Früher galt: Nach der Schule folgt das Studium. Oder eine Ausbildung. Die Entscheidung war meist pragmatisch oder zufällig, weil Noten, Familie oder Umstände es so vorgaben. Berufsorientierung? Gab’s bei Verwandten und Bekannten. Oder beim berühmt-berüchtigten Besuch im BIZ. Heute stehen wir an einem anderen Punkt und gleichzeitig am Rand eines systemischen Problems. Ein Gastbeitrag Felix von Zittwitz, CEO von Ausbildung.de.
Tieferliegendes Passungsproblem
Bis 2030 scheiden 6,5 Millionen Erwerbstätige altersbedingt aus dem Arbeitsmarkt aus. Und doch bleiben jedes Jahr rund 70.000 Ausbildungsplätze unbesetzt. Die wirtschaftlichen Folgen sind enorm. Pro unbesetzter Stelle entstehen 20.000 bis 40.000 Euro Schaden. Das sind rund 1,5 bis 2,9 Milliarden Euro Wertschöpfungsverlust jährlich. Die zusätzlichen Effekte durch Geschäftsaufgaben sind dabei noch nicht eingerechnet.
Wie kommt es trotz dieser Prognose und einem breiten Ausbildungsangebot dazu, dass Unternehmen und junge Menschen nicht zueinander finden?
Die Antwort liegt nicht allein im demografischen Wandel, sondern in einem tieferliegenden Passungsproblem, verursacht durch Orientierungslosigkeit. Mit dieser Herausforderung müssen sich Unternehmen heute auseinandersetzen: Wer gesehen werden, relevant bleiben und passende Talente gewinnen will, muss sich früher und anders aufstellen.
Fehlende Orientierung und Klischees
Die Berufswahl hat sich verändert. Was früher klar war („Ich werde KFZ-Mechatroniker:in“, „Ich will Bankkauffrau / Bankkaufmann werden“), ist heute oft: „Ich suche etwas mit Tieren“, „etwas mit Medien“ oder „etwas Soziales“. Berufsorientierung beginnt heute digital – doch die Richtung fehlt.
Auf unserem Portal beobachten wir, dass die Berufssuche generischer wird. Die Zahl unspezifischer Suchanfragen steigt. Junge Menschen haben ein diffuses Gefühl, was sie wollen, aber oft keine Klarheit, welche Berufe es in ihrem Interessenfeld überhaupt gibt. Genau hier liegt eine der größten Herausforderungen: Es braucht eine systematische Übersetzung von Interessen in berufliche Perspektiven. Dieser Transfer von „Ich interessiere mich für Nachhaltigkeit“ zu „Ich werde Umweltschutztechniker:in“ gelingt heute zu selten.
Die Wahl einer Ausbildung ist die erste große Lebensentscheidung. Wenn wir hören, dass sich viele junge Menschen „lost“ fühlen, besteht Handlungsbedarf. Die Arbeitswelt ist komplexer, dynamischer und unübersichtlicher geworden. Neue Berufe entstehen, andere verschwinden. Anforderungen verändern sich schneller, als Berufsbezeichnungen Schritt halten können. Unternehmen sind deshalb gefragt, Orientierung zu geben. Dort, wo junge Menschen sind, und in einer Sprache, die sie verstehen.
Gleichzeitig beobachten wir: Die Berufswahl wird intensiver. Das gängige Klischee von sinkender Aufmerksamkeitsspanne und oberflächlichem Verhalten greift zu kurz. Unsere Plattformdaten zeigen das Gegenteil: Jugendliche verbringen mehr Zeit mit informativen Inhalten. Stellenanzeigen mit viel Kontext und realitätsnahen Informationen funktionieren besser. Nicht Kürze, sondern Tiefe überzeugt.
Neue Ansprüche verstehen
Junge Menschen suchen heute nicht vorrangig Selbstverwirklichung oder Prestige, sondern Sicherheit, Alltagstauglichkeit und gesellschaftlichen Beitrag. Sinn bleibt wichtig, aber er wird anders definiert. „Ich will gebraucht werden“ ersetzt „Ich will glänzen“.
Dazu kommt die Sorge vor beruflicher Obsoleszenz: Wird mein Beruf durch KI ersetzt? Ist das, was ich lerne, morgen noch relevant? Die kommende Generation ist nicht mehr nur „Digital Native“, sondern eine “Generation AI”.
Unsere Daten zeigen: Berufe, die greifbar, krisenfest und anfassbar sind, gewinnen. Das am stärksten wachsende Berufscluster ist das Handwerk (+50%). Die Suche nach „systemrelevanten Berufen“ ist um 43% gestiegen. Dagegen stagnieren oder sinken digitale Studienangebote.
Was Unternehmen jetzt tun müssen: Orientierung wird zur Führungsaufgabe
Die Passungsprobleme am Ausbildungsmarkt sind keine Momentaufnahme, sondern Ausdruck eines strukturellen Orientierungsdefizits. Wer junge Menschen erreichen will, muss nicht lauter werden – sondern früher aktiv, relevanter und verständlicher.
Drei Handlungsfelder sind zentral:
-
Berufsbilder klarmachen – nicht nur bewerben
Viele Jugendliche haben kein klares Bild, was sich hinter Berufsbezeichnungen verbirgt. Sie kennen Interessen, aber keine Jobtitel. Unternehmen müssen diesen Übersetzungsprozess ernst nehmen. Was macht man wirklich in diesem Job? Wie sieht ein typischer Tag aus? Welche Perspektiven bietet der Beruf?
Stellenanzeigen und Karriereseiten sollten Entscheidungsgrundlagen sein, keine Imagekampagnen. Unsere Daten zeigen: Je mehr Kontext und Tiefe, desto höher die Conversion.
-
Orientierung dorthin bringen, wo sie gebraucht wird
Berufsorientierung beginnt digital – auf Plattformen, über Videos, in Social Media, lange vor der Bewerbung. Wer erst auf dem Jobboard sichtbar wird, kommt zu spät. Unternehmen müssen früher ansetzen: mit Inhalten, die erklären statt werben. Mit verständlichen Berufsprofilen, interaktiven Tools, Interessen-Tests oder GPT-basierten Orientierungshilfen. Sichtbarkeit entsteht nicht durch Präsenz, sondern durch Relevanz.
-
Mit Partnern arbeiten, statt auf Einzelmaßnahmen setzen
Berufsorientierung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Kein Unternehmen muss alles allein tun, aber jedes kann Teil der Lösung sein. Kooperationen mit Schulen, Plattformen, Elternmagazinen, Berufsmessen und regionalen Netzwerken schaffen systemische Präsenz. Entscheidend ist, dort sichtbar zu sein, wo Jugendliche erste Fragen stellen. Und zwar nicht erst, wenn sie den Suchbegriff kennen.
Matching statt Mangel – das neue Paradigma im Ausbildungsmarkt
Orientierung ist kein „Nice-to-have“. Sie ist Voraussetzung für Passung und damit für jedes erfolgreiche Recruiting. Wer Jugendliche gewinnen will, muss verstanden werden. Unternehmen, die heute Orientierung geben, gewinnen morgen Talente.
Mehr noch: Sie übernehmen Verantwortung für den Ausbildungsmarkt und gestalten aktiv mit, was sonst auseinanderdriftet. Berufsorientierung ist nicht nur ein HR-Thema. Sie ist ein Hebel für Fachkräftesicherung, gesellschaftliche Teilhabe und wirtschaftliche Zukunftsfähigkeit.
Fazit: Orientierung ist Führungsverantwortung
Wer morgen Talente gewinnen will, muss heute Richtung geben. Nicht mit Hochglanzversprechen, sondern mit Tiefe, Klarheit und Haltung. Unternehmen müssen nicht lauter, sondern verständlicher werden. Und, sie sollten Berufe dabei nicht nur bewerben, sondern sie begreifbar machen.
Unternehmen müssen frühzeitig Orientierung bieten, dort, wo junge Menschen ihre ersten Fragen stellen. Wer hier klug agiert, übernimmt Verantwortung für Ausbildung, den Arbeitsmarkt und die Zukunft.








Newsletter