Wenn Chefs innerlich kündigen

Wenn Chefs innerlich kündigen: Das Tabu hinter dem Leadership-Titel

Sie tragen Verantwortung, treffen täglich Entscheidungen, sollen motivieren, steuern und mit gutem Beispiel vorangehen, und doch sind sie zunehmend ausgebrannt, innerlich leer oder emotional distanziert. Die Rede ist nicht von überforderten Teams, sondern von Führungskräften selbst. Still und häufig unbemerkt zieht sich das sogenannte „Quiet Quitting“ inzwischen auch durch das obere Management. Das Problem: Darüber spricht kaum jemand. Denn wer an der Spitze steht, darf nicht zweifeln. Oder? Ein paar Gedanken dazu von Violeta Nicolic.

Wenn Führung funktioniert, aber das Engagement verstummt

Das Phänomen der inneren Kündigung im oberen Management ist in der Praxis weiter verbreitet als viele Organisationen vermuten würden. Nach außen hin bleibt die Leistungsfähigkeit bestehen, doch intern schwindet das Engagement. Dieses Auseinanderdriften von Anspruch und Wirklichkeit sollte nicht als individuelles Versagen gedeutet werden, sondern als Ausdruck eines Systems, das Reflexion und Selbstfürsorge zu wenig Raum gibt. Äußerlich funktionieren viele nach wie vor makellos. Die Zahlen stimmen, die Meetings laufen, die Ziele werden umgesetzt. Doch innerlich ist längst etwas anderes passiert: Entkopplung. Die Sinnfrage wird größer, die Energie kleiner. Was bleibt, ist häufig eine professionelle Fassade. Doch darunter liegen Erschöpfung, Rückzug und das Gefühl, nicht mehr wirklich präsent zu sein.

Systemische Ursachen lassen sich dabei klar benennen. Die zunehmende Verdichtung von Aufgaben, permanente Erreichbarkeit, fehlender Austausch auf Augenhöhe, unrealistische Erwartungen seitens der Unternehmensleitung , all das sorgt dafür, dass sich auch erfahrene Führungskräfte irgendwann fragen: Wofür das alles? Und wie lange noch?

Fragmentierung des Selbst

Ein Phänomen, das dabei oft übersehen wird, ist die sogenannte Fragmentierung des Selbst: Der innere Zustand passt nicht mehr zur äußeren Rolle. In meinen Coachings zeigt sich dann oft eine innere Zerrissenheit zwischen Pflichtgefühl und Erschöpfung, zwischen Performance-Erwartung und echtem Menschsein. Wer dauerhaft in diesem Spannungsfeld agiert, verliert früher oder später den Zugang zu seiner eigenen inneren Ressource.

Darüber hinaus kommt oft ein strukturelles Missverständnis hinzu: Die Annahme, dass Menschen in Führungspositionen automatisch resilienter seien. Das Gegenteil ist häufig der Fall. Viele investieren jahrelang in das Unternehmen, opfern private Ressourcen und verzichten auf Ausgleich. Die Quittung kommt schleichend: innere Kündigung, zunehmende emotionale Distanz und das Gefühl, dass die eigene Wirksamkeit verpufft. Ein Warnsignal, das oft zu spät erkannt wird.

Nicht zu unterschätzen ist auch die soziale Isolation, in der sich viele Führungskräfte wiederfinden. Je höher die Hierarchieebene, desto seltener findet echter Austausch statt. Offene Worte werden zur Seltenheit, Vertrauen wird zur Ressource, die erst aufgebaut werden muss. Ohne diesen Rückhalt beginnt das innere Engagement zu bröckeln und mit ihm die Führungswirkung.

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Überforderung als Normalzustand: Wenn Haltung fehlt

Zahlreiche Führungskräfte bewegen sich heute in einem Umfeld, das permanenter Veränderung unterliegt, aber wenig Stabilität bietet. Die Folge ist ein schleichender Verlust an Selbstanbindung. Nicht die Komplexität der Aufgaben stellt die größte Herausforderung dar, sondern der Mangel an innerem Halt. Wer in seiner Rolle dauerhaft nur funktioniert, verliert langfristig die Verbindung zu dem, was Führung eigentlich ausmacht: Orientierung, Beziehung und Verantwortung aus einer klaren Haltung heraus. Es mangelt nicht an Kompetenz oder Leistungsbereitschaft, sondern an Halt. Führung ist heute ein Hochseilakt zwischen Agilität, Strategie, Kommunikation, Budgetverantwortung und Menschlichkeit. Doch wer gibt eigentlich Rückendeckung für die, die ständig leisten?

In vielen Organisationen existieren weder Räume für echte Reflexion noch eine Kultur, die es erlaubt, Unsicherheit offen anzusprechen. Stattdessen dominiert ein Mythos der Unerschütterlichkeit. Die Folge: Führung wird zur Rolle, nicht mehr zur Haltung. Wer funktionieren muss, verliert auf Dauer die Verbindung zu sich selbst. Selbstführung aber ist keine Option, sie ist Voraussetzung, um andere glaubwürdig zu begleiten.

Zeit und Raum für Reflexion

Ein reflektierter Umgang mit Wissen, Veränderung und Integration spielt eine zentrale Rolle, wenn es darum geht, neue Führungskultur nachhaltig zu verankern. Zwischen dem Erfassen neuer Informationen, dem Durchdenken und Erleben ihrer Relevanz und dem bewussten Überführen in den eigenen Führungsalltag liegt ein Entwicklungspfad, der sich nicht abkürzen lässt.

Wer gelernt hat, innere Haltung nicht nur zu benennen, sondern zu verkörpern, führt nicht nur wirksam, sondern glaubwürdig. Es beschreibt die drei Phasen, die notwendig sind, damit aus Wissen nachhaltige Veränderung wird. Viele Führungskräfte sammeln in ihrer Karriere unzählige Trainings, Methoden und Tools, doch erst wenn dieses Wissen im eigenen Erleben verankert wird, entsteht echte Führungskraft.

Hinzu kommt: In der heutigen Arbeitswelt, die auf Wandel und Transformation setzt, ist es nahezu unmöglich, immer die richtige Antwort zu haben. Doch anstatt diese Komplexität transparent zu machen, neigen viele Führungskräfte dazu, sich noch mehr zu perfektionieren. Sie machen „weiter wie immer“, passen sich dem System an, und verlieren dabei sich selbst. Coaching und Supervision können hier ansetzen, bevor der Rückzug unumkehrbar wird.

Zusätzlich verstärkt die digitale Arbeitsrealität die Tendenz zur Entgrenzung: Homeoffice, ständige Erreichbarkeit, virtuelle Führung auf Distanz , all das fordert neue Kompetenzen, für die viele nicht vorbereitet sind. Die permanente Reaktionsbereitschaft ersetzt strategisches Denken, operative Hektik verdrängt strategische Klarheit. Überforderung wird zum Dauerzustand.

Warum wir das Tabu der erschöpften Führungskraft brechen müssen

„Ich darf mir keine Schwäche erlauben.“ Dieser Satz fällt oft in meinen Erstgesprächen mit Führungskräften. Er steht sinnbildlich für ein tieferes Problem: Wir haben ein Idealbild von Führung entwickelt, das Menschlichkeit ausschließt. Wer müde ist, gilt als ungeeignet. Wer zweifelt, als instabil. Dabei zeigt gerade die aktuelle Studienlage , unter anderem aus der Organisationspsychologie und der Leadership-Forschung, dass authentische, selbstreflektierte Führung nicht nur gesünder, sondern auch messbar wirksamer ist.

Ein Beispiel: Eine Metastudie belegt, dass Führungspersönlichkeiten mit hoher Selbstwahrnehmung und emotionaler Offenheit nicht weniger durchsetzungsstark, sondern nachhaltiger erfolgreich sind. Die zentrale Erkenntnis: Verletzlichkeit ist kein Karrierehemmnis, sondern ein Vertrauensfaktor, auch im Top-Management.

Weitere Untersuchungen, etwa der Universität Mannheim, bestätigen: Unternehmen, deren Führungsetagen reflektierte Selbstführung und psychologische Sicherheit aktiv fördern, erleben niedrigere Burnout-Raten, weniger Fluktuation und höhere Innovationsfähigkeit. Der Wandel beginnt also nicht beim Team, sondern ganz oben.

Auch aktuelle Befragungen zur emotionalen Mitarbeiterbindung zeigen, dass die Qualität der direkten Führungskraft entscheidend für Engagement, Loyalität und Leistung ist.

Was häufig vergessen wird: Diese Qualität beginnt bei der inneren Verfassung der Führungskraft selbst. Wer ausgebrannt ist, kann keine Motivation erzeugen.

Coaching als Schlüssel zur Selbstführung

Wenn Menschen in Führungsverantwortung das Gefühl haben, nur noch zu funktionieren, ist der Ausweg nicht mehr Kontrolle, sondern mehr Bewusstsein. Hier setzt professionelles Coaching an. Es bietet einen geschützten Raum, in dem Gedanken sortiert, blinde Flecken erkannt und neue Perspektiven entwickelt werden können. Es geht nicht um Therapie, sondern um Reflexion auf Augenhöhe.

In der Praxis bedeutet das: Führungskräfte lernen, zwischen eigenen und fremden Erwartungen zu unterscheiden, ihre Werte wieder klar zu benennen und Entscheidungen mit mehr innerer Klarheit zu treffen. Sie entdecken neue Energiequellen, nicht durch Techniken, sondern durch die Verbindung mit der eigenen Haltung. Das verändert nicht nur sie selbst, sondern ihr gesamtes Umfeld.

Langfristig kann Coaching dazu beitragen, eine neue Kultur der Führung zu etablieren. Eine, in der Reflexion nicht als Schwäche gilt, sondern als Kompetenz. Eine, in der Führungskräfte nicht mehr allein auf Motivation von außen setzen, sondern auf Orientierung von innen. Das ist kein Idealbild, sondern eine konkrete Entwicklungsperspektive für Organisationen, die gesund wachsen wollen.

Coaching wirkt auch präventiv. Es schafft Achtsamkeit für frühe Signale von Erschöpfung, stärkt die emotionale Selbstregulation und bietet Tools zur langfristigen Selbststeuerung. Unternehmen, die Führungskräfte frühzeitig in Coachingprozesse einbinden, investieren nicht nur in Leistung, sie investieren in Substanz.

Haltung statt Heldenbild: Was Organisationen jetzt brauchen

Die stille Erschöpfung vieler Führungskräfte ist nicht nur ein individuelles, sondern ein kulturelles Problem. Unternehmen, die langfristig wirksam sein wollen, müssen das Tabu rund um Leadership neu verhandeln. Das bedeutet: Führung als Beziehung zu verstehen, nicht nur als Funktion. Wer Räume schafft, in denen auch Entscheidungstragende sich zeigen dürfen, erzeugt kein Chaos, sondern Stabilität.

Praktisch bedeutet das: Regelmäßige Supervisionen oder kollegiale Beratungsformate, Coaching-Angebote auf allen Führungsebenen, Führungskräfteprogramme mit Fokus auf Selbstreflexion und Wertearbeit. Unternehmen, die dies fördern, berichten nicht nur von zufriedeneren Führungskräften, sondern von resilienteren Teams und klarerer Kommunikation.

Zudem braucht es strukturelle Veränderungen wie transparente Karrierepfade, realistische Zielsysteme, Zeitfenster für mentale Regeneration, die fest im Arbeitsalltag verankert sind. Führung darf nicht länger auf Hochleistung und Durchhalteparolen reduziert werden. Sie muss differenzierter, menschlicher und tragfähiger gedacht werden.

Auch HR-Abteilungen können hier als Kulturstifterinnen wirken, indem sie Formate schaffen, die nicht nur Prozesse abbilden, sondern Haltungen fördern: Entwicklungsgespräche auf Augenhöhe, Feedbackkultur als Dialog, Mentoring zwischen den Ebenen.

So entsteht ein System, in dem Führung keine Belastung, sondern wieder Gestaltungsspielraum bedeutet.

Nur wer sich selbst führt, kann andere führen

Quiet Quitting im Management ist real und bleibt oft unsichtbar. Gerade deshalb braucht es einen neuen Blick auf Führung. Einen, der nicht an der Oberfläche bleibt, sondern Haltung einfordert. Als Coachin arbeite ich seit vielen Jahren mit Menschen, die tragen, entscheiden, wirken. Und ich weiß: Die stärksten Führungspersönlichkeiten sind nicht die unerschütterlichen, sondern die aufrichtigen. Die, die bereit sind, sich zu hinterfragen. Die, die mit sich selbst im Kontakt bleiben.

Führung beginnt nicht im Außen, sondern im Inneren. Dort, wo Klarheit entsteht. Wo Sinn spürbar wird. Und wo Verantwortung nicht erdrückt, sondern getragen wird. Lassen Sie uns den Mut haben, diese Perspektive zu stärken. Für gesunde Führung. Für echte Wirkung. Für eine neue Kultur der Verbundenheit.

Violeta Nikolic

Violeta Nikolic

Violeta Nikolic ist Gründerin von MindShape Coaching – Leadership Development und begleitet als zertifizierter systemischer Coach seit über 15 Jahren Fach- und Führungskräfte durch berufliche Veränderungsprozesse.

Ihr Schwerpunkt liegt auf der Schnittstelle von Leadership, mentaler Gesundheit und Kulturwandel. In ihrer Arbeit verbindet sie psychologische Tiefenschärfe mit strategischer Klarheit, basierend auf ihrer eigens entwickelten ITI-Methode (Information-Transformation-Integration).

>> LinkedIn Profil von Violeta Nikolic

>>  Website von mindshape

 

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