Im Austausch mit Frauen in Führungspositionen erlebt Gastautorin Lia Grünhage, Gründerin und Geschäftsführerin der Führungsakademie für Frauen Ten More In, immer wieder: Die Ambitionen sind hoch, das Potential und die Qualifikationen sind da. Und dennoch gibt es den Punkt, an dem sich diese Frauen gegen den nächsten Schritt entscheiden. Nicht, weil die Kompetenz fehlt, sondern weil sie nicht mehr wollen. Leadership Fatigue heißt der Grund. Zeit, sich intensiver damit zu beschäftigen.
Leadership Fatique
Führung kostet Kraft. Besonders für Frauen, die nicht nur Teams leiten, sondern auch auffangen. Operativ, emotional, mental. Das Resultat: stille Erschöpfung. Ein Phänomen, das unter dem Begriff Leadership Fatigue immer sichtbarer wird. Und am Ende fühlen sich viele der Frauen schuldig, nicht weitergemacht zu haben. Sie hadern damit, vielleicht doch zu früh ausgestiegen zu sein oder nicht alles probiert zu haben, um ihren eigenen und den Ansprüchen anderer gerecht zu werden.
Dabei beobachten wir hier kein individuelles Problem, sondern eine logische Reaktion auf ein System, das nicht mitgewachsen ist.
Obwohl Female Leadership längst als Erfolgsfaktor gilt – auch wirtschaftlich – ist der kulturelle Kontext in vielen Unternehmen noch immer der alte.
Die unsichtbare Doppelbelastung
Dass Frauen systematisch stärker unter Leadership-Fatigue leiden, ist kein Zufall. Es ist vielmehr das Ergebnis gesellschaftlicher Zuschreibungen, die bis heute auch in Unternehmen weiter wirken. Frauen gelten als empathisch und werden häufiger als Männer mit einem kooperativen, beziehungsorientierten Führungsstil in Verbindung gebracht. Diese Eigenschaften werden zwar gern als wichtige Voraussetzungen moderner Führungskompetenz hervorgehoben, trotzdem führen sie nur selten zur Beförderung. Zugespitzt formuliert: Die empathischste Person wird in der Regel nicht CEO.
Dennoch entsprechen viele Frauen diesem Leitbild. Sie übernehmen die strategische und operative Verantwortung für ihre Teams und leisten darüber hinaus die emotionale Arbeit, die anfällt. Letztere wird selbstverständlich von ihnen erwartet. Wenn sie es nicht tun, gelten sie schnell als emotional kalt, karriereorientiert und dominant. Sie sind also nicht die Person, die gerne befördert wird.
Im Ergebnis sind die Erwartungen an Frauen deutlich vielschichtiger. Sie halten Teams zusammen, fangen Spannungen ab und gleichen Bedürfnisse aus. Sie versuchen dem gerecht zu werden, alles richtig zu machen und landen genau damit in einer Sackgasse.
Überforderung wird oft nicht hinterfragt
Trotzdem sprechen nur wenige Frauen diese Überforderung offen an oder hinterfragen sie. Die Sorge, als zu sensibel oder wenig belastbar zu gelten, lässt sie die ersten Erschöpfungssymptome lieber ignorieren. Mit der Zeit lässt ihre Energie nach. Das liegt auch daran, dass ihnen sowohl innerhalb des Unternehmens als auch im persönlichen Umfeld der nötige Rückhalt fehlt. Die emotionale Arbeit, die sie leisten, wird häufig kaum wahrgenommen, weil wir sie als selbstverständlich erleben. Für viele männliche Kollegen bleibt sie unsichtbar, obwohl sie zusätzlich zur sogenannten “Promotable Work” erledigt werden muss.
Ohne Wertschätzung und Anerkennung ist das nicht dauerhaft tragbar. Wer das Gefühl hat, alles zusammenzuhalten und dabei wenig Unterstützung zu erfahren, verliert irgendwann die Motivation. Aus dem ursprünglichen Antrieb Ich will führen wird dann ein Wie soll ich das auf Dauer schaffen?
Und genau hier liegt der Kern des Problems. Die Belastung wächst mit der eigenen Kompetenz und dem eigenen Engagement stetig weiter. Wer sich in diesem Zustand wiedererkennt, ist deshalb nicht zu schwach, sondern schlichtweg realistisch.
Der stille Ausstieg
Nach Jahren der inneren Zerrissenheit und ständiger Selbstoptimierung entscheiden sich Frauen, diesen Weg nicht mehr weiter gehen zu wollen. Die Kosten sind zu hoch. Studien zeigen, dass Frauen im Durchschnitt deutlich kürzer in Führungspositionen bleiben als ihre männlichen Kollegen. Und eben nicht wegen mangelnder Kompetenz, sondern wegen strukturellen, kulturellen und psychologischen Faktoren.
Der Rückzug ist dabei oft leise. Es gibt keine laute Kündigung, keine Konflikte mit dem Team oder anderen Führungskräften. Ehrlicherweise denke ich, dass der Rückzug häufig mit der Geburt des ersten Kindes beginnt. Danach arbeiten siebzig Prozent der Frauen in Teilzeit, während es bei Männern nur sieben Prozent sind. Und in Teilzeit geht es noch viel zu selten um Führungspositionen.
Ich kann mir vorstellen, dass die Erfahrungen, die viele Frauen bis dahin gemacht haben, dazu führen, dass es sich in ihren Augen einfach nicht mehr lohnt. Und gleichzeitig ist es gesellschaftlich akzeptiert und sogar anerkannt, mit einem Kind kürzer zu treten.
Damit Frauen bleiben, muss promotable Arbeit anders bewertet werden
Mit ihrem häufig beziehungsorientierten und kooperativen Führungsstil schaffen viele Frauen etwas herzustellen, das wir psychologische Sicherheit nennen. Laut Harvard Studien ist dies der entscheidende Faktor für Hochleistungsteams. Deshalb sollten ihre Fähigkeiten endlich als das anerkannt werden, was sie sind: entscheidend für die Zukunftsfähigkeit und den Erfolg eines Unternehmens und damit hoch relevant für Beförderung und Führung.
Strukturelle Veränderungen statt leerer Appelle
Es geht nicht darum, Frauen zu sagen, sie sollen dranbleiben. Wenn Veränderung stattfinden soll, müssen wir an die Substanz gehen und unsere Erwartung an Führung erweitern. Dafür braucht es:
- Soziale Kompetenz als unverhandelbarer Maßstab für Führung
Empathie, Beziehungsarbeit und emotionale Intelligenz gelten oft noch als „Soft Skills“, dabei machen sie Unternehmen nachweislich erfolgreicher. Sie sorgen für stabile Teams, verhindern Reibungsverluste, stärken die Arbeitgebermarke. Und so gilt es diese Kompetenzen endlich als „promotable“ einzustufen. Sie sind karriereentscheidend und beförderungswürdig.
- Unsichtbare Arbeit sichtbar machen und belohnen
Viele Frauen leisten zusätzliche emotionale und kulturelle Führungsarbeit, die weder in Zielvereinbarungen noch in Beförderungsgesprächen auftaucht. Diese Arbeit muss sichtbar gemacht, honoriert und in Leistungssysteme integriert werden. Und das nicht nur beiläufig gewürdigt, sondern systematisch anerkannt.
- Doppelstandards beenden
Frauen sollen empathisch sein, aber bitte nicht zu emotional, klar führen, aber nicht zu fordernd. Wer so denkt, schafft ein Umfeld voller Widersprüche. Wir müssen aufhören, Frauen für dasselbe Verhalten anders zu bewerten als Männer.
Das Problem ist nicht, wie Frauen führen, sondern dass sie, egal wie sie führen, falsch bewertet werden.
Frauen in Führungspositionen zu bringen, ist kein Aktivismus, sondern eine betriebswirtschaftliche Notwendigkeit. Studien zeigen, dass divers aufgestellte Führungsteams bessere Entscheidungen treffen, innovativer und resilienter sind und wirtschaftlich erfolgreicher arbeiten. Und doch erleben viele Frauen ihren Führungsalltag nicht als Chance, ihre Talente einzusetzen, sondern als Alltag mit doppeltem Anspruch. Mit einem fachlich Überzeugen und emotional Absichern, ohne dass Letzteres wirklich entlohnt wird.
Wer Frauen halten will, muss mehr bieten als Rhetorik.
Sonst gehen sie. Und das ist vor allem für die Unternehmen ein großer Verlust.


Lia Grünhage ist Unternehmerin und seit über zehn Jahren in der deutschen Start-up-Szene aktiv. Nach Stationen an der WHU, in der Beratung und bei Amorelie, wo sie Teil der Geschäftsführung war, gründete sie 2019 Avery Fertility zur Förderung der Aufklärung rund um Reproduktionsmedizin. 2022 folgte die Gründung von Ten More In mit Lea-Sophie Cramer – mit dem Ziel, mehr Frauen in Führungspositionen zu bringen.




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