Glaubt man den Aussagen vieler Unternehmensvertreter:Innen, ist eine der dringendsten Herausforderungen der Fachkräftemangel, dem sie sich aktuell gegenübersehen. Demografischer Wandel, technologischer Fortschritt und sich verändernde Arbeitskulturen stellen traditionelle Personalgewinnungsstrategien immer mehr auf die Probe. Die Suche nach qualifizierten Kandidat:Innen wird zunehmend schwieriger. Viele Unternehmen bleiben hinter ihren Einstellungszielen zurück. Ein kritisches Hinterfragen von Gastautor Wolfgang Pfeifer.
Gibt es den Fachkräftemangel wirklich (bereits)?
Meine Beobachtungen, begleitende Gespräche mit HR-Verantwortlichen, Geschäftsführenden und Recruiting-Berater:Innen, ließen mich sieben Thesen und Vorschläge an Unternehmen formulieren, wie sie ihre Rekrutierungspraktiken neu ausrichten könnten. Meine Erfahrungen stehen nicht mit dem immer wieder beschworenen Fachkräftemangel, mit Kampfvokabeln wie „war for talents“ oder der Behauptung, wir befänden uns in einem Bewerbermarkt im Einklang.
Auf die überwiegende Zahl meiner Bewerbungen erhielt ich zwar Eingangsbestätigungen und die Bitte um Geduld für die Bearbeitung, hörte jedoch anschließend in den meisten Fällen nie wieder von den Unternehmen. In einigen wenigen Fällen gab es nach vielen Wochen eine Absage, ohne dass ein persönliches Gespräch stattgefunden hatte. Schlimmer noch, manche Unternehmen zeigten keine Reaktion, nicht einmal die erwähnte Eingangsbestätigung.
Zwischen Mythen und Missmanagement: Der Zustand der Personalabteilungen
Vielleicht ist der beklagte Fachkräftemangel nicht so schmerzlich wie öffentlich dargestellt? Möglicherweise reden sich HR-Verantwortliche nur bereits für die Zukunft warm, während sie gegenwärtig noch über ausreichend Bewerber:Innen verfügen. Oder sind Personalabteilungen vielleicht unterbesetzt und benötigen dringend Unterstützung bei der effektiven Unterscheidung von wichtig und unwichtig? Ich teile die Ansicht von Chris Pyak, Managing Director at Immigrant Spirit, der vor einiger Zeit auf diesem HR-Portal eine generelle Unprofessionalität innerhalb der Personalabteilungen beklagte.
Unternehmen sollten diese Schlüsselpositionen vom Unprofessionellen befreien und eine effektive und reaktionsfreudige Rekrutierungspraxis einführen, die Kandidaten respektvoll behandelt.
Perspektiven auf den Fachkräftemangel und was Abhilfe schaffen könnte
These 1: Fachkräftemangel und der demografische Wandel
Die Gesellschaft altert und die Geburtenrate nimmt ab, titelte BR24 im Januar 2024. Beides führt zu einem kontinuierlichen Rückgang qualifizierter Arbeitskräfte. Die resultierende Verknappung der Fachkräfte beginnt jedoch gerade erst. Sie wird Unternehmen aber zwingen, ihre Talentgewinnungsmaßnahmen grundlegend zu überdenken. Diese Entwicklungen waren vorhersehbar, dennoch haben die Unternehmensverantwortlichen das Problem bisher ausgesessen.
Was gegen das demografisch induzierte Fachkräfteproblem helfen könnte
Sofern es den Fachkräftemangel bereits gibt, laufen Unternehmen, die diese Veränderungen nicht annehmen, Gefahr, im Wettbewerb um die besten Talente abgehängt zu werden. Wenn es an passenden Mitarbeiter:Innen mangelt, müssen Recruiting-Prozesse optimiert und die Talentgewinnung langfristig verbessert werden.
These 2: Veraltete Recruitingpraktiken
Viele Personalabteilungen arbeiten mit überholten Methoden, die den aktuellen Anforderungen der Bewerbenden nicht gerecht werden. Sie halten an den 90ern fest, als Bewerbungen wäschekorbweise eintrafen. Sie treiben große Anstrengungen und setzen hohe Budgets ein, um durch Tools und externe Kapazitäten diesen Zustand wieder herzustellen. Der Rekrutierungsprozess ist oft langwierig und bürokratisch, wodurch geeignete Kandidat:Innen wieder abspringen. Viele Unternehmen geben Bewerbenden keine klaren Informationen über den Prozess, was Talente weiter frustriert.
Dynamische Anpassung des HR-Bereichs
HR-Abteilungen müssten sich dynamischer und flexibler aufstellen, um auf den veränderten Arbeitsmarkt zu reagieren. Starre Prozesse müssen einem kandidatenzentrierten Ansatz weichen, Grenzen zu Fachabteilungen öffnen, um deren Fachkräftebedarf und tatsächlichen Probleme besser zu verstehen. Personaler:Innen sind keine Fachleute für die Bedarfe der Teams, die selbst ableiten müssen, an welcher Expertise es mangelt. Denn es sind die Kolleg:Innen von morgen und Skills, die heute fehlen, die es zu ergänzen gilt.
HR “besorgt” schlussendlich, was von den Fachleuten als Mangel formuliert wird. Ein/e fehlende/r Kolleg:In wirkt wie ein defektes Werkzeug und lässt den Gesamtprozess stocken, bis es repariert ist. Das zu beurteilen, obliegt nur dem Team.
These 3: Externe Lösungen statt eigener Arbeitgebermarke
Bei der Besetzung ihrer offenen Stellen verlassen sich Unternehmen oft zu sehr auf externe Tools und Dienstleister, anstatt eine Arbeitgebermarke aufzubauen und die Aufmerksamkeit auf die eigene Karriereseite zu lenken.
Die Konzentration nach außen führt zum Verlust der Datenhoheit und der Kenntnis möglicher Talente, die bei erneuten Vakanzen immer wieder kontaktiert werden könnten.
Machen Sie den Test bei Google for Jobs
Sehen Sie sich einmal bei „Google for Jobs“ um. Firmen, deren Stellenausschreibungen auf der hauseigenen Karrierewebseite am besten ranken, sind die, die mögliche Bewerber:Innen auch auf Ihrer Webpräsenz wissen.
Oft finden sich Stellenanzeigen auf mehreren Portalen wieder, was scheinbar fehlende Bewerber:Innen-Zahlen generieren soll. Jedoch wäre hier Effektivität gefragt. Ein Gespräch mit den wenigen, jedoch potenziell neuen Kolleg:Innen zu führen, könnte Aha-Effekte produzieren und Menschen mit hoher Passung identifizieren.
These 4: Die Personal Brand ist so wichtig wie die Commercial Brand
Niemand würde den Fokus auf den Aufbau der kommerziellen Marke hinterfragen, während die Arbeitgebermarke oft eher im Schatten steht. Marketingerfahrungen könnten hier entscheidend zur Aufmerksamkeitssteigerung und qualifizierten Kandidat:Innen genutzt werden. Der Frage nach weiterer Aufbewahrung erhaltener Bewerbungsunterlagen für spätere Gelegenheiten bleibt ohne Folgen. Dabei könnten solche qualifizierten Leads regelmäßig mit interessanten Job Newslettern “warmgehalten” werden.
Aktive und kreative Talentgewinnung
Unternehmen könnten aktiv auf potenzielle Kandidat:Innen zugehen. Bindung von Interessent:Innen wie im Customer Marketing sowie netzwerkbildende Maßnahmen führen zu langfristigeren Beziehungen mit potenziellen Bewerber:Innen. Lead Nurturing auf mögliche Fachkräfte angewendet, würde eine „Sales Qualified Fachkräfte-Lead„-Datenbank schaffen, wie auch der Unternehmer und Podcaster Stefan Dietz schreibt.
Hier lassen sich jederzeit News über neue Stellen oder zu lösende Probleme ausspielen, um von diesem Fundus zu partizipieren, anstatt jedes Mal wieder „kalt zu akquirieren“. Das lässt sich weiterspinnen in Richtung von Community-Events, in den sich aktuelle und potenzielle Mitarbeitende vernetzen, eine Plattform für Austausch von Wissen und Ideen schaffen. Workshops und Meetups könnten ein Engagement generieren und Kandidat:Innen dadurch einen wertvollen Einblick in die Unternehmenskultur bieten und eine lebendige Community of Practice als beidseitige Kontaktbörse ermöglichen.
These 5: Mangelnde Kreativität in Stellenanzeigen
Häufig sind Stellenannoncen standardisiert, wenig inspirierend und gleichen „Bullshit-Textwüsten“, wie Katja Feuerstein bei der Bundesagentur für Arbeit schreibt. Sie geben kaum Einblick in die tatsächlichen Arbeitsbedingungen oder die Unternehmenskultur, verlieren sich in Allgemeinplätzen und geben Kandidat:Innen wenig Anreiz zur Bewerbung.
Problembeschreibungen statt konkreter Stellentitel
Kreative und authentische zu lösender Probleme könnten passende Talente effektiver ansprechen, für die Aufgabe begeistern und ein realistisches Bild der späteren Tätigkeit vermitteln.
Festgelegte Jobtitel sind eine Folge von Tools und Plattformen, weil sie deren Logik abbilden und die spätere Suche erleichtern. Den Rekrutierungsprozess erschweren sie jedoch, da sie viel zu starr sind und wenig mit den praktischen Erfahrungen von Bewerbenden zu tun haben. Menschen sind keine passgenauen Ersatzteile! Unternehmen sollten offener für Talente sein, die ihren Blumenstrauß an Fähigkeiten mitbringen. Flexible Jobtitel könnten somit mehr Bewerber:Innen anziehen, ebenso die individuelle Weiterentwicklung der Position selbst ermöglichen.
These 6: Unrealistische Stellenbeschreibungen
Übertriebene Anforderungslisten, die niemand gänzlich erfüllen kann, lassen außer Acht, dass potenziell qualifizierte Kandidat:Innen aufgrund mangelnder Passung aussortiert werden. Ihre zahlreichen Eigenschaften, die ebenfalls wertvoll fürs Unternehmen wären, bleiben unberücksichtigt. Menschen sind intrinsisch motiviert und in der Lage, sich fehlendes Wissen/Können zu erarbeiten. Jobprofile sollten daher nicht den Anschein des einen richtigen Skillset vermitteln.
Problembasiertes Recruiting
Anstatt sich ausschließlich auf die angeblich unverrückbaren und oft aus alten Stellenanzeigen kopierten Bulletpointlisten zu konzentrieren, sollten Unternehmen Kandidat:Innen anhand ihrer Fähigkeiten und Interessen auswählen. Der Fokus sollte auf spezifischen Problemstellungen liegen. So findet ein Abgleich mit den tatsächlichen Stärken der/s Kandidat:In statt. Vollwertigen Talenten wird zugetraut, fehlende, doch wichtige Fähigkeiten im Nachgang zu erwerben.
These 7: Attraktivität von Problemstellungen
Viele Talente sind nicht an Jobtiteln interessiert, sondern wollen tatsächliche Probleme lösen. Stehen diese nicht im Fokus, sondern wird das „Beiwerk“ überbetont, kann es den Verlust aussichtsreicher Kandidat:Innen bedeuten.
Benefits als Ablenkungsmanöver
Oft werben Vakanzen mit attraktiven Benefits. Doch wirken sie als Hygienefaktor und infantilisieren die Bewerber:Innen. Als Lockmittel für neue oder Bleibegrund für vorhandene Mitarbeiter:Innen sind sie wie der Fisch, der den Seehund zum Sprung durch den Reifen motiviert. Doch wollen Arbeitgeber eine Seehund-Show gründen oder tolle Mitarbeiter:Innen anheuern?
Fazit
Sofern der Fachkräftemangel besteht, stellt er eine komplexe Herausforderung dar. Er zwingt Unternehmen, ihre Personalstrategien zu überdenken. Sowohl als Bewerbender als auch aus Sicht des Marketers habe ich mich gefragt, warum Personalabteilungen nicht bereit sind, sich den neuen Realitäten des Arbeitsmarktes anzupassen. Wäre die Haltung gegenüber Bewerbenden respektvoll und auf langfristigere Beziehungen ausgerichtet, könnten Unternehmen die besten Talente anziehen und an sich binden.
Würdigen Sie das Potenzial, das trotz geringerer Bewerber:Innenzahlen nicht exakt passender Profile sowie in der Beziehungspflege zu Kandidat:Innen entsteht. Das ist kaum durch noch so hohe Budgets zu übertreffen, können Ihre Arbeitgebermarke stärken und den Fachkräftemangel erfolgreich bewältigen.
Für Interessierte: Der Text bezieht sich auf ein Paper, das ich Ihnen gerne hier zur Verfügung stelle.