Ausbildung ist auch Erziehungsarbeit

Geduld, Liebe, Verantwortung: Ausbildung ist heute auch Erziehungsarbeit

Der beste Monteur ist nicht automatisch der beste Ausbilder. Dieser Satz mag provokant klingen – ist aber bittere Realität in vielen Unternehmen. Wer junge Menschen ausbildet, braucht mehr als Fachwissen. Es braucht Geduld. Beziehung. Und die Fähigkeit, jungen Menschen Halt zu geben in einer Welt, die immer komplexer wird.

Denn Ausbildung ist heute weit mehr als die Vermittlung von Wissen und Fertigkeiten. Sie ist Persönlichkeitsentwicklung – und in weiten Teilen sogar Erziehungsarbeit, sagt Gastautor Eduard Janzen.

Die Beziehung kommt vor dem Stoff

Junge Menschen lernen nicht von Systemen, sondern von Menschen. Und nur dann, wenn sie diesen Menschen vertrauen. Neurodidaktisch gesehen sind stabile Beziehungen die Voraussetzung für erfolgreiche Lernprozesse. Ohne das Bindungshormon Oxytocin bleibt das Gehirn im Stressmodus – und Lernen wird nahezu unmöglich.

Deshalb lautet eine der wichtigsten Fragen zu Beginn jeder Ausbildungseinheit nicht: „Was soll der Azubi heute lernen?“ – sondern: „Wie geht es ihm? Was braucht er, um offen zu sein für den Lernprozess?“

Die stärkste Motivationsdroge des Menschen ist der Mensch – so formuliert es der Neurobiologe Prof. Dr. Joachim Bauer. Und dabei ist es völlig egal, wie motiviert und interessiert die Ausbildungsverantwortlichen im Unternehmen sind. Wenn die Fachkräfte nicht mitziehen, gießen Sie Wasser in einen Eimer mit Löchern.

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Das Lerndreieck: Drei Beziehungen, die zählen

Im Lerndreieck betrachten wir drei Beziehungen: Die Beziehung vom Azubi zum Lernstoff, vom Ausbildenden zum Lernstoff und von Azubi zu Ausbildenden. Die zwei ersten Pfade beachten alle Ausbildungsbetriebe: Die Beziehung zum Lernstoff wird genial aufbereitet. Der Ausbildende ist fachlich gut und liebt auch sein Thema.

Den Pfad der Beziehung zwischen Azubi und Ausbildenden beachten die meisten Ausbildungsbetriebe zu wenig. Dabei lernen wir nur von Menschen, die wir mögen. Mit denen wir in einer guten Beziehung sind. Nur dann wird der Neurotransmitter Oxytocin ausgeschüttet.

Ausbildung braucht Haltung – nicht nur Inhalte

Viele Fachkräfte fühlen sich überfordert mit der Ausbilderrolle. Sie wollen ausbilden – aber stoßen im Alltag an ihre Grenzen. Zwischen Leistungsdruck, Tagesgeschäft und komplexen Azubi-Persönlichkeiten bleibt wenig Raum für echte Begleitung.

Was hier fehlt, ist nicht guter Wille – sondern ein realistisches Bild davon, was Ausbildung heute bedeutet: Es geht nicht nur um Anleitung, sondern um Beziehungspflege, Feedbackkultur und emotionale Stabilität.

Ein Beispiel: Wenn ein Azubi ständig „krank“ ist, steckt oft mehr dahinter als ein Infekt. Häufig ist es ein stiller Rückzug – weil die Beziehungsebene nicht stimmt. 59% der Auszubildenden heute erhalten wahrgenommen niemals ein Feedback von ihren Ausbilder:innen. Diese Zahl sollte uns zu denken geben.

Die Realität in vielen Betrieben

Ein erschütterndes Beispiel aus der Praxis zeigt, wie gravierend sich fehlende Beziehungsarbeit auswirken kann. Ein Auszubildender berichtete in einem Online-Forum von seiner verzweifelten Situation: Seine Abteilung sei „der Horror“ – und das, obwohl das Unternehmen an sich gute Benefits biete und er sich in anderen Bereichen wohlfühle.

Der Vorgesetzte hatte bereits eine vorherige Auszubildende so stark unter Druck gesetzt, dass diese sich vor der Arbeit regelmäßig übergeben musste und die Ausbildung kurz vor dem Abschluss abbrechen wollte. Nach anfänglichem Lob verschlechterte sich auch für den aktuellen Azubi der Umgang zusehends. Nach nur fünf Wochen war die Situation so belastend, dass er erstmals am Arbeitsplatz weinte.

Trotz entwickelter Essstörung und massiver psychischer Belastung fühlte sich der junge Mensch gefangen: Er wusste, dass seine Abteilung die schlimmste im ganzen Unternehmen war, wollte aber die Probezeit überstehen. Seine erschütternde Bilanz: „Der einzige Grund, warum ich weine und nicht hin möchte, ist mein Vorgesetzter.“

Dieses Beispiel verdeutlicht drastisch: Alle Investments in moderne Ausbildungskonzepte, Benefits und Rahmenbedingungen können durch eine einzige toxische Führungsbeziehung zunichte gemacht werden. Es sind oft die direkten Ausbildungsbeauftragten in den Fachabteilungen, die über Erfolg oder Scheitern einer Ausbildung entscheiden – nicht nur die hauptverantwortlichen Ausbilder:innen.

Warum manche Fachkräfte lieber keine Ausbilder:innen sein sollten

Nicht jeder Mensch ist dafür gemacht, junge Talente zu begleiten. Und das ist völlig okay. Viel zu oft werden engagierte Fachkräfte zu Ausbilder:innen „ernannt“, obwohl sie sich selbst mit der Rolle unwohl fühlen.

Das Resultat: Unsicherheit, Überforderung – und Azubis, die sich nicht gesehen fühlen.

Gute Ausbildung braucht Menschen, die junge Menschen mögen. Die sich für sie interessieren. Die zuhören können. Und die bereit sind, ihre eigene Rolle zu reflektieren. Genau hier setzt moderne Ausbilderqualifizierung an – etwa mit Programmen wie der „Fachkraft für betriebliche Ausbildungspraxis (IHK)“.

Die Macht der negativen Erfahrungen

Eine falsche Interaktion zwischen ausbildender Fachkraft und Azubi ist unfassbar teuer für das Beziehungskonto. Stellen wir uns vor, wir brauchen 100 Punkte auf dem Beziehungskonto, damit der Azubi gerne bei uns bleibt. Jede positive Interaktion bringt dann 10 Punkte, aber es werden 40 Punkte bei einer negativen Interaktion abgezogen.

Denn: Ein positiver Reiz, ein Lob, eine Anerkennung, wird im Gehirn anders verarbeitet als ein negativer Reiz, als Kritik, als Unfreundlichkeit. Negative Reize gewichtet unser Gehirn mindestens 4-mal so hoch. In der Forschung heißt das: „Bad is stronger than good“ – das Böse ist stärker als das Gute.

Was Ausbilder:innen heute wirklich brauchen

Die Anforderungen an Ausbildungspersonal steigen. Fachliche Kompetenz ist selbstverständlich – doch entscheidend sind heute andere Fähigkeiten:

  • Geduld für individuelle Entwicklungswege
  • Liebe im Sinne echter Wertschätzung
  • Verantwortung für die Persönlichkeitsentwicklung der Auszubildenden
  • Reflexion des eigenen Verhaltens und Wirkens
  • Beziehungsarbeit statt Befehl und Kontrolle

Liebe ist aus der Mode gekommen. Ein Begriff, der relativiert wird. Dabei geht es bei Liebe nicht darum, immer nur auf Wolke 7 zu sein. Im Gegenteil: Liebe ist die unbewusste Kraft, die uns überhaupt erst ermöglicht, unser Gegenüber so anzunehmen, wie er ist.

Die neurobiologische Perspektive

Viele Ausbildende klagen über fehlende Sozialkompetenzen bei ihren Azubis. Eine Ausbilderin sagte: „Empathie kann man nicht lernen. Die hat man oder eben nicht.“ Das stimmt aus Sicht der Hirnforschung nicht.

Die Hirnregion für Empathie, der orbitofrontale Cortex, ist besonders in der Lebensphase von 19-22 Jahren noch formbar – genau die Zeit, in der viele Azubis in der Ausbildung sind. Wodurch wird diese Region maßgeblich geprägt? Durch das soziale Umfeld. Und von den Faktoren, die den orbitofrontalen Cortex deprivieren, gibt es nichts Gravierenderes als das Erleben sozialer Ablehnung, Missgunst oder zu häufige und unsachliche Kritik.

Was auf der anderen Seite diese wichtige Hirnregion fördert: Das Erfahren von Kollegialität, Support, Wertschätzung. Kurz: Liebe.

Fazit: Ausbildung ist Persönlichkeitsarbeit

Ausbildung funktioniert nicht wie ein Lernmodul mit Play-Button. Es geht nicht um Informationsvermittlung, sondern um Transformation. Junge Menschen brauchen Begleitung, Beziehung – und Vorbilder, die Haltung zeigen.

Wer das versteht, wird nicht alle Probleme lösen. Aber er wird eine neue Qualität in die Ausbildung bringen: Menschlichkeit. Und damit den Grundstein für eine loyale, leistungsbereite Fachkräftegeneration legen.

Die Formel ist einfach: Wer als Ausbilder:in Beziehung aufbauen kann, schafft Bindung. Und wer Bindung schafft, fördert Motivation, Loyalität – und den echten Wunsch, im Unternehmen zu bleiben. Ausbildung heute ist Beziehungsarbeit. Es geht um mehr als nur Fachkompetenz. Wenn wir eine teamfähige, sozial verträgliche, einfühlsame Fachkraft aus einem Azubi machen wollen, bedeutet das: Geduldig bei Fehlern sein. Ihm Liebe und Wertschätzung entgegenbringen. Und ihm mit Respekt auf Augenhöhe begegnen.

Eduard Janzen

Eduard Janzen

Eduard Janzen ist Geschäftsführer von Ausbilderschein24 und Experte für digitale Ausbildungsmethoden. Mit neurodidaktischem Know-how, langjähriger Erfahrung als Ausbilder und seiner Überzeugung, dass Ausbildung Beziehungsarbeit ist, unterstützt er Unternehmen dabei, junge Talente langfristig zu binden und Fachkräfte von morgen zu formen.

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