeutung ebenfalls zunächst in Übertragung auf den Menschen, meines Erachtens kein sonderlich ansprechendes Bild abgibt.

Aber werfen wir nun einen genaueren und vor allem fundierten Blick auf den Sachverhalt der Hochsensibilität, wobei im Rahmen dieses Artikels kein Anspruch auf Vollständigkeit besteht.

Wie lässt sich Hochsensibilität begreifen und diagnostizieren?

Hochsensibilität ist bisher noch wenig erforscht. Dennoch existiert wissenschaftliche Literatur. Aber auch eine Fülle an Ratgebern lässt sich im Rechercheprozess herausarbeiten. Rohleder argumentiert 2015, dass die bisherige Unterrepräsentation von Studien und entsprechender Forschungsergebnisse auf die unzureichende Offenheit der klassischen Disziplin der Psychologie für eine holistische Sichtweise auf den Menschen zurückzuführen ist.

Dies führt seiner Ansicht nach zu einer fehlenden klaren Definition von Hochsensibilität und damit zwangsläufig zu einer Heterogenität an Modellen und Erklärungs-, wie auch Definitionsversuchen. Aron betonte schon im Jahr 2013, dass in der Psychologie Hochsensibilität über die Selbstauskunft durch die quantitative und standardisierte Technik der Fragebogenerhebung vorrangig hergeleitet und diagnostiziert wird – ihr Instrument besteht aus 23 Items.

Es wird angenommen, dass Hochsensibilität erblich angelegt ist, jedoch die sozialisatorischen Faktoren in den ersten Lebensjahren besonderen Einfluss auf die Entwicklung des vorhandenen Potenzials haben. Für die klinische Diagnostik, zur Verwendung im stationären psychosomatischen Kontext, erstellte Prof. Dr. Hinterberger 2019 einen differenzierteren Fragebogen mit 30 Items. Auch Will pointiert nach Hinterberger in diesem Zusammenhang: „Während die Sensibilität durchaus eine gesundheitserhaltende Ressource darstellt, muss in der Therapie vor allem auf die Verarbeitungsprobleme und die daraus resultierenden psychosomatischen Störungen eingegangen werden.“

Hochsensibilität betrifft nur Wenige – oder doch nicht?

Falsch. Laut Prof. Dr. Aron gehen Wissenschaftler:innen von rund 15-20 % aller Menschen aus, welche als hochsensibel kategorisiert werden können. Hochsensibilität ist jedoch von der reinen physiologischen Sensibilität abzugrenzen. Interessanterweise stellt sie ebenfalls heraus, dass innerhalb der höheren Tierarten die Zahl der Tiere, die auf Reize erhöhte Aufnahmebereitschaft zeigen fast gleich hoch in der Prozentzahl liegen wie bei Menschen. Ähnlich wie sich innerhalb von Spezies Merkmale wie bspw. Größe zeigen, ist dies auch bei Sensibilität der Fall.

Aspekte von Hochsensibilität

Einleitend kann auf einen Verweis von Sellin pointiert  2014 hingewiesen werden, welcher heraushebt, dass sich der Großteil von Hochsensiblen in einem inneren Spannungsfeld befindet, welches zwischen einer Über- und Unterforderung disponiert.

Hochsensibilität kennzeichnend sind laut Lengyel (2013) nach Skarics:

  • ausgeprägte Fähigkeit, zwischen den Zeilen zu lesen
  • hohe Intuition
  • starker Gerechtigkeitssinn
  • großer Idealismus
  • hohe Feinfühligkeit
  • intensives Empfinden und Wahrnehmen von Erlebtem
  • Perfektionismus und Verlässlichkeit
  • sehr gute Wahrnehmung von Details
  • starke Verbundenheit mit der Schönheit der Natur und Kunst
  • tiefe Reflexion und Denken in großen Zusammenhängen
  • hohe Kreativität
  • geringe Stressresistenz
  • Neigung zu diversen Überempfindlichkeiten (Allergien, Nahrungsmittel)
  • Abgrenzungsschwäche
  • hohe Schreckhaftigkeit
  • Neigung zu Überreaktionen
  • rasche Gereiztheit
  • hohes Rückzugsbedürfnis
  • regelmäßiges Überforderungsgefühl.

Aron betont allerdings , dass Hochsensibilität von Introversion abzugrenzen ist, denn bei ihren Studien fand sie heraus, dass 30% der Menschen sozial extravertiert sind, wobei auch hier bei Überstimulation soziale Kontakte zu anderen Menschen vermieden werden.

Fünf Dimensionen von Hochsensibilität

Weiterhin können nach Lengyel fünf Dimensionen von Hochsensibilität erhoben werden:

  • visuelle Reize
  • auditive Reize
  • olfaktorische Reize
  • gustafaktorische Reize
  • taktile Reize

die bei hochsensiblen Menschen durch die erhöhte Informationsaufnahme durch Reize aus der Umwelt schneller den „Speicher füllen“.

Drei Hauptthemen der Hochsensibilität

Erfassen einer höheren Ordnung

Rohleder geht weiterhin auf einige Merkmale von HSP ein. Zunächst verfügen hochsensible Personen seiner Ansicht nach über ein tieferliegendes und allumgreifendes Wissen, welches er als schnelles und raumgreifendes Erfassen einer höheren Ordnung beschreibt. In der Auseinandersetzung mit Menschen, Situationen oder Gegebenheiten fühlen HSP ob etwas stimmig ist oder nicht. Sie kennen sozusagen immer das Optimum. Wobei sich dieses Wissen vor allem auf die Bereiche von Harmonieverständnis, Gewissenhaftigkeit und Gerechtigkeit bezieht.

Streben nach Autonomie und Unabhängigkeit

Als zweites Hauptthema ist das Autonomiebestreben bzw. die Unabhängigkeit zu nennen, welches für hochsensible Menschen unabdinglich ist und ein hohes Maß an Freiheit, Eigenverantwortlichkeit, Leistungsdenken und einen ausgeprägten Führungsanspruch enthält.

Vor allem Motivationsversuche oder Anweisungen stellen laut Rohleder eher eine Herabsetzung bzw. Abwertung für Hochsensible dar und können zu Blockaden führen. Die Betrachtung dieses Aspekts ist unerlässlich, denn niemand mag es, nicht beachtet zu werden. Der Unterschied ist, dass HSP emotional anders darauf reagieren. Diese Emotionen nehmen einen anderen Stellenwert ein wovon Normalsensible nicht betroffen sind. Von Kolleginnen und Kollegen oder Führungskräften ignoriert, vergessen oder sogar abgelehnt zu werden, kann bei HSP etwas sehr Dramatisches auslösen. Sie laufen Gefahr, dies als Bedrohung Ihrer vollständigen  Existenz aufzufassen.

Dies kann in der entstehenden Dynamik sogar bis zur Lebensmüdigkeit führen. Auch Aron betont den Aspekt der Unabhängigkeit, denn für hochsensible Personen ist die Selbständigkeit oder die Verantwortung für einen autonomen Arbeitsbereich in einem größeren Unternehmen eine logische Laufbahn.

Zum Führungsanspruch von HSP lässt sich nach Rohleder formulieren, dass diese vorrangig keinen Druck ausüben, sondern diskret und elegant führen. Sie wirken eher im Verborgenen und haben im Insgeheimen die Fäden in der Hand.

Schöpferkraft: Intuition, Kreativität und Erfindungsgeist

Weiterhin betont Rohleder das dritte Hauptthema: die Schöpfungskraft. Diese fächert er zur detaillierten Darstellung in Intuition, Kreativität und Erfindungsgeist auf. Wobei all diese Elemente zu anders gelagerten Bedürfnislagen führen, wie beispielsweise qualitativ hochwertige Pausen oder das Minimieren von (unnatürlichen) Außenreizen.

Aber auch die stringente und ehrliche Auseinandersetzung mit der Differenzierung zwischen den ureigenen Bedürfnissen und Wünschen und den sozialisierten und internalisierten gesellschaftlichen Normen (bspw. traditionelles Familienbild als Frau) ist für hochsensible Menschen und deren Lebensführung elementar, um starke kognitive Dissonanzen zu vermeiden. Und somit gesundheitsschädlichen Zuständen entgegenzuwirken oder geschickt und nachhaltig auszuweichen.

Ebenfalls bevorzugen hochsensible Personen Wohlstand im Kontext eines Strebens nach geistigen, sozialen oder ethischen Werten, was in der kapitalistischen Gesellschaft und der dazugehörigen Erbengenerationengesellschaft zu massiven inneren Spannungsfeldern bei Hochsensiblen führen kann und diesen Menschen eine besonders hohe Akzeptanz abfordert.

Ist Hochsensibilität Segen oder Fluch?

Hochsensible haben also mit einem enormen Spannungsfeld zu kämpfen. Einerseits mit einem hohen Bedürfnis nach Unabhängigkeit, andererseits einem erhöhten Sicherheitsbedürfnis. Dieses Spannungsfeld sollte jedoch aufgrund diverser Unsicherheitszonen im Arbeitskontext wie Globalisierung, Technisierung und Digitalisierung, usw. nicht nur aus finanzieller Absicherung aus Arbeitsverhältnissen befriedigt werden.

Weiterhin besitzen hochsensible Menschen eine hohe Selbstbezogenheit, lehnen Selbstdarstellung ab und bevorzugen einen hohen Grad an Authentizität. Aron wirft auf, dass sämtliche Studien über außergewöhnliche Erwachsene eine Mischung aus Persönlichkeitsmerkmalen wie Impulsivität, Wissbegier, dem starken Bedürfnis nach Unabhängigkeit, einem hohen Maß an Energie und dann wieder an Introvertiertheit, Intiutionsgabe, emotionaler Stabilität und Nonkonformismus belegen.

Indes betont Sellin, dass hohe Sensibilität eine Begabung sei.

Das sagt jedoch noch nichts darüber aus, ob ein Begabter oder eine Begabte diese Anlage auch als Gabe erkennen und konstruktiv nutzbar machen kann. Denn  auch Will erwähnt, dass Menschen mit einer “highly sensitive personality” wegen der kontinuierlichen Reizüberflutung und den Problemen in der Verarbeitung häufig mit psychosomatische Erkrankungen, wie Depressionen, Panik-, oder Angststörungen konfrontiert sind.

Deshalb kann Hochsensibilität für einen Menschen Segen und Fluch gleichermaßen darstellen.

Lesen Sie auch Teil zwei zur Frage: „Hochsensibilität und Remote Work – was Organisationen beachten sollten“!

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Katharina Meyer

Katharina Meyer als Gastautorin zum Thema Hochsensibilität

Katharina Meyer (M.Ed./ B.Ed/ B.A.) promoviert über Mikropolitik und professionelles Handeln im Kontext von sozialen personenbezogenen Dienstleistungsorganisationen und hat ein Promotionsstipendium der Stiftung der Deutschen Wirtschaft (sdw). Sie hat ursprünglich Berufliche Bildung Sozialpädagogik und Pädagogik studiert und arbeitet seit einigen Jahren aktiv im Praxisfeld der Sozialen Arbeit in unterschiedlichen Funktionen und Hierarchieebenen. Sie ist Gutachterin für Programm- und Systemakkreditierungen und zeitweise lehrend an Hochschulen und Universitäten tätig.

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