Der sogenannte „Say-Do-Gap“ beschreibt die Diskrepanz zwischen dem, was Menschen sagen, und dem, was sie tatsächlich tun – ein bekanntes Phänomen, das sich auch im beruflichen Kontext, wie etwa im Recruiting, bemerkbar macht. Während viele Unternehmen sich Diversität und Flexibilität auf die Fahne schreiben, scheinen innovative Modelle wie die Ausbildung in Teilzeit noch wenig verbreitet. Doch gerade in Zeiten von Fachkräftemangel bietet dieses Konzept eine vielversprechende Lösung, um ungenutztes Potenzial zu erschließen und Talente zu gewinnen, sagt Vera Koltermann, Lucky you, in ihrem Gastartikel.
Was ist der Say-Do-Gap?
Wir kennen das Phänomen unter anderem schon aus der Klima- und Nachhaltigkeitsforschung: Menschen sagen das eine und tun das andere. So beabsichtigen viele Menschen nachhaltig zu leben. Aber in der Realität handeln sie nicht immer danach. Dieses Phänomen wurde schon 2007 unter dem Begriff des „value-action-gap“ in einer Studie von James Blake untersucht.
Als Erklärung für das Phänomen wurden verschiedene Einflussfaktoren, wie Folgende, genannt:
- Soziale Erwünschtheit Bias: Befragte geben Antworten, die in ihren Augen, tendenziell von ihnen erwartet werden. Insbesondere in Situationen, in denen sie sich bewertet fühlen.
- Optimismus Bias: Menschen überschätzen ihre positiven Qualitäten und unterschätzen ihre negativen. Frei nach dem Motto „ist ja nicht so schlimm“, „mache ich ja nur dieses eine Mal“. Oder: „Mein Tun hat kaum Auswirkungen aufs große Ganze.“
- Situative Faktoren: man möchte eigentlich Bio-Produkte kaufen, aber leider ist gerade schlechtes Wetter und der Discounter ist halt näher…
Am Ende geht es darum, dass Menschen sich selbst gegenüber verargumentieren, warum sie etwas nicht tun. Oder, warum in sie alten Mustern verharren, obwohl sie wissen, dass es auch anders geht. Und das vielleicht sogar noch besser wäre. Oder auch, um Erklärungen zu finden, warum jemand anders handelt, als es möglich wäre. Wahrscheinlich kennen Sie die eine oder andere Situation im Arbeitskontext, wo Sagen und Tun schon mal auseinandergedriftet sind.
Schauen wir uns das nun mal konkret im Kontext Recruiting und Fachkräftemangel am Beispiel von Ausbildung in TZ an.
Schema F ist keine Lösung im Recruiting
Folgender Fall: Vanessa (Name von der Autorin geändert), 27 Jahre, ist auf der Suche nach einer Berufsausbildung. Die Herausforderung: Vanessa ist mit 15 Jahren ungeplant Mutter geworden, mit 20 Jahren kam das zweite Kind, deshalb war Vanessa zunächst nur eingeschränkt verfügbar für den Arbeitsmarkt. Zunächst standen also andere Themen im Fokus, aber jetzt endlich sind die Zeit reif und die Gelegenheit günstig, um in eine Berufsausbildung zu starten.
Dann der Realitätscheck: nur Absagen. Warum?
Man weiß es nicht. Zu alt, zu wenig Mainstream, zu unflexibel?
Reine Hypothesen!
Diesen Fall hat es genauso gegeben und er fand letztlich doch ein Happy End. Und zwar bei einem meiner Kunden, der Ausbildung in TZ anbietet. Er lud Vanessa kurzfristig zu einem Online-Test für die Ausbildung ein. Keine Zusage, sondern zunächst nur eine Test-Einladung. Die Reaktion: eine einseitige Dankesmail von Vanessa, die sich unfassbar über diese Chance freute. Sie nahm die Einladung an, machte den Test und konnte schließlich den Ausbildungsplatz in TZ antreten.
Und das Beste? Das ist inzwischen neun Jahre her und Vanessa arbeitet nach wie vor im Unternehmen.
Was sagt uns das? Das Beispiel stellt sehr anschaulich dar,
- wie individuell die Rahmenbedingungen und Lebensläufe von Talenten sind
- wie sehr es sich lohnt, jenseits von Standards mal genauer hinzuschauen und
- wie wechselseitige Bindung von Menschen und Organisation gelingt, wenn beide Partner sich wertschätzend wirklich aufeinander einlassen.
Die Situation am Arbeitsmarkt: viele, unbesetzte Azubi-Stellen
Ich habe eher zufällig von dem Beispiel gehört. Als ich für einen Vortrag zum Thema „Berufsausbildung in TZ“ angefragt wurde, war meine Erstreaktion: „Hä? Noch nie gehört!“. Dann habe ich mich bei meinen Kunden umgehört und gemerkt: Ich bin nicht allein. Meine Recherche hat mich dann zu einer wichtigen Erkenntnis geführt: Die HR-Community sollte dringend mehr darüber erfahren.
Viele Unternehmen leiden heute unter Fachkräftemangel. Gleichzeitig schreiben sie sich Diversität auf die Fahne. Für diese Firmen ist die Option einer Ausbildung in Teilzeit ein wahres Geschenk. Sie bietet Lösungen für beide Herausforderungen. Mehr Wissen darüber könnte der HR-Branche enorm helfen.
Schaut man sich aktuelle Statistiken an, wird der Bedarf an Lösungen besonders deutlich: 2023 gab es in Deutschland 73.444 unbesetzte Ausbildungsplätze. Demgegenüber standen laut BMBF 26.381 Bewerber:innen gegenüber, die einen Ausbildungsplatz suchten, ihn aber nicht fanden, eine Entwicklung, die seit Jahren fortschreitet:
Quelle: eigene Darstellung nach BMBF-Daten
Hauptgrund von Nicht-Besetzungen war laut Statista zuvorderst die Nicht-Eignung von Bewerbenden.
Betrachtet man darüber hinaus den Anteil der Ausbildungsplätze in TZ am Gesamtangebot, so machten diese im Jahr 2022 nur einen winzigen Anteil aus: nämlich gerade mal 0,5 % im Mittel über alle Bundesländer hinweg.
Da gibt es also sehr viel Luft nach oben. Schauen wir uns dazu doch einmal genauer an, worum es bei Ausbildung in TZ eigentlich geht.
Ausbildung in Teilzeit, was ist das eigentlich?
Ausbildung in Teilzeit (TZ) ist zunächst eine vollkommen gleichwertige Ausbildung wie jede andere in Vollzeit. Die wichtigsten Unterschiede sind folgende: Die Ausbildung in TZ dauert länger. Die Auszubildenden sind dadurch weniger Stunden vor Ort bei ihrem Arbeitgeber (die Zeiten in der Berufsschule sind wie in VZ). Andererseits mal ehrlich: wir haben auch diverse Mitarbeitende in TZ, warum also nicht in der Ausbildung?
Wie viele Stunden die Azubis in der Ausbildung in Teilzeit arbeiten, kann individuell mit dem jeweiligen Arbeitgeber abgestimmt werden. Es ist sowohl möglich, auf einige Stunden pro Tag zu reduzieren als auch auf eine 4-Tage-Woche zu verkürzen. Es darf nur nicht auf unter 50% der Arbeitszeit in Vollzeit (VZ) reduziert werden.
Zudem kommt: maximal kann eine Ausbildung in TZ um das 1,5-fache der Ausbildung in VZ verlängert werden. Wenn also die reguläre Ausbildungszeit in VZ drei Jahre beträgt, darf die Ausbildung in TZ nicht länger als 4,5 Jahre dauern. Die Ausbildungsdauer kann aber auch im Zuge der Ausbildung verkürzt oder verlängert werden. Alternativ können auch nur einzelne Phasen der Ausbildung in TZ absolviert werden. Das macht es besonders flexibel und attraktiv.
Ausbildung in Teilzeit erweitert den Talente-Pool
Das besonders Gute an der Ausbildung in TZ ist, dass sie den Talente-Funnel erheblich erweitert. Sie eröffnet Möglichkeiten für Menschen, die aus verschiedenen Gründen keine Vollzeitausbildung absolvieren können. Ob Kinderbetreuung, Pflege von Angehörigen, gesundheitliche Einschränkungen oder noch laufende Sprachkurse – diese Faktoren sollten niemanden vom Ausbildungszugang ausschließen. Teilzeit-Ausbildung schafft hier wichtige Chancen.
Das TZ-Modell ist somit ein echter Beitrag zu einer diversitätsorientierten Recruiting-Strategie sowie eines besseren Arbeitgeber-Images (Stichworte: Work-Life-Balance, Vereinbarkeit Familie & Beruf). Darüber hinaus kommt es Unternehmen zugute, denen Nachwuchskräfte fehlen und die an nachhaltiger Bindung von Mitarbeitenden interessiert sind. Vier Jahre intensives Kennenlernen – mit allen Höhen und Tiefen – führen zu einer bewussten, oft langfristigen Bindung.
Informationen zu Ausbildung in Teilzeit hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung kompakt zusammengestellt.
Woran hakt’s, wenn’s hakt?
Worauf ich den Blick an dieser Stelle noch einmal stärker lenken möchte, ist die Frage: warum wird dieses Angebot aktuell noch so wenig genutzt? Und warum ist es so wenig bekannt in einer Zeit, in der händeringend nach Lösungen und Fachkräften gesucht wird?
Bei einer Stellensuche auf ausbildung.de fand ich Ende August knapp 3.073 freie Ausbildungsstellen. Davon waren nur ca. 50 in Teilzeit ausgeschrieben. Auf azubi.de waren zum gleichen Zeitraum von ca. 63.000 Ausbildungsstellen nur 1.130 in TZ ausgeschrieben. Bei Stepstone waren es 267 von 80.867. Alle Suchen waren deutschlandweit. Und hier zeigt sich sehr plakativ das enorme, ungenutzte Potenzial.
Ausbildung in TZ wird auf diesen Plattformen vorwiegend von Arbeitgebern aus Handel, Pflege, Banken und öffentlichem Dienst angeboten. Doch auch im Handwerk ist das Modell möglich und wird dort auch begrüßt.
Warum hat sich das Angebot trotzdem bisher nicht flächendeckend durchgesetzt?
Um das besser zu verstehen, half ein bilateraler Austausch mit Kunden.
Ausbildung in Teilzeit ist interessant, aber …
Nur 1 von 11 befragten Unternehmen – meine Ansprechpartner waren Employer Branding oder Talent Acquisition Verantwortliche – bietet Ausbildung in TZ aktuell an und das stellte sich auch nach einem ersten „Nein“ im Nachgang raus – auf konkrete Nachfrage im Recruiting Team. Im direkten Dialog konnten weitere, interessante Insights generiert werden.
Die häufigste Reaktion war: „…, aber dann ist die Person zu wenig im Betrieb“. Die Präsenzzeit von Teilzeit-Auszubildenden unterscheidet sich aber nicht von anderen Teilzeitkräften. TZ-Azubis sind dann eben bis 14 Uhr statt 16 Uhr anwesend. Diese Erkenntnis des Paradoxen führt bei einigen Befragten zum Umdenken. „Stimmt, so groß ist der Unterschied gar nicht“, war dann eine häufige Reaktion. Der Unterschied zur Vollzeitausbildung erscheint plötzlich kleiner. Wichtig ist: Die Lehrzeit verkürzt sich nicht. „Es ist unter dem Strich nicht weniger Zeit, der Person etwas beizubringen“, lautet die Erkenntnis. „Die Zeit wird einfach nur über einen längeren Zeitraum gestreckt.“
Der Grund dafür war die zweithäufigste Reaktion – und jeder kennt diesen Satz –
„…, weil wir das schon immer in Vollzeit machen“. Glücklicherweise wurde dann von den Befragten selbst hinterher geschoben „Warum eigentlich?“ Ein Kunde wollte das Thema direkt zum Recruiting Team nehmen. Ein anderer mehr erfahren.
Vielleicht ist das nur ein selektiver Einblick in ein komplexeres Thema. Aber grundsätzlich birgt Ausbildung in TZ viel Potenzial. Um sich als attraktiver Arbeitgeber zu positionieren und neue Zielgruppen zu gewinnen, ist es ideal. Es wird nur viel zu wenig genutzt, weil es zu unbekannt ist.
Der Blick nach vorn: chancenreich
Das Unternehmen im zuvor beschriebenen Fall nutzt das Modell Ausbildung in Teilzeit übrigens sehr aktiv. „Weil wir uns das gar nicht anders leisten können. Wir bekommen die Azubi-Stellen sonst nicht besetzt“, sagt eine Recruiter:in des Unternehmens. In meiner Karriere habe ich oft erlebt, wie wichtig es ist, neue Wege zu gehen. Wenn sich Chancen bieten, die Probleme lösen, sollten wir sie ergreifen.
Ich habe gelernt, dass es wenig bringt, nur in gewohnten Bahnen zu denken. Stattdessen müssen wir unsere Komfortzone verlassen und über den Tellerrand schauen. Aus meiner eigenen Erfahrung weiß ich: Wenn wir offener und flexibler denken, eröffnen sich mehr Möglichkeiten für alle. So können wir auch besser umsetzen, was wir uns vorgenommen haben.
Und den Say-Do-Gap etwas schließen.