App-Wildwuchs schadet

Vom digitalen Naturtalent zum Technikmuffel: Wie App-Wildwuchs uns alle weniger technikaffin macht

Noch vor wenigen Jahren schien der Einstieg der „Digital Natives“ ins Berufsleben eine neue Ära einzuläuten – eine, in der Technik keine Hürde mehr darstellte. Frischgebackene Absolventinnen und Absolventen kamen ins Büro und lösten scheinbar mühelos Druckerprobleme, behoben Excel-Macken oder klickten sich durch komplexe Unternehmenssoftware, als hätten sie nie etwas anderes gemacht. Während die ältere Belegschaft noch mit den Tücken der Technik kämpfte, swipten und automatisierten ihre jüngeren Kolleginnen und Kollegen bereits routiniert den Arbeitsalltag.

Die Hoffnung: Je weiter diese Generation aufstieg, desto digitaler und reibungsloser würde die Arbeitswelt funktionieren. Die teuren Softwarelösungen würden endlich ihr volles Potenzial entfalten. Doch es kam anders. Ein Zwischenruf von Gastautor Friedbert Schuh.

Im Strudel der Anwendungen

Doch statt digitaler Souveränität erleben wir heute einen massiven Overload. Die Arbeitswelt wird von einer Flut neuer Anwendungen überrollt – jede mit eigenen Updates, Eigenheiten und Funktionen. Was gestern noch funktionierte, ist heute oft schon wieder überholt. Frustration und Verwirrung sind die Folge.

Mittlerweile verbringen viele Beschäftigte – ob digital versiert oder nicht – mehr Zeit damit, mit Software zu kämpfen, als produktiv mit ihr zu arbeiten. Selbst Plattformen, die Effizienz versprechen – etwa Workday, Salesforce Lightning oder ServiceNow – sind so weit verbreitet, dass allein das Finden des richtigen Tools zur Herausforderung wird.

Laut dem Identitäts- und Zugriffsmanagement-Unternehmen Okta nutzen Firmen im Schnitt 211 verschiedene Anwendungen. Die meisten Mitarbeitenden verwenden davon nur einen Bruchteil. Der Rest bleibt ungenutzt, kostet aber trotzdem Geld. Eine Studie der Cornell University zeigt: Bis zu neun Prozent der Arbeitszeit entfallen allein auf das Wechseln zwischen Programmen. Ein digitaler Leerlauf, der echte Arbeit verdrängt. Und obwohl Effizienz das zentrale Versprechen dieser Tools ist, bestätigen in einer weltweiten Slack-Umfrage nur zwölf Prozent der Befragten, dass ihre Software ihnen tatsächlich hilft, produktiver zu sein.

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Wenn aus Nutzer:innen Expert:innen werden müssen

Die technische Komplexität ist inzwischen so hoch, dass selbst erfahrene Anwenderinnen und Anwender häufig ratlos sind. Viele Programme sind nicht mehr intuitiv bedienbar und setzen sogenanntes Power-User-Wissen voraus. Gleichzeitig gehen Unternehmen oft davon aus, dass sich neue Tools schon irgendwie von selbst einführen lassen.

Laut einer aktuellen Studie von Nexthink, ein Anbieter von Software für das Digital Employee Experience (DEX) Management, verfügen nur 44% der Beschäftigten über die nötigen digitalen Kompetenzen, um mit dem technologischen Wandel Schritt zu halten. Wissen lässt sich unter diesen Bedingungen im Unternehmen kaum effizient weitergeben: Die wenigen, die sich gut mit bestimmten Anwendungen auskennen, werden ständig für Rückfragen konsultiert – von kleinen Anliegen bis hin zu kompletten Prozessen. Das kostet Zeit, Energie und blockiert deren eigentliche Aufgaben.

Schulungen werden meist nur einmalig angeboten oder bestehen aus generischen Standardanleitungen, durch die sich andere dann mehr schlecht als recht hindurchkämpfen müssen.

Mehr vom Gleichen hilft nicht weiter

Was also tun? Zwar verfügen viele Unternehmen über sogenannte digitale Einführungsstrategien, doch diese bestehen oft lediglich aus punktuellen Trainings durch überlastete App-Verantwortliche. Gleichzeitig nimmt die Anzahl eingesetzter Tools weiter zu. Und damit auch die Belastung.

Was es wirklich braucht, ist ein grundlegender Perspektivwechsel: Software muss von Beginn an verständlich sein. Möglich wird das durch gezielte, automatisierte Hilfen, die direkt in die Programme integriert sind. Echtzeit-Unterstützung reduziert lange Einarbeitungsphasen und macht veraltete Schulungsunterlagen überflüssig. Und das genau dann, wenn Hilfe benötigt wird. Lernen muss im Arbeitsfluss stattfinden, nicht im Konferenzraum.

Darüber hinaus können Unternehmen mithilfe von KI analysieren, wo Mitarbeitende ins Stocken geraten und frühzeitig gegensteuern, bevor daraus Produktivitätsverluste oder Fehler entstehen. Wichtig ist zudem ein kultureller Wandel: Die Nutzbarkeit einer Software ist ebenso entscheidend wie ihr Funktionsumfang. Denn die beste Anwendung ist nicht die mit den meisten Features, sondern die, mit der Menschen ihre Arbeit zuverlässig erledigen können.

Willkommen in der Post-Digital-Native-Ära

Inzwischen zeigt sich: Selbst die digital versierteste Generation kommt mit dem rasanten Tempo der Veränderungen kaum noch mit. Der Nexthink-Studie zufolge führt fast jedes zweite Unternehmen (44%) monatlich eine neue App, ein neues Tool oder eine neue Plattform ein. Die Anforderungen steigen stetig – doch nur wenige „App-Expert:innen“ können das Potenzial der Software tatsächlich ausschöpfen. Für den Großteil ist die Komplexität schlicht ein Produktivitätskiller.

Wer künftig erfolgreich sein will, braucht daher nicht nur moderne Tools, sondern vor allem das Wissen, wie man sie sinnvoll einsetzt. Die Zukunft gehört nicht denen mit den meisten Programmen, sondern denen, die sie effektiv beherrschen. Qualität vor Quantität muss das neue Credo lauten.

Die Fusion von HR und IT reduziert Komplexität

Neben digitaler Kompetenz und smarter Tool-Nutzung kann auch die Zusammenarbeit von HR und IT entscheidend zur Problemlösung beitragen. Das mag zunächst ungewöhnlich klingen, doch laut einer aktuellen Studie halten 92% der befragten IT-Führungskräfte in Deutschland eine engere Verzahnung mit HR für sinnvoll, um der sinkenden Mitarbeiterproduktivität entgegenzuwirken. Denn viele Beschäftigte fühlen sich durch die zunehmende Komplexität der digitalen Arbeitsumgebungen überfordert, 58% glauben sogar, dass HR und IT in fünf Jahren vollständig zusammenarbeiten werden.

Von dieser engen Zusammenarbeit versprechen sich Unternehmen mehr Effizienz: Gemeinsame Verantwortung für digitale Tools und Prozesse soll Reibungsverluste minimieren und Supportprozesse beschleunigen. Dies ist dringend nötig angesichts stagnierender Produktivität und sinkendem Engagement. Der daraus entstehende wirtschaftliche Schaden für Deutschland liegt jährlich zwischen 113 und 135 Milliarden Euro.

Darüber hinaus eröffnet eine integrierte HR-IT-Perspektive neue Möglichkeiten für die Employee Experience. Ein ganzheitlicher Blick auf Mitarbeitende – vom Onboarding über die Weiterbildung bis zur technischen Ausstattung – verbessert nicht nur die Betreuung, sondern auch die Zufriedenheit. Ein praktisches Beispiel: Die Einführung eines Self-Service-Portals, über das Mitarbeitende viele Anliegen eigenständig erledigen können. Dies ist einfach, intuitiv und effizient.

Nur wer Technik beherrscht, bleibt produktiv

Der digitale Wandel hat nicht zu mehr Souveränität im Arbeitsalltag geführt, sondern vielerorts zu Überforderung und Ineffizienz. Der ungebremste App-Wildwuchs, mangelnde Schulungsstrategien und überhöhte Erwartungen an die Selbstlernkompetenz von Mitarbeitenden sorgen dafür, dass selbst Digital Natives an ihre Grenzen stoßen.

Um gegenzusteuern, braucht es mehr als nur neue Tools. Es braucht einen bewussten Umgang mit Technologie. Software muss intuitiv sein, Lernen in Echtzeit ermöglichen und an den tatsächlichen Arbeitsalltag angepasst sein. Entscheidend ist auch eine engere Verzahnung von HR und IT, um Prozesse ganzheitlich zu denken und die digitale Arbeitsumgebung menschenzentrierter zu gestalten.

Die Zukunft der Arbeit entscheidet sich nicht an der Anzahl der eingesetzten Tools, sondern an deren sinnvoller Nutzung. Wer den Fokus auf Effizienz, Verständlichkeit und tatsächlichen Mehrwert legt, schafft nachhaltige digitale Produktivität, unabhängig vom Funktionsumfang einzelner Anwendungen.

Friedbert Schuh

Friedbert SchuhFriedbert Schuh verfügt über mehr als 20 Jahre Erfahrung im Softwaretechnologiesektor. Er spezialisierte sich auf SaaS/Cloud-Transformationen und leitete Go-to-Market-Strategien bei reifen sowie bei stark wachsenden Unternehmen.

Bevor er zu Nexthink kam, hatte Friedbert leitende Positionen bei Genesys und Infor/Lawson Software inne.

>> LinkedIn Profil von Friedbert Schuh

>> Website von Nexthink

 

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