Seit Jahren wird davor gewarnt, dass der Fachkräftemangel der deutschen Wirtschaft große Probleme bereiten wird. Jetzt ist genau das eingetreten. Laut einer Studie des FAZ-Instituts unter Entscheidungstragenden in mittelständischen Unternehmen fehlt es in neun von zehn Betrieben an Personal. Gefragt nach den dringendsten Problemen, mit denen das eigene Unternehmen gerade konfrontiert ist, wählen die Befragten den Fachkräftemangel mit 50% auf Platz eins, erst dahinter folgen hohe Energie- und Rohstoffpreise (37%) sowie starke bürokratische Belastung. Fabian Scholz, WTE Search, gibt Praxistipps zum Recruiting internationaler Talente.
Besonders in einer Branche ist die Lage kritisch: Laut einer Umfrage des Digitalverbandes Bitkom werden in Deutschland bis zum Jahr 2040 663.000 IT-Fachleute fehlen. Zumindest, wenn der prognostizierten Entwicklung nicht entgegengesteuert wird. Aktuell sind rund 149.000 Stellen unbesetzt, Tendenz steigend. Die Konsequenzen sind der Verlust von Wettbewerbsfähigkeit, Wertschöpfung, Wachstum und Wohlstand.
Gelöst werden kann der Fachkräftemangel schon längst nicht mehr nur aus Deutschland heraus. Zwar nutzen wir noch nicht vollständig das Potential von Umschulungen und attraktiven Ausbildungen, aber damit würden wir nur knapp die Hälfte des Personalbedarfs abdecken. Die Lösung liegt deshalb klar im internationalen Recruiting. Für große Unternehmen schon länger Routine, fällt das aber vielen mittelständischen Unternehmen noch schwer. Neben den fehlenden Erfahrungen, sind es vor allem die folgenden Herausforderungen, vor denen viele sich scheuen.
Herausforderung Recruiting-Prozess: Wie beginnen?
Wer zum Beispiel nach IT-Expert:innen sucht, dem könnte zunächst Indien als geeignetes Land einfallen. Tatsächlich gibt es dort inzwischen zahlreiche große IT-Hubs, in die insbesondere viele Tätigkeiten outgesourct werden, die nicht zwangsläufig vor Ort erledigt werden müssen.
Geht es aber darum, eine Fachkraft zu rekrutieren, die das Team in Deutschland ergänzt und viel Verantwortung übernimmt, lohnt sich die Suche vor allem auch im Rest von Asien, in den Ländern Südamerikas und Südafrika. Es gibt also nicht das eine typische Herkunftsland. Viel entscheidender ist es, bei der Suche strategisch vorzugehen und abzuklopfen, welche möglichen Verbindungen bereits bestehen:
- Gibt es internationale Geschäftspartner oder Kund:innen, die dabei unterstützen könnten, den Zugang zu Talenten vor Ort zu bekommen?
- Welcher Branchenverband ist im Ausland aktiv und kann bei der Rekrutierung die ersten Schritte erleichtern?
- Haben meine Mitarbeitenden bereits ein internationales Netzwerk?
Im nächsten Schritt gibt es ein paar klassische Kanäle, die jedes mittelständische Unternehmen ohne Vorerfahrung und großen Aufwand nutzen kann:
- Die Auslandshandelskammer kontaktieren
- Die Jobbörse der Arbeitsagentur nutzen und hier der Veröffentlichung auf “Make it in Germany” zustimmen
- Gezielt auf international führende Hochschulen zugehen
Herausforderung Employer Branding: Wo sind denn alle?
Ideal ist es, sich während dieser ersten Schritte auch mit der eigenen Arbeitgebermarke zu beschäftigen. Viele mittelständische Betriebe haben hier noch Nachholbedarf. Eine aktuelle Studie unter 20.000 deutschen Mittelstandsunternehmen hat herausgefunden, dass nur rund 25% mit einer eigenen Unternehmensseite auf wichtigen Netzwerk- und Recruitingkanälen, wie LinkedIn vertreten sind.
Auch bei den CEOs sieht es nicht besser aus: Nur 12% aller Top-Manager kommunizieren aktiv. Damit ist aber nicht etwa tägliches oder wöchentliches Posting gemeint. Als aktiv gilt laut der Studie ein Profil bereits dann, wenn eine Person mindestens drei Beiträge jährlich veröffentlicht. Ganz schön mau. Hier kann der deutsche Mittelstand noch besser werden und sollte darauf achten, auch auf Englisch zu posten.
Gilt übrigens auch für die Website: Englische Karriereseite ist Pflicht. Kür ist es dann noch Einblick in das Betriebsklima und das Arbeitsumfeld zu geben. Arbeitet man mit externen Agenturen zusammen, kann man sich dabei auch helfen lassen. Die übernehmen nicht nur die Suche nach geeigneten Fachkräften, sondern optimieren auch den Rekrutierungsprozess insgesamt.
Herausforderung Matching: Wer passt?
Voraussetzung für ein gelungenes Matching ist eine gut gemachte Ausschreibung. Da sich die Qualifikationen international unterscheiden, ist es vor allem wichtig, konkret auf die Fähigkeiten einzugehen. Zusätzlich sollten sich Unternehmen Gedanken dazu machen, wie sie abgesehen von der Stelle das Arbeitsumfeld beschreiben könnten.
Der potentielle Umzug ist für internationale Fachkräfte mit vielen Fragen und Unsicherheiten verbunden. Je mehr es mittelständischen Unternehmen gelingt, dafür Verständnis und Empathie zu zeigen, in dem bereits proaktiv auf die häufigsten Fragen eingegangen wird, desto mehr können sie sich als attraktiven Arbeitgeber positionieren.
Spätestens im persönlichen Gespräch sollte dieser Aspekt der Zusammenarbeit geklärt werden. Für beide Seiten ist es essentiell, mögliche falsche Erwartungen schnell aufzudecken. Auf Seiten des Unternehmens ist es empfehlenswert folgende Fragen zu stellen:
- Warum und wie lange besteht bereits der Wunsch, in Deutschland zu arbeiten?
- Welche Hoffnungen und Herausforderungen sind damit verbunden?
- Was ist über die Region des Unternehmensstandortes schon bekannt?
- Haben Sie schon einmal längere Zeit von Familie und Freunden getrennt gelebt? Wie war es damals und was denken die jetzt über das Vorhaben?
Umgekehrt haben natürlich auch die Kandidaten zahlreiche Fragen, weil es eine einschneidende Lebensentscheidung ist, über die man hier spricht. Wohnraum, Aspekte der Integration, eine spätere Familienzusammenführung oder auch klassische Fragen zum Arbeitsalltag sind nur einige der Aspekte, die hier eine Rolle spielen werden. Darauf sollte ein Arbeitgeber also vorbereitet sein.
Empfehlung: Beidseitiges gutes Kennenlernen vor dem Relocation-Prozess schützt vor Mismatch
Kommt man im Laufe des Prozesses zu einem Match, ist es außerdem legitim, sich zunächst auf eine Probearbeit oder zumindest ein Kennenlernen mit dem zukünftigen Team zu einigen, was Remote erfolgen kann. Auch wenn hier ja explizit jemand für den Arbeitsplatz vor Ort in Deutschland gesucht wird, dürfte es hilfreich sein, sich vorab vertieft im Team kennenzulernen und somit grobe Mismatches auszuschließen, bevor der Relocation-Prozess beginnt.
Manche Arbeitgeber lassen Kandidaten und Kandidatinnen für die finale Kennenlernrunde einfliegen, aber das ist nicht wirklich notwendig, wenn sich alle wesentlichen Personen für die zukünftige Zusammenarbeit im Vorfeld per Video kennenlernen konnten.
Herausforderung Bürokratie: Wie aufwändig?
Vor diesem Aufwand graut es vielen, tatsächlich aber haben einige Reformen dazu geführt, dass die gesetzlichen Hürden für internationales Recruiting gut zu meistern sind. Insbesondere neue Mitarbeitende aus dem EU-Ausland könnten sich theoretisch in den nächsten Flieger setzen und direkt starten. Dank der Freizügigkeit ist es den EU-Bürger:innen erlaubt, in jedem Mitgliedstaat zu arbeiten.
Für neue Mitarbeitende aus dem EU-Ausland ist der Prozess etwas aufwändiger, aber aufgrund der neuen Regelungen des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes, gar nicht so kompliziert, wie viele vielleicht noch annehmen. Seit Juni dieses Jahrs sind alle drei Schritte der Anpassungen vollständig anwendbar. Zu den wichtigsten Punkten zählen, dass für die Übernahme einer qualifizierten Beschäftigung, mit Ausnahme einiger reglementierter Berufe (z.B. Ärzte oder Pflegende), ein Abschluss und zwei Jahre Berufserfahrung ausreichen.
Es ist also nicht mehr notwendig, dass der Berufsabschluss in Deutschland anerkannt ist. Im Ergebnis können so beispielsweise IT-Fachkräfte aus dem Ausland mit beschleunigtem Fachkräfteverfahren innerhalb von maximal vier Wochen das Visum erhalten und dann mit der EU-Blue Card einreisen.
Das ist im Vergleich zu einer üblichen Kündigungsfrist, die bei erfahrenen Mitarbeitenden eher mindestens zwei bis drei Monate beträgt, häufig sogar schneller, zumal die Kündigungsfristen in den Herkunftsländern meist sehr kurz sind. Die deutsche Bürokratie ist also in diesem Punkt besser als ihr Ruf und kein Grund, es nicht zu versuchen.
Herausforderung Integration: Wann gelungen?
Damit internationale Fachkräfte sich im Unternehmen wohlfühlen, gibt es nach erfolgreicher Vertragsunterzeichnung ein paar Punkte zu beachten. Viele wünschen sich Unterstützung beim Umzug und bei der Wohnungssuche. Hinzu kommen die folgenden administrativen Prozesse, die für die neuen Kollegen und Kolleginnen nur mit Hilfe zu bewältigen sein werden, zugleich aber im Arbeitsumfang überschaubar sind:
- Anmeldung Wohnsitz
- Antrag auf Steuer-ID
- Kontoeröffnung bei einer Bank
- Handyvertrag und Internetanschluss
- Verlängerung Aufenthaltstitel nach 1 Jahr
Neben der Unterstützung bei der Bewältigung des noch fremden Alltags ist auch die soziale Integration extrem wichtig, sodass Fachkräfte gerne und lange bleiben, weil sie nicht einsam sind, sondern Teil einer Gemeinschaft.
Folgende Maßnahmen empfehlen sich:
- Organisation von Austausch im Rahmen des Arbeitsalltags durch gemeinsame Mittagessen, Sportangebote oder Firmenfeste zum vereinfachten Anschluss Finden
- Einrichtung eines Buddy-Systems, bei dem eine Person aus dem bestehenden Team ansprechbar für Rückfragen im Arbeitsalltag ist
- Regelmäßige Check-ins, bei denen es nicht nur um die Performance geht, sondern auch genug Raum bleibt, um über den aktuellen Wohlfühlfaktor im Privaten zu sprechen
- Hinweise zu regionalen sozialen Aktivitäten je nach Hobby Präferenzen der Person mitteilen, also beispielsweise Zugang zu einem Sportverein, Kontakte für Tanz und Musik oder Theater und Kultur
Für uns selbstverständlich, für die neuen Mitarbeitenden entscheidend. Das sollten Arbeitgeber zur erfolgreichen Integration unbedingt beachten
Zuletzt ein ganz wichtiger Aspekt. Die neuen Kollegen und Kolleginnen werden jeden Hinweis zu deutschen Eigenarten, die für uns ganz selbstverständlich sind, sehr schätzen.
Das sind zum Beispiel Antworten auf folgende Fragen:
- Wie funktioniert der öffentliche Nahverkehr?
- Wo kauft man am besten was ein?
- Wo und wieso brauche ich in Deutschland manchmal Bargeld?
Auch Kleinigkeiten zum Betriebsablauf werden geschätzt:
- Wann fängt die Arbeit an, wann hört man auf?
- Wann und wo, vielleicht auch mit wem, macht man Mittagspause?
- Gibt es sonst Besonderheiten, die für uns selbstverständlich sind, aber eventuell für jemanden, der es nicht gewohnt ist, einer Erläuterung bedürfen?
Wie wichtig die soziale Integration außerhalb des Arbeitsplatzes ist, mag manche Unternehmen überraschen
Wie relevant die soziale Integration der neuen Mitarbeitenden ist, zeigt eine Studie, die internationale Fachkräfte zu ihren größten Problemen befragt hat. Am häufigsten wurde mit 31% die Problematik Freunde zu finden genannt, danach folgen die fehlende Verbundenheit zur lokalen Kultur (27%) und der Mangel an gesellschaftlichen Kontakten und Freizeitaktivitäten (20%). Wenn Unternehmen das von Beginn an berücksichtigen, können sie nicht nur ihre Arbeitgebermarke schärfen, sondern auch darauf hoffen, dass Mitarbeitende lange bleiben.
Auslandsrecruiting von Fachkräften lohnt sich doppelt
Einerseits lösen Unternehmen mit der Suche von Talenten auf dem internationalen Arbeitsmarkt ein konkretes Problem, den Fachkräftemangel, aber sie bekommen noch mehr. Studien haben gezeigt, dass diverse Teams leistungsfähiger, kreativer sind und sich durch die Zusammenarbeit unter anderem die Kommunikationsfähigkeit verbessert.
Mittelständische Unternehmen können also mit diesem Schritt nur gewinnen.